Lerngeschichten haben das Potenzial, ein soziales Netz aus Unterstützung
und positiven Informationen zu erschaffen und zu pflegen.
Sie bieten die Chance, den Kita-Alltag gründlich zu entrümpeln und sich
auf das Wesentliche zu besinnen, dabei mit Lust und Freude
die alten Erziehungs-Muster zu verlernen.
Isolde Kock begeistert sich seit über 20 Jahren für Lerngeschichten und uns
mit neuen Materialien für Praxis und Ausbildung, die neue
Entwicklungen aufgreifen und im Herbst bei wamiki erscheinen.
Anlass für das folgende Gespräch.
Das Interview gibt es hier als PDF: Lerngeschichten_#2_2024
Erinnern wir uns an das Jahr 2004: In Deutschland ist ein regelrechter Wettbewerb unter den 16 Bundesländern entbrannt. Frei nach dem Motto: Spieglein, Spieglein an der Wand, welches ist der schönste Bildungsplan im ganzen Land? Dem vorausgegangen waren in den neunziger Jahren jahrelange, zum Teil sehr heftige Diskussionen um das (einzig wahre) Qualitätskonzept und eine Auseinandersetzung mit dem real existierenden, weitgehend überholten deutschen KiTa-System. Diese mündete in über 200 Reform-Vorschlägen an die Politik. (BMFSFJ, 2003)
An einem dieser Tage im Jahr 2004 sitzt du im Zug und liest ein Buch.
Als du Stunden später an deinem Zielort aussteigst, ist die Welt für dich eine andere geworden. Warum? Was war geschehen?
Ich las in dem druckfrischen Buch: „Frühpädagogik international“ einen Beitrag der mir damals völlig unbekannten Margaret Carr, Helen May und Val Podmore. (May, Carr, Podmore, 2004, S. 175-187)
Sie gingen der Frage nach, ob und wieweit ein einziger nationaler Bildungsplan für Fachkräfte und Kinder ein Gewinn sein kann und berichteten von der Entwicklung, Implementierung und Evaluierung des neuseeländischen Curriculums Te Whâriki.
In der Sprache der neuseeländischen Maori – bedeutet Te Whâriki „eine Matte, auf der alle stehen können“.
Als curriculares Dokument enthält Te Whâriki „Webstränge“ – aus meiner Sicht geradezu geniale Prinzipien und Ziele für die Praxis – für eine breite Vielfalt von KiTas.
Als Metapher gesprochen gibt Te Whâriki praktisch jeder KiTa den Raum, ihr eigenes Muster zu weben. Auf der Basis dessen, was Kindern zusteht, was jeder Mensch zum Wachsen braucht: Zugehörigkeit, Wohlbefinden, Entdeckerfreude, Kommunikation und Teilhabe. Schon 1996 verabschiedete Neuseeland Te Whâriki dieses innovative neue Curriculum für die frühe Bildung. Es lag auf der Hand, dass sich die Bewertung des Lernens der Kinder als Reaktion auf Te Whâriki drastisch ändern musste. Wenn nicht, würden die alten Bewertungspraktiken weiterhin das neue Curriculum bestimmen und nicht umgekehrt. Die Politik erkannte dies, Margaret Carr von der Universität von Waikato erhielt den Auftrag, zu untersuchen, wie eine Bewertung mit diesem neuen Curriculum aussehen könnte, die den Prinzipien von Te Whâriki entsprechen. Konkret: die ganzheitliche Art und Weise, wie Kinder lernen, berücksichtigen; Beziehungen zwischen Kindern, Menschen und Lernumwelt deutlich machen; die Familien einbeziehen; und das Selbstbild des Kindes als kompetenter Mensch und Lernender fördern…
Die Zeiten waren auch in Neuseeland aufregend, und Margaret Carr bezog die Pädagog*innen in das Schreiben von Erzählungen über die Lernerfahrungen der Kinder ein, während sich alle gleichzeitig intensiv mit den Prinzipien von Te Whâriki auseinandersetzten. Sie erkannte bald, wie wertvoll diese Erzählungen für das Engagement der Pädagoginnen waren und wie wertvoll sie sein konnten, um das Lernen der Kinder aufzuzeichnen, zu lenken und zu fördern. Ich las zum ersten Mal von der dafür entwickelten Bewertungsmethode: den Lerngeschichten.
Es waren nur wenige Seiten, aber die hatten es in sich. Ich war so begeistert und bin es seitdem.
Warum, was fasziniert dich als Lehrerin an Lerngeschichten?
Bekannte und unbekannte Beobachtungs-, Dokumentations- und Testverfahren wurden 2004 auch an meiner Fachschule unter die Lupe genommen. Ich begann mit den „Lerngeschichten“. Das Wort klang in meinen Lehrerinnenohren so interessant, dass ich wissen wollte, was sich dahinter verbirgt.
Beim Lesen des Beitrages staunte ich, was den Neuseeländern als Nation wichtig war. Es war das Wohl der lernenden Kinder, welches im neuseeländischen Curriculum Te Whâriki unmissverständlich an erster Stelle stand. Ich war überwältigt, las Sätze wie: „Sie (die Kinder) sollen als kompetent und selbstbewusst Lernende und Kommunizierende aufwachsen, gesund an Körper, Verstand und Geist, sich sicher fühlen durch ein Bewusstsein der Zugehörigkeit und in dem Wissen, dass sie einen wertvollen Beitrag zur Welt darstellen.“ (May, Carr, Podmore 2004, S. 178) Was für eine großartige Vision für Neuseelands Kinder!
Wenn Kinder die Tagesseinrichtung für die nächste Bildungsstufe verlassen, „sollten sie einige gut etablierte Lerngeschichten und Alltagstheorien mitnehmen: eine Ansammlung von Neigungen, Wissen und Fertigkeiten, die deutlich macht, was es heißt, Lernender zu sein. Das schließt das Selbstbild eines interessierten und interessanten Menschen ein, jemand zu sein, der sich einlassen kann, der durchhält, wenn Schwierigkeiten oder Unsicherheiten auftauchen, der sich mitteilen kann, der Bürger oder Teil einer Gemeinschaft ist – mit Rechten und Pflichten.“ (May, Carr, Podmore 2004, S. 182) Zuhause angekommen suchte ich im Internet nach dem neuseeländischen Curriculum für Frühpädagogik Te Whâriki. Und schon sprang mir der Eingangssatz ins Auge, der mich bis heute nicht loslässt: „Die frühe Kindheit … ist ein Zeitabschnitt von folgenreicher Tragweite für alle Menschen, die in (unserer) Kultur aufwachsen. Eines Tages ist dieser Zeitabschnitt vorüber und das Kind wird über sich ein Bild entwickelt haben, wer es ist als soziales Wesen, als denkender und kommunizierender Mensch und es wird einige bedeutsame Annahmen über seine Fähigkeiten und seinen Wert entwickelt haben.“ (Ministry 1996)
Welch tiefe Freude zu lesen, dass sich ein ganzes Land mit diesem allerersten Satz in seinem Curriculum zu der großen Bedeutung der ersten fünf Jahre im Leben jedes Menschen bekennt, auch im inzwischen überarbeiteten Curriculum von 2017. (Ministry 2017)
Die Metapher „von einer „Matte, auf der alle stehen können“ – diese Vorstellung des Zusammenstehens an einem Ort, der allen gleichermaßen eingeräumt wird, hat mich berührt, sehr neugierig gemacht. Ein ganzes Land steht hinter seinen jüngsten Bewohner*innen – unabhängig davon welchen Kulturen sie angehören. Wow!
Meine Kollegin Christine Weise ließ sich schnell überzeugen, gemeinsam ins Handeln zu kommen. Und schon bei den Berichten der Praktikantinnen aus dem nächsten Praktikum zeigte sich ein verblüffender Wandel: Das bisher gewohnt mühevolle Durcharbeiten von Fallbeschreibungen und Protokollen wandelte sich in der gesamten Praktikantinnen-Gruppe in Aufmerksamkeit, Neugier und lebhafte Diskussion über erlebte Fortschritte, Überraschungen. Lerngeschichten trafen bei unseren Schüler*innen auf das gleiche Bedürfnis wie bei uns Lehrerinnen: Menschen auf ihrem Lernweg zu begleiten, zu unterstützen und Lernfreude wachsen zu sehen, macht mehr Sinn, bringt auch bei uns Lehrerinnen mehr Lern- und Lebensfreude. Die hält bis heute an. Ich wünsche dieses Lern- und Lehrerlebnis allen Kolleg*innen und Schüler*innen.
Du sprichst nur von LERNGESCHICHTEN, nicht von BILDUNGS- und LERNGESCHICHTEN. Warum?
Ein Grund ist: Ich kannte den Begriff Lerngeschichten viel früher als mir später Bildungs-und Lerngeschichten vertraut werden konnten. Das DJI-Material erschien erst drei Jahre später. Ich habe mich den Lerngeschichten über das Fachbuch „Frühpädagogik international“ und über das Curriculum Te Whâriki genähert und alsbald direkt Kontakt zu den Erfinderinnen im neuseeländischen Educational Leadership Projekt (ELP) gesucht. Christine und ich begannen jedoch schon vor dem Austausch mit den neuseeländischen Fachfrauen Lerngeschichten an der Fachschule zu unterrichten. Lerngeschichten handeln von Lernen, von Lerndispositionen – bereit, willens, fähig sein – und davon, wie diese Lernfreude erhalten und wachsen kann. Der andere Grund, Lerngeschichten zu sagen: Die nunmehr 27-jährige innovative neuseeländische Forschung und Praxis im Zusammenhang mit Lerngeschichten bleibt unser Vorbild. Sie hat die Praxis auf der ganzen Welt beflügelt, verändert und wird es weiter tun. Lerngeschichten sind nicht nur eine Methode der Einschätzung. Sie sind eine Philosophie des Lernens und Lehrens. Lerngeschichten haben die Fähigkeit, kindliches und fachliches Lernen sichtbar zu machen, Beziehungen zu stärken, die Identität des Lernenden aufzubauen, die Familie einzubeziehen, Übergänge zu begleiten, sich zu Projekten zu entwickeln und Anforderungen zu überprüfen. Und das alles gelingt auch ohne Formblätter! Wer hätte das gedacht?
Was war gut an deinem individuellen Weg zu Lerngeschichten, wenn du deine eigene Lerngeschichte betrachtest?
Mein Aufbruch zu den Lerngeschichten war ein Zurechtfinden ohne Landkarte und Navi, weil es kaum deutschsprachige Literatur gab. Auch im realen Navigieren durch die Straßen des Landes ohne Landkarte und Navi bist du auf dich selbst angewiesen, du tastest dich schauend und fragend vorwärts, bis du angekommen bist. Das Land wird dir auf diese Weise sehr vertraut, du kennst viele gleichwertig mögliche Wege zum Ziel und vertraust deinen daraus erworbenen Erfahrungen. Das hat Vorteile!
Ohne Metapher gesprochen: Ich habe mit experimentierfreudigen Studierenden Praktika erlebt, in denen Praxisberichte entstanden, die das Lernen in den Mittelpunkt stellten. Ich habe viel gelesen, mich fortwährend mit Expertinnen ausgetauscht. Der ertragreichste und intensivste Austausch gelang, als ich den Erfinderinnen der Lerngeschichten in Neuseeland begegnete und dort KiTas besuchte. Aus diesen Erfahrungen heraus vertraue ich darauf, dass ich mir Fachwissen aneignen kann und dass ich immer weniger nach festen Vorgehensweisen bei anderen suche. Mir bringt der Austausch zwischen Interessierten die Sicherheit, das Potenzial von Lerngeschichten Schritt für Schritt noch mehr zu verstehen zum Nutzen für mich, für Kinder und auch für Kolleg*innen.
Was hast du in Neuseeland von den Erfinderinnen der Lerngeschichten gelernt?
Dass die neuseeländischen Expertinnen die Philosophie der Lerngeschichten in ihrem Privatleben auch leben, spürte ich bereits beim Ankommen. Der Entschluss, Kindern die Gewissheit der Zugehörigkeit zu geben, galt offensichtlich auch als erstrebenswert unter Erwachsenen. Schon bei der Ankunft überraschte mich meine Gastgeberin Kathryn Delaney: „Das ist dein Zuhause für neun Wochen.“ Wie beruhigend und gut das klang, mehr als 18.000 km fern der Heimat!
Etwas scheinbar Vertrautes, Bekanntes infrage zu stellen ist mir inzwischen eine Gewohnheit geworden, seitdem ich viel Zeit in Neuseeland an Kathryns Seite verbracht habe. Ich mag es sehr, Dinge von einer anderen Seite zu betrachten. Weil es immer wieder überraschend ist, was dabei herauskommt und wie gut es sich anfühlt, selbst mehr herauszufinden. Ich erinnere mich an eine Situation während einer Hospitation in einem Kindergarten: Ein indisch sprachiger Junge wich mir nicht mehr von der Seite. Er sprach nicht mit mir, schaute mich nur aufmerksam an, war da. Nach einer Weile brachte er mir sein Portfolio und gab mir durch seine Körpersprache zu verstehen, dass er darin blättern wollte, auf einem Sofa sitzend. Er zeigte mir eine Bildseite, auf der er genau wie an diesem Tag wie Batman gekleidet war. „Read!“ und ich las und wollte umblättern, was er nicht wollte. „Read!“ und ich wiederholte den Text der Lerngeschichte auf seinen Wunsch einige Male. Auf dem Heimweg im Auto erzählte ich Kathrin von der Begegnung. „He knows your situation.“ Diese Deutung traf mich bis ins Mark. Kathryn wusste, der Junge war mit dem Englischen genauso unsicher wie ich und er war in einem ihm fremden Land – wie ich. Dass sie es aussprach, war mir nur durch die gewachsene Freundschaft mit Kathryn erträglich und wurde zu einer Superlernsituation für uns beide, weil ich mich darauf einließ. Dieses Erlebnis habe ich oft erzählt, es bleibt mein Zugang zu meinem persönlichen Trainingsprogramm, meine Perspektive zu wechseln.
Kathryn machte mich auch 2012 mit einem Thema der Expertinnen des ELP vertraut. Die Frauen waren zuvor auf einen Kongress nach Moskau gereist. Eines Nachts verliefen sie sich auf dem Rückweg in ihr Hotel. Angstvoll erlebten sie, dass sie weder die kyrillische Schrift auf den Straßenschildern lesen noch nach dem Weg fragen konnten, denn niemand verstand ihr Englisch. Die Expertinnen zogen dieses Erlebnis heran, um ihr Verstehen zu schärfen, in welcher Lage Kinder beim Eintritt in die KiTa sein könnten. Der Fundus an Fähigkeiten, das Hotel schließlich doch noch zu finden, wurde zu einem Anhaltspunkt für die Pädagoginnen, das zu benennen, was Kinder lernen müssen, um sich im Leben zurechtzufinden – auch in schwierigen Lebenslagen.
„Was könnten wir möglicherweise gemeinsam haben?“ war eine Forschungsarbeit der kanadischen Professorin Lous Heshusius, die ich damals in Neuseeland las. Auch sie verfolgt die Absicht, Erwachsene anzuregen, Kinder als gleichwürdige Partner zu sehen und sich in die Lage von Kindern hineinzuversetzen. Das macht uns hellsichtig, wenn wir wahrgenommenes Verhalten des Kindes besser erkennen und dem Kind als Lerngeschichte schenken möchten. Ich denke, wir haben alle unsere eigenen Geschichten vom sich Fremd- und Vertrautfühlen. Wir müssen nur zur Kenntnis nehmen, wie gleich sich Angst bei Fremdheit und Unsicherheit anfühlt und wie befreiend das deutliche Signal zu sein vermag: Du gehörst hierher; ich sorge für dein Wohlbefinden; deine Forscherlust kann hier wachsen; ich höre und sehe dich; deine Teilhabe ist erwünscht und wir brauchen dich und deinen Beitrag.
Was können Lerngeschichten leisten – im Gegensatz zu anderen Test- und Evaluierungsmethoden?
Ich möchte die Frage beantworten mit meiner etwas widerstrebenden Lernreise zu einem Satz von Margaret Carr und Wendy Lee. Der Satz lautet: Lerngeschichten sind formative Bewertungen.
Kei Tua o te Pae / Assessment for Learning ist der Titel einer 20-bändigen Sammlung von Lerngeschichten des Ministry of Education New Zealand. Ich bekam als Abschiedsgeschenk alle 20 Exemplare in Neuseeland überreicht. Es hat ein paar Jahre gedauert, bis ich begriff, dass Assessment for Learning die Zielsetzung der Erfinder von Lerngeschichten vollständig zum Ausdruck bringt: Bewertung, die unmissverständlich und ausschließlich das Ziel hat, FÜR das Lernen zu sein, dem Lernen den Weg zu bahnen und nicht Lernfreude und Lernbereitschaft zu dämpfen oder gar zu verhindern – wie wir letzteres wohl alle kennen.
Die neuseeländischen Lerngeschichten-Erfinderinnen und Expertinnen bezeichnen Lerngeschichten als formative Bewertungen. (Carr, Lee 2022, S. 30) Das klang in meinen Ohren zunächst fremd und formell, bis sich dieser Fachbegriff mit Leben füllte. Hinter „formativ“ entdeckte ich die bedingungslose Ermutigung zum Lernen und zum gemeinsamen Wachsen von Lerngemeinschaften, wie es alle Beteiligten in einer KiTa sind. Als „formativ“ wird ein spezielles Feedback bezeichnet: „Feedback, das sich darauf konzentriert, … eine Kultur des Erfolgs zu fördern, die würdigt, wie jeder lernende Mensch Leistungen erbringt, die über sein früheres Können hinausgehen, ohne dabei mit anderen Menschen verglichen zu werden.“ (Carr, Lee 2022, S. 31) Das heißt, Lerngeschichten sind keine Einstufungen oder Bescheinigungen von Kompetenzen, gemessen an von außen gesteckten Zielen, sondern sie fördern das Lernen und sie dokumentieren Fortschritte. In Zielsetzung und Absicht zielen die Schreiber*innen immer darauf, bedingungslose Lernunterstützer*innen zu sein. Wir könnten uns der Wortwahl der neuseeländischen Pädagog*innen anschließen. Ich fände es gut, kürzer und eindeutiger geht es nicht. Und was wäre, wenn wir alle, inkl. Politik, Administration und Co., lernen, formativ zu sein?
Gibt es die RICHTIGE Lerngeschichte?
Ja, es gibt sie! Immer dann, wenn sie in der Zielsetzung formativ ist, also bedingungslos zum Lernen ermutigt und gemeinsames Wachsen einer Lerngemeinschaft zeigt – wie es Fachkraft, Kind und dessen Familie sind. In der Form können Lerngeschichten sehr vielfältig sein. Ich war über eine frühe Kurz-Form von Wendy Lee, eine der Lerngeschichten-Erfinderinnen, besonders überrascht, denn ich kannte zuvor nur länger ausformulierte Lerngeschichten. Wendy leitete in den 70er Jahren einen Kindergarten mit über 120 Kindern. Fünf Kinder waren hochgradig schwerhörig und bekamen jeden Tag in einem „Kindergarten-Zuhause-Kontaktbuch“ eine kurze Notiz mit nach Hause. Die Eltern antworteten, fragten, kommentierten, … die Hefte wurden zu einer reichen Quelle gemeinsamer Erfahrungen, zu einer wechselseitig begehbaren Brücke zwischen Kindergarten und Familien. Nun wünschten sich die Eltern der anderen Kinder auch so ein Heft für ihr Kind, was vom Team der Einrichtung tatsächlich ermöglicht wurde. (Lee 2019) Ich vermute, dass so die Karriere der Lerngeschichten begann.
Mir gefällt an meinem Entschluss, formativ zu sein und zu denken, dass ich mit meinen Reaktionen und Rückmeldungen, egal, ob mit Gesten, Blicken, Worten oder als geschriebene Geschichte nur das eine Ziel im Auge habe: bedingungslose Ermutigung zum Lernen und dass es nicht auf den Umfang, sondern auf den Inhalt ankommt. Das wissen wir alle aus unserem privaten Alltag mit „unseren Leuten“, wenn es uns gelingt, Nähe zu empfinden und dann sind die richtigen Worte von selbst da. Lernfreude und infolgedessen Lebensfreude wachsen zu lassen, empfinde ich als sehr zufriedenstellendes Ziel. Ich merke, dass ermutigende Lerngeschichten sogar die Beziehungen zu „meinen“ erwachsenen Menschen verbessern. Durch mein formatives Denken bin ich dafür offen, Fortschritte im Leben der Menschen um mich herum zu entdecken, gemessen an ihrem Startpunkt. Mein Respekt vor den Anstrengungen anderer Menschen wächst.
Was ist deine Quintessenz als Lehrerin in Bezug auf Lerngeschichten?
Lerngeschichten gehören in den Fachschulen und Fachhochschulen an den Anfang der Ausbildung des Fachpersonals in der Frühpädagogik. Sie haben das Potenzial, ein soziales Netz aus Unterstützung und positiven Informationen zu erschaffen und zu pflegen.
Für die Fachkräfte in Ausbildung und Praxis gilt das Gleiche wie für die Kinder in den KiTas. In Klassenverbänden und in Seminaren sollten die fünf Bedürfnisse, die jeder von uns hat, gesehen und verwirklicht werden. Wer die Erfüllung der Bedürfnisse am eigenen Leib erlebt hat, sieht, wenn Kinder dies wollen: Ich will dazugehören. Ich will mich wohlfühlen. Ich will entdecken. Ich will kommunizieren. Ich will teilhaben und einen Beitrag leisten.
Die zugrundeliegenden Prinzipien des Handelns beim Wahrnehmen, Erkennen, Reagieren auf das Lernen des Kindes und schließlich beim Dokumentieren des Lernens (Carr, Lee 2022, S. 319) gehören zur Philosophie von Lerngeschichten und in den Lehrplan: Ich will dich ermächtigen. Ich meine dich und deine ganze Familie. Ich weiß, du entwickelst dich ganzheitlich. Ich baue Brücken für Beziehungen in unserer Lerngemeinschaft.
Wird fortgesetzt
Literatur:
BMFSFJ (Hrsg.) (2003): Auf den Anfang kommt es an! Perspektiven zur Weiterentwicklung des Systems der Tageseinrichtungen für Kinder in Deutschland. Weinheim: Beltz
(Die meisten der darin enthaltenen rd. 200 Empfehlungen an die Politik schafften es bis heute nicht aus der Schublade. Die Red.)
Margaret Carr, Wendy Lee (2022): Lerngeschichten in der Praxis. Übersetzt von Kornelia Schneider. Berlin: wamiki
Wendy Lee (2019): Learning Stories: Documentation, with the Power of Transformation, Early Pedagogy Supplement Spring 2019, S. 2-3. Abrufbar unter: Wendy_Lee_Documentation_with_the_power_to_transform_Educational_Leadership_Project.pdf
Helen May, Margaret Carr, Val Podmore (2004): Te Whâriki: Neuseelands frühpädagogisches Curriculum 1991-2001. In: Frühpädagogik international. Bildungsqualität im Blickpunkt. Herausgegeben von Wassilios E. Fthenakis, Pamela Oberhuemer (2004). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften
Ministry of Education New Zealand (1996): Te Whâriki. Early Childhood Curriculum. Abrufbar unter: https://assets.education.govt.nz/public/Documents/Early-Childhood/Te-Whariki-1996.pdf
Ministry of Education New Zealand (2017): Te Whâriki. Early Childhood Curriculum. Abrufbar unter: www.education.govt.nz/early-childhood/teaching-and-learning/te-whariki
Isolde Kock ist Diplomsozialpädagogin und Berufsschuloberlehrerin, unterrichtete 30 Jahre an der Fachschule für Sozialpädagogik in Neumünster. Sie entwickelt zurzeit Unterrichtsmaterialien für Fachschulen, berät KiTa-Teams bei der Implementierung von Lerngeschichten, liest und übersetzt Texte von neuseeländischen Fachfrauen.
Sie ist Mutter von zwei Kindern und hat drei Enkelkinder.
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