Generationen ohne Ende

Wie wird wohl die „Generation Corona“? Ein paar Monate war die Pandemie alt, als die ersten Autor*innen den Begriff verwendeten – und damit einem bewährten Trend folgten. Seit einigen Jahren ist es angesagt, junge Menschen einer Alterskohorte mit Generation-Pipapo-Namen zu behängen, um damit zu behaupten: Weil die alle unter gleichen Voraussetzungen aufgewachsen sind, sind sie einander irgendwie ähnlich. Aber diese Idee ist uralt.

Hier gibts den Artikel als PDF: Wortklauber_#4_2021

 

Schon 3000 Jahre bevor Sokrates die Jugend beschimpfte, weil sie stets „die Beine übereinanderlegt“, reagierten ältere Sumerer ihre Wut auf Tontafeln ab: „Die Jugend achtet das Alter nicht mehr, zeigt bewusst ein ungepflegtes Aussehen, sinnt auf Umsturz, zeigt keine Lernbereitschaft und ist ablehnend gegen übernommene Werte.“ In jeder Epoche gibt es unzählige solcher Schmähungen, mit denen ältere Menschen der jungen Generation Degeneration unterstellen. Dahinter steckte wohl schon immer ein Wahrnehmungsproblem, denn aus Sicht älterer Leuten verhalten sich jüngere Menschen gern tendenziell unreif – die eigene Unreife liegt dagegen lange zurück.

Schicksal, Trauma, Skepsis

Aber seit wann sprach man bestimmten Generationen statt allgemeiner Verlotterungstendenz konkrete Eigenschaften zu? Karl Mannheimer hieß ein deutscher Soziologe, der 1928 die Schrift „Das Problem der Generationen“ publizierte. Seine Kernthese, vereinfacht gesagt: Mitglieder einer Generation erleben gemeinsame Schicksale und verarbeiten vielleicht gemeinsame Zeitströmungen auf gleiche Weise. Beispiele des Soziologen waren damals: die Jugendbewegung vor allem bürgerlicher Heranwachsender zu Beginn des 20. Jahrhunderts und die zarten „Neuromantiker“.

Traumatische Ereignisse scheinen wie geschaffen, eine gemeinsame Generation zu prägen. Kein Wunder, dass nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmend wenige Jahrgänge als jeweils eigene Generation bezeichnet wurden. Helmut Schelsky beschrieb in den Fünfzigerjahren wegweisend die „Skeptische Generation“ der überlebenden Kriegsteilnehmer und hoffte, dass diese Generation in ihrem sozialen Bewusstsein und Selbstbewusstsein kritischer, skeptischer, misstrauischer, glaubenslos oder wenigstens illusionsloser als alle Jugendgenerationen vorher ist, dafür aber tolerant, ohne Pathos, Programme oder Parolen.

X und Golf

Dreißig Jahre später ist von Trauma wenig zu spüren, als die Angehörigen der „Boomer-Generation“ allmählich erwachsen werden. Nun ist ein amerikanischer Autor zur Stelle, um den Generationenbegriff boomen zu lassen: Douglas Coupland recycelt 1992 den eigentlich in den frühen Fünfzigern für Rocker verwendeten Ausdruck „Generation X“ in seinem Romantitel „Generation X. Geschichten für eine immer schneller werdende Kultur“. Seine Generationsbeschreibung wird sofort von den Medien aufgegriffen und erweitert, bis das Bild einer Grunge hörenden, stets ironischen Nihilisten-Generation entsteht, die auf dicke Schlitten und das Eigenheim der Eltern pfeift, gerade weil die Alten trotz Zugehörigkeit zur Skeptischen Generation darauf so stolz sind.

Bald ploppt eine Generation nach der anderen auf. Zum Beispiel die „Generation Golf“, in der Florian Illies den eben noch bewunderten „Generation X“-Mitgliedern zuschreibt, weniger nihilistisch, sondern vielmehr hedonistisch zu sein und den von den Eltern angehäuften Wohlstand zu genießen, statt aktiv zu werden.

Von MTV zu Maybe

Nun scheint es Trend zu sein, immer schlimmere Generationen zu entdecken, etwa die „MTV-Generation“ (glotzt nur Musikvideos) und die „Generation Doof“ (glotzt nur RTL 2 und verhält sich entsprechend). „Außerdem legen sie die Füße hoch“, würde Sokrates beipflichten. Oder es werden traurige, weil chancenlose Generationen erdacht, etwa die „Generation Praktikum“ oder die „Generation Prekär“, die beide wirtschaftlich nicht in die Pötte kommen. Weil all die Generationen immer nur auf ein paar Leute zutreffen und auf den Rest nicht, erfindet ein schlauer Mensch die „Generation Maybe“, die sich offenbar nicht festlegen will und deswegen „Vielleicht“ heißt.

Generationsübergreifend!

Immer wieder neue Generationen zu postulieren, um damit mediale Aufmerksamkeit zu erregen, das verbreitet sich inzwischen dermaßen, dass man für entsprechende Autor*innen eine „Generation Generation“ erfinden könnte. Doch das ist ebenso unsinnig wie jeder andere Versuch, große Teile der Menschheit mit einem Label zu versehen. Übrigens wurden bei früheren Generationen nur selten Frauen mitbedacht – siehe: die Flakhelfergeneration.

Wer in den Achtzigern keine vermögenden Eltern hatte, in Ostdeutschland wohnte oder vor irgendeinem Migrationshintergrund aufwuchs, passte kaum zur „Generation Golf“. Und Nicht-Akademiker*innen könnten die prägenden Ängste der „Generation Prekär/Praktikum“ egal sein. Auch beim Beschreiben der „Generation Corona“ wird es schwer, einen gemeinsamen Nenner für wohlhabende Homeoffice-Familienkinder und prekär lebende Notbetreuungskinder zu finden. Trotzdem werden gewiss neue Generationen erfunden werden. Schon weil unsere Generation das Wort Generation so liebt. Längst haben auch die Dinge, die heutige Generationen („Generation App“) prägen, eine eigene Generationenfolge bekommen. Zum Beispiel mein Smartphone – ist es noch „Neueste Generation“ oder wurde bereits ein Nachfolger generiert?

Das abgelegte, obschon noch brauchbare Telefon zeigt uns die wahren Gründe für unsere Generationenbesessenheit: Wir haben Angst vorm Aussortiert-Werden. Was hilft? Solidarität! Wir tun uns einfach zur Generation Generationsübergreifend zusammen.

Michael Fink ist Autor und Fortbildner.

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