Eine Reise durch Raum, Platz und Zimmer

Unendlich viele Wörter hat das Deutsche angeblich – aber für die wichtigsten Dinge wird dann doppelt genutzt, was andere Sprachen mit zwei Wörtern differenzieren. Das betrifft den Himmel, bei dem Englischsprachige mit „sky“ und „heaven“ zwischen außer- und überirdischer Sphäre unterscheiden, aber auch den Raum. Meint der Engländer den Raum mit Wänden, sagt er „room“, wohingegen er den unbegrenzten, weiten Raum „space“ nennt.

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Missverständnisse sind also vorprogrammiert. Zum Beispiel beim berühmtesten Raum-Zitat aus der Reggio-Pädagogik, in dem „lo spazio“ – also der weite, Freiraum gebende Raum – „come terzo educatore“ wirken und nicht etwa der enge Gruppenraum als „dritter Erzieher“ fungieren soll.

Verwirrend ist auch: Zwar hält unsere Sprache ein Fast-Synonym für die Weite, die man braucht, bereit, aber es leidet ebenfalls unter Doppelbedeutung: der Platz. „Auf diesem Platz ist kein Platz“, stellt man dann enttäuscht fest. Oder man lobt mit Goethe: „Du glaubst nicht, wie viel Platz man findet, wenn man wenig Raum braucht.“

Zimmer oder Weite – welche Bedeutung von Raum war zuerst da? Eindeutig die Weite, was man an Adjektiven und Verben zum Thema merkt. „Abräumen“, „aufräumen“, „geräumig“ zeigen, dass der perfekte Raum leer ist und Platz bietet. Zimmer ohne Platz sind also kein Raum, denn der beginnt erst bei einer bestimmten Zimmergröße und endet im unendlichen Welt-Raum. Eine Ausnahme bildeten Wohnungen in der DDR: Kleinste Zimmerchen plusterten sich zu einer „Dreiraumwohnung“ auf, was den Bewohnern wahrscheinlich suggerieren sollte, über ausreichenden Wohnraum zu verfügen.

Raum reimt sich auf Traum und steckt sogar darin. Obwohl wir es als Kinder liebten, uns in möglichst enge Nischen oder Kartons zu quetschen, und verwinkelte Gassen oder Fachwerkhäuschen gemütlich finden, obwohl wir gern in Städten wohnen, ist Raum im Sinne von Weite doch ein positiver Begriff für uns. „Eng“ finden wir eine beschränkte Geisteshaltung, und schlau ist, wer „weiter“ denkt. Aber schon Schiller klagte:

„Glücklicher Säugling! Dir ist ein unendlicher Raum noch die Wiege, Werde Mann, und dir wird eng die unendliche Welt.“

Gern benutzen Rechtsradikale das Bild vom Raum: Die Nazis schwadronierten vom „Volk ohne Raum“, moderne Nationalsozialisten und „besorgte Bürger“ weisen angesichts der Flüchtlingsströme darauf hin, dass „nicht genug Platz ist“ für all die Menschen, verzichten aber auf die beliebte Metapher „Das Boot ist voll“, um das Schicksal der übers Mittelmeer Flüchtenden auszublenden.

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Wer Geld hat, nimmt sich Raum in Form großer Autos, endloser Grundstücke oder Fabriketagen-Lofts mit ausgedehnten Sitzlandschaften, um sich das Gefühl von Weite, Freiheit und Bedeutung zu verschaffen. Man fragt sich, was an dieser Weite so erstrebenswert ist. Vielleicht handelt es sich doch eher um Leere.

Je weniger Menschen man auf großer Fläche trifft, desto weniger kann man sozial interagieren, bekommt weniger Feedback, kann Ideen nicht teilen und kaum kommunizieren. Die viel gelobte Weite könnte also das Bedürfnis kaschieren, die Auseinandersetzung mit der Umwelt zu vermeiden. Mal ganz davon abgesehen, dass der uns zur Verfügung stehende Raum eben nicht grenzenlos ist – und jede individuelle „Raumgewinnung“ anderen Menschen, Tieren oder Pflanzen Raum entzieht. Wer mehr Raum beansprucht, verdrängt automatisch etwas.

Es scheint also an der Zeit, die Sache mit dem Raum noch einmal zu überdenken. Wir brauchen nicht immer mehr Raum, sondern sollten die – relative – Enge schätzen lernen. Vielleicht ist es gar nicht so schlecht, dass im Deutschen das Wort für endlose Weiten mit dem für Zimmer identisch ist?

Illustration: Michèle Lemieux in “ Gewitternacht “

 

Michael Fink ist Autor und Fortbildner.

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