Lena: Liebe Anna, ich habe deine Ausstellung in der Ostkreuzschule für Fotografie gesehen und war sehr beeindruckt: von deinem Mut, dieses sehr schmerzhafte Thema aufzugreifen und von der Vielschichtigkeit, wie du das Thema aufarbeitest. Wie kam es dazu, dass du dieses Thema für deine Abschlussarbeit ausgewählt hast? Das war bestimmt nicht einfach?
Anna: Nein, das war es wirklich nicht. Das Thema brodelt schon seit 20 Jahren in mir. Ich habe versucht, es zu verdrängen. Jahrelang. Trotzdem bleibt das Thema unbewusst da.
Es bremst, tut weh. Sehr. Manchmal auch nicht. Dann wieder kommt es über mich, ist präsent, fühlt sich ganz dumpf an. Ich wollte die Arbeit eigentlich nicht nur für mich selbst machen, sondern auch für andere Menschen, die ich gerne empowern möchte.
Ich habe das Thema auch gewählt, um für mich aufzuarbeiten, abzuschließen und megaviele Fragen nicht mehr wegzudrücken. Und ich habe die Arbeit als eine Art Kampf mit mir selbst angesehen: Wenn du eine Abschlussarbeit machst, dann kannst du nicht weglaufen; du hast dein Thema, Termine und einen gewissen Druck weiterzumachen. Und ganz wichtig: Du bist nicht allein, die Klasse und die Dozentinnen stehen hinter dir, unterstützen dich.
Lena: Das klingt gut, dass du Menschen hast, die dich im Prozess begleitet und unterstützt haben.
Anna: Es tut gut. Total. Meine Klasse stand immer hinter mir, auch wenn ich mal untergetaucht bin. Für mich war die Arbeit an diesem Thema ein Auf und Ab. Als ich meine Fotos das erste Mal im vorletzten Sommer gezeigt habe, konnte ich noch gar nicht darüber sprechen. Ich habe die Arbeit vor einer 15-köpfigen Klasse, zwei Dozenten und zwei Schulleitern präsentiert. Nach dem dritten Wort brach ich in Tränen aus … Also es war wirklich krass und jetzt habe ich mich innerhalb von einem Jahr so sehr damit beschäftigt, dass es mir viel leichter fällt, darüber zu sprechen, immer noch nicht so gut, aber trotzdem viel bewusster. Sybille Fendt, meine Dozentin, hat mich besonders ermutigt: als Mensch mental, emotional und als Künstlerin fotografisch. Ohne sie hätte ich es nicht durchgestanden. Ich bin ihr und meiner Klasse so dankbar dafür, dass sie mir den Rücken gestärkt haben.
Lena: Dieses Wortefinden, dieses Auf und Ab auszuhalten stelle ich mir sehr schwer vor. Du hast deine Abschlussarbeit “Vom Erwachsenwerden” genannt. Warum?
Anna: Ich bin in Bulgarien aufgewachsen. Mit sechs Jahren zogen meine Mama und ich nach Deutschland – zu meinem Stiefvater. Bis dahin hatte ich eine Kindheit und dann nicht mehr. In der neuen Familie mit dem deutschen Stiefvater verlor ich das Unbeschwert sein, die kindliche Leichtigkeit. Meine Kindheit endete und mein Erwachsenwerden begann. Mit sechs Jahren.
Lena: Du hattest oder hast megaviele Fragen, wie findest du Antworten?
Anna: Ich habe versucht, Zeitzeugen aus meiner „Kindheit“ in Deutschland zu finden, habe Nachbarn befragt, die Mitarbeiterin beim Jugendamt getroffen. Die konnten sich 15 Jahre später an mich noch gut erinnern und haben mir von ihrer Sicht auf meine Familie erzählt.
Das öffnet mir Türen zu mir selbst und anderen.
Lena: Dein Stiefvater wurde damals neun Jahre später – als du 15 Jahre alt warst – wegen sexuellen Missbrauch verurteilt. Er erhielt zwei Jahre Bewährung. Ich war geschockt über das geringe Strafmaß für all das, was er dir angetan hatte. Wie hast du diesen Prozess erlebt?
Anna: Mein Stiefvater war ein halbes Jahr in Untersuchungshaft. Dann war er plötzlich wieder frei. Ich wusste damals nicht, wer was im Prozess ausgesagt hat. What the ****, was war passiert? 15 Jahre später – im Januar 2023 – habe ich über meine Anwältin die Akten eingesehen, die Akten gab es noch, doch es hat bis Juni gedauert, bis sie zu mir kamen: 320 Seiten. Die habe ich gelesen. Seite für Seite. Aussagen, Geständnisse… Meine Quintessenz daraus ist, dass mich meine Mama subtil zu einer Aussagenverweigerung gebracht hat. Meine Mama hatte Ängste, ich sollte also nicht aussagen, weil wir sonst keinen Unterhalt mehr bekämen. Und dadurch, dass er gestanden hatte, gab es eine mildere Strafe.
Lena: In deinen Arbeiten stellst du Familienfotos in die Orte deiner Kindheit. Auf einigen Fotos brennt es. Was hat es damit auf sich?
Anna: Für mich hat es sich richtig angefühlt. Fast wie ein Ritual. Es ist schon ein bisschen Rache. Diese Weihnachtskrippe zum Beispiel hatte mein Stiefvater damals selbstgebaut. Jedes Weihnachten wurde ich verprügelt, weil ich mit den kleinen Tieren und Figürchen spielen wollte, aber nicht durfte. Natürlich habe ich es trotzdem versucht. Ich kann mit meinem Stiefvater nichts mehr klären, denn er ist vor einigen Jahren gestorben. Zu einer Zeit, wo ich noch sehr eingeschüchtert war. Über die Jahre bin ich gewachsen, stärker geworden. Aber reden mit ihm kann ich nun nicht mehr. Es hat mir gutgetan, die Krippe anzuzünden und auch die Gesichter aus den Familienfotos wegzubrennen.
Lena: Zugleich hast du mit der Fotografie einen Weg gefunden, sehr viel auszudrücken. Möchtest du vielleicht noch den Pädagog*innen etwas sagen, die wamiki lesen?
Anna: Gern. Ich werde auf jeden Fall an der Arbeit weiterarbeiten und meine ehemaligen Lehrer und Lehrerinnen damit konfrontieren, weil ich glaube, als Lehrkraft kann man etwas ahnen, aber nie so richtig hinter die Fassaden blicken. Manchmal sagen aber auch Gesichtsausdrücke mehr als 1000 Worte. Deshalb sind emphatisch Nachfragen und Nachhaken so wichtig. Bei uns wurde viele Jahre nach außen alles versteckt, verheimlicht, eine gute Familie gespielt und ich irgendwann als Problemkind abgestempelt. Das zu hinterfragen, wie es wirklich in der Familie aussieht, das ist der bessere Weg. Nicht wegschauen!!! Bei mir hat es neun Jahre gedauert, ehe der Stiefvater aufgeflogen ist.
Eine unendlich lange Zeit für ein Kind. Wichtig ist, die Kinder zu stärken und ihnen zuzuhören! Ich war ein sehr verängstigtes Kind, aber ich denke schon: Hätte es nur einen einzigen Menschen gegeben, eine Vertrauensperson und einen sicheren Ort zu sprechen, ich hätte viel früher was gesagt.
Lena: Durch deine Arbeit hast du dir ein großes Stück deines Lebens wieder zurückerkämpft: Du hast Worte und Mittel gefunden, darüber sprechen zu können. Ich bewundere deinen Mut, diesen Weg zu gehen. Ich danke dir sehr, dass du die Arbeit gemacht hast und dass du sie mit uns teilst.
Anna: Ich bin sehr glücklich, dass es Augen gefunden hat. Vielen Dank für diese Möglichkeit.