Toddler Style

Die besondere Sprache der Ein- und Zweijährigen

Kinder, die noch nicht oder kaum mit Worten sprechen, haben einen eigenen Stil, sich miteinander zu verständigen und aufeinander einzulassen.

Wie Kleinkinder ihre sehr eigene Kultur entwickeln, wie wir diese wahrnehmen und unterstützen können, ist Teil eines ganz besonderen neuen Buches von Wiebke Wüstenberg und Kornelia Schneider, welches im Januar 2021 bei wamiki erscheint.

Hier gibts den Artikel als PDF: Toddler_#6_2020

Die Kindheitsforschung ergab, dass Kinder eine eigene Kultur entwickeln, wenn sie unter sich sind. Diese „Kultur der Kinder“ entfaltet sich vor allem, wenn Kinder in etwa gleichem Alter oder mit etwa gleichem Entwicklungsstand zusammenkommen. Sie wird auch „Peer-Kultur“ genannt. Je nach Alter der Kinder weist sie spezifische Merkmale auf und entfaltet sich als Gruppenkultur, wenn mehrere Kinder beieinander sind und sich als Gruppe auf eine Reihe von Praktiken und Traditionen beziehen können, die sie mit ihren Gefährten selbst erschufen. In ihrer Peergroup1 bilden die Kinder eine kulturelle Gemeinschaft auf der Grundlage ähnlicher Fähigkeiten und Interessen sowie gemeinsamer Erfahrungen. Sie teilen ein bestimmtes Verständnis von Bedeutungen in ihren Kommunikations- und Spielgewohnheiten miteinander, das sie immer wieder vollziehen. Erwachsene finden nicht ohne Weiteres Zugang zu dieser Kultur.

Die Kultur der Kinder unter ihresgleichen zeigt sich auf doppelte Weise:

• in der Entwicklung eigener Verständigungsweisen und Spiele,

• in der gemeinschaftlichen Auseinandersetzung mit der Kultur der Erwachsenen.

Kinder sind zugleich Kulturentwickler und Kulturträger. Gemeinschaftliche Unternehmungen machen ihre Kultur augenfällig. Je mehr Kinder daran teilhaben, desto stärker wird diese Kultur.

Wie junge Kinder Kontakt und Gemeinschaft untereinander herstellen und welche Spielformen sie entwickeln, weist bestimmte Besonderheiten auf – verglichen mit älteren Kindern. Denn Kinder, die noch nicht oder kaum mit Worten sprechen, haben einen eigenen Stil, sich miteinander zu verständigen und aufeinander einzulassen. Gunvor Løkken, eine norwegische Kleinkindforscherin, bezeichnet ihn als „toddler style“2.

„Toddler“ ist die englische Bezeichnung für Kinder, die laufen können, deren Gangart3 aber davon zeugt, dass sie es erst kürzlich gelernt haben und noch dabei sind, das sichere und schnelle Laufen zu erobern oder damit zu spielen. Benutzt wird der Begriff „toddler“ für Kinder im Alter von etwa einem Jahr bis zu zweieinhalb, meist drei Jahren.

Im Deutschen gibt es keinen entsprechenden Begriff. Deshalb verwenden wir das Wort Kleinkinder oder übernehmen den englischen Begriff.

„Toddler style“ – der Umgangsstil unter  Kleinkindern

„Toddler style“ sagt aus, dass der Umgangsstil unter Kleinkindern von besonderer Art ist, typisch für diese Lebenszeit, für die vorherrschenden Interessen und Fähigkeiten in diesem Alter. Es ist der spezifische Stil Ein- und Zweijähriger, sich eine eigene Welt zu schaffen, die davon lebt, dass Körpersprache und Bewegung im Spiel sind. Ihre Verständigung miteinander vollzieht sich über Bewegung, Handlung, Haltung, Gesten, Blicke, Lächeln und Laute.

„Toddler style“ ist vor allem Körpersprache. Darin entwickeln Kleinkinder eine hohe Kunst im Umgang miteinander und im Erfinden von Spielen. Sie können das, weil sie, wie Merleau-Ponty sagt, als Körper-Subjekte in derWelt leben und sich dieWelt über ihren Körper aneignen.4

Toddler vermitteln einander ihre Absichten und Gedanken durch alle möglichen Arten von Körpersprache, die sie untereinander spielend verstehen, ohne reden oder reflektieren zu müssen. Sie nutzen die körperlichen Möglichkeiten, die ihnen zur Verfügung stehen, um Beziehungen miteinander herzustellen. Wer zum Beispiel mit einer Bewegungsaktivität oder einem vertrauten Spiel beginnt, macht damit anderen Kindern einen Spielvorschlag und vergewissert sich, ob sie das verstanden und Lust haben, einzusteigen und vielleicht selbst neue Ideen beizusteuern.

Imitation ist ein wesentliches Element im Prozess ihrer Verständigung. Worte können hinzukommen, wenn die Kinder so weit sind, in Sprache hineinzuwachsen. Äußerungen zum Ermuntern, Anfeuern und Bestätigen bestehen jedoch vorwiegend in Vokalisierungen, Ausrufen und Lachen. So ergibt sich ihr besonderer Umgangsstil miteinander. Er dient auch dazu, Spiele, Rituale und Routinen zu konstruieren. Auf diese Weise bauen sie die Peer-Kommunikation, die Peer-Beziehungen und damit die Peer-Kultur aus.

Alles, was im Folgenden als Merkmale für den „toddler style“ aufgeführt wird, hat damit zu tun, was typisch für das Dasein der Kinder und für ihre Auseinandersetzung mit der Welt ist.

 

Merkmale des „toddler style“

Im Neuseeländischen Curriculum für die frühe Kindheit5 von 1996 werden einige dieser Eigenarten von Kleinkindern aufgeführt:

• „Kleinkinder sind energiegeladen und bewegungsfreudig.

• Kleinkinder gewinnen Kontrolle über ihre Welt, indem sie Grenzen, Zusammenhänge und Wirkungen austesten.

• Die Wünsche von Kleinkindern eilen ihren sprach­lichen und körperlichen Fähigkeiten, das zu erreichen, was sie wollen, oft voraus.

• Kleinkinder sind aktiv, neugierig und darauf ausgerichtet, kompetent zu werden und einen Sinn in Ereignissen, Objekten und Ideen auszumachen.

• Die Gefühle von Kleinkindern sind intensiv und unvorhersehbar.

• Kleinkinder suchen nach Gelegenheiten und ­Ermu­tigungen für Erkundungen und Kreativität.

• Kleinkinder sind impulsiv, und es kann sein, dass sie sich nicht beherrschen können.

• Kleinkinder sind auf das Hier und Jetzt ausgerichtet.

• Kleinkinder suchen soziale Interaktion und lernen durch Nachahmen von anderen Menschen.

• Kleinkinder lernen mit ihrem ganzen Körper
und eher dadurch, dass sie etwas tun, als dass ihnen gesagt wird, was sie tun sollen.“6

 

In der überarbeiteten Fassung des Curriculums „Te Whāriki“ wird zusätzlich hervorgehoben:

• „Sie erkennen ‚Unsinn ‘ und Humor und antworten darauf.“7

Kleinkindtypische Mittel der Kommunikation

Seit Løkken den Begriff „toddler style“ prägte, lassen sich die Eigenarten der Verständigung und der Spiele unter Kleinkindern deutlicher fassen. Es gibt eine ganze Reihe von Kennzeichen für den Kleinkindstil, die in vielen Interaktionen unter Kleinkindern zu entdecken sind. Løkken begann mit der Aufstellung dieser Kennzeichen, die wir ergänzen. Im Folgenden fassen wir zusammen, was wir in der Fachliteratur fanden und was zu spezifischen kleinkindtypischen Mitteln der Kommunikation zählt:

• sich auf besondere Art annähern, zum Beispiel: sich vor ein Kind kauern und/oder das Gesicht dem eines anderen Kindes nähern und lächeln;

• vokalisieren, also Laute von sich geben, oder tönen, also ohne Worte sprechen oder singen;

• sich mit einem Kind unterhalten und es dabei leicht an verschiedenen Stellen seines Körpers antippen;

• Quatsch und Unsinn machen8, zum Beispiel Geräusche mit dem Mund, Grimassen oder ostentativ hinfallen, um Gelächter hervorzurufen9;

• zusammen Witze machen und Humor entwickeln;

• Spiele erfinden, zum Beispiel Papier oder den Tisch lecken oder die „Kunst des Kopfschüttelns“;

• Körpersensationen suchen und Körperfunktionen erkunden;

• Tobetouren oder Flur-Touren unternehmen, rennen und jagen: Bewegungsspiele inszenieren, die raumgreifend sind und nach bestimmten Regeln vonstatten gehen;

• eine frohlockende Stimmung10 verbreiten und fröhliches Leben entfalten;

• Freuden- oder Fröhlichkeitskonzerte11 veranstalten;

• Übertreibungen, hochgradige Energie12 und einen hohen Grad an Erregung produzieren;

• Begrüßungszeremonien durchführen;

• Zärtlichkeiten13 austauschen;

• Musik machen und tanzen;

• Nachahmung ritualisieren und Routinen entwickeln;

• Opposition erproben.

 

Diese Verständigungsweisen zeichnen sich durch besondere Spielfreude14 aus und finden sich in allen Gesellungsformen unter Kleinkindern: in Zweier- und Dreierkonstellationen sowie in Gruppen von vier bis zu zehn Kindern. Werden Spiele im „toddler style“ in Gruppen durchgeführt, wirken sie besonders stark. Oft ergeben sich dabei Situationen von hoher Gefühlsintensität und Beziehungsdichte15, denen nach Stern16 besondere Bedeutung in den frühen Erlebnissen von Beziehung zukommt. „Gefühle von hoher Intensität während bestimmter Erfahrungen können als eine existenzielle Kraft und ein fundamentaler Grundstein für den Aufbau von Beziehungserfahrungen angesehen werden.“17

Schon Einjährige nutzen Kommunikationsmittel unter­einander, die zu intensiven Beziehungen führen können: Sie beobachten andere Kinder eingehend, studieren Gesichts­ausdrücke, berühren andere und zeigen mit ihren Körpern, was sie vorhaben. Sie äußern sich durch Bewegung im Raum, durch ihre Körperhaltung, durch bedeutende Gesten, durch Lächeln und andere Formen des Gesichtsausdrucks sowie andere nonverbale Aktionen. 18

 

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1 Gleichaltrigengruppe

2 Kleinkindstil,

3 Toddling,

4 Løkken 2000a: 531,

5 „Te Whāriki“,

6 Ministry of Education 1996: 23 – Übersetzung: K. S.

7 Ebd.: 15,

8 Doing antics

9 Musatti und Panni (1981) erwähnen die vier erstgenannten Merkmale als Beispiele für Trösten. Siehe auch: Kapitel 3.2.9

10 Frolicking,

11 Glee concerts,

12 High energy

13 Caressing,

14 Playfulness,

15 Engdahl 2012: 87; Shin 2010: 297

16 Stern 2005,

17 Engdahl 2012: 87,

18 Vgl. Engdahl 2012: 95

 

Text: Wiebke Wüstenberg und Kornelia Schneider
Fotos: Julian van Dieken

Wie entwickeln die Jüngsten ihre Beziehungen zueinander? Und wie können pädagogische Fachkräfte diese wahrnehmen und unterstützen? ICH–DU–WIR ist das professionelle Handwerkszeug für alle, die Kinder in den ersten drei Lebensjahren begleiten. Ein Sesam-Öffne-Dich in das neue Verständnis von jungen Kindern und ihrer Beziehungen zueinander.

Kindertagesstätten sind auch deshalb Bildungsinstitutionen, weil sie Kleinkindern den Kontakt zu Gleichaltrigen ermöglichen. Dabei entstehen entwicklungsförderliche Beziehungen und die besondere Kleinkind-Kultur, die Kinder im Alter bis zu drei Jahren verbindet. Lange kam dieser Aspekt der Frühpädagogik in der Fachliteratur viel zu kurz.

Die Autorinnen haben neue internationale wissenschaftliche Erkenntnisse und Beobachtungen aus der Praxis hierzulande und anderswo praxisnah für den Alltag aufbereitet. Diese belegen: Kinder sind von Geburt an auf Kommunikation aus und an Freundschaften mit Geichaltrigen interessiert. Sei es zu zweit oder in kleinen Gruppen – sie gestalten ihre Beziehungen eigensinnig, auf Augenhöhe, voller Anteilnahme, Spielfreude, Erfindungsreichtum und Humor. Deshalb werben die Autorinnen dafür, der Gemeinschaft kleiner Kinder in Tageseinrichtungen professionell Augenmerk und Raum zu geben, so dass deren Entwicklungspotenzial sich entfalten kann. Wie viel Freude das macht – vor allem den Kindern – auch davon erzählt das Buch.

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