Über Sinn und Unsinn pädagogischer Gewohnheitswörter
Schauen wir uns den Tagesablauf in Kita und Grundschule an, dann finden wir einen Wechsel von gelenkten Zeiten und sogenanntem Freispiel. Die eine Zeit – von Erwachsenen vorgeplant – gilt gemeinhin als pädagogische Zeit. Die andere trägt den Charakter von Erholungspausen oder Übergangszeiten. Steckt dahinter nicht ein völlig verdrehter Begriff von Freiheit und Spiel?
Freispiel – sozusagen ein weißer Schimmel?
Der Wortteil „frei“ im Begriff „Freispiel“ legt verschiedene Assoziationen nahe: Freiheit – freie Wahl – freie Zeit – frei von der Dominanz Erwachsener – Unabhängigkeit – unbeobachtet sein…
Bei „Spiel“ fällt uns sofort ein: Lust – Vergnügen – Leichtigkeit – Ungezwungenheit – eigene Impulse – der Mensch ist nur Mensch, wenn er spielt – spielerisches Aneignen von Welt – Spiel ist Lebenstraining… Unwillkürlich denke ich bei freiem Spiel an den Gegensatz zu unfreiem. Gibt es das? Natürlich. Es gibt ja sogar den Begriff des gelenkten Spiels. Aber ist gelenkt zugleich unfrei und unfroh? Oh je, jetzt wird es philosophisch! Sowohl der Freiheitsbegriff als auch der Begriff des Spiels haben tiefere Dimensionen zu bieten. Zu tief für diesen Beitrag. Aber vielleicht nicht zu tief, um „Freispiel“ zu versenken.
Was heißt „frei“?
Gehen wir die Sache doch mal pragmatisch an. „Freispiel“ bezeichnet diejenigen Zeiten, in denen Kinder wählen können, was sie spielen wollen. Wo sie dies tun, das ist zumeist schon wieder vorgegeben: entweder alle drinnen oder alle draußen, schlimmstenfalls alle in einem Raum… Die Wahl der Spielpartner ist durch begrenzte Räume und Gruppenschranken ebenfalls eingeschränkt. Und selbst dort, wo Spielorte und Spielpartner frei gewählt werden dürfen, gibt es oft starre Regeln: Nur fünf Kinder zugleich in diesem Raum.
Wie realitätsnah ist also der Begriff? Was meint „frei“ heute? Wenn ich an meine eigene Kindheit denke, in der wir vor und außerhalb der Schule unsere Spiele und Beziehungen wirklich frei von erwachsener Einmischung gestalten konnten, dann trifft der Begriff eher zu. Allerdings kannte ihn damals niemand. Spiel war immer frei. Natürlich gab es Vorgaben: „Wenn die Lichter angehen, kommst du nach Hause.“ Oder: „Ihr spielt nicht in den Ruinen.“ Aber niemand wäre auf die Idee gekommen, uns vorzuschreiben, was, wie und mit wem wir spielen. Wer da war, war da. Die Regeln des Zusammenspiels bestimmten wir selbst und haben uns im wahrsten Sinne des Wortes zusammengerauft. Es gab „Chefchen“ und Außenseiter. Was gespielt wurde und wer mitspielen durfte, das wurde immer wieder neu ausgehandelt. Zwar trugen wir manche Blessuren davon, aber das wunderbare Gefühl von Freiheit kann ich noch heute spüren.
Und unsere Kita-Kinder? Die Freiheit der Wahl hat ihre Grenzen in der Welt, die wir den Kindern bieten. Ist diese Welt sehr stark begrenzt, sind es auch die Spiel- und Freiheitsräume – und das bedeutet: die Erfahrungs- und Handlungsmöglichkeiten. Dramatischer als gegebene Begrenzungen erscheint mir aber der grundsätzliche Irrtum, selbstbestimmte und spielerisch genutzte Zeit für nicht so bedeutsam zu halten wie pädagogisch gelenkte Zeit. Denn Bildung findet immer statt und – von Pädagogen unbemerkt – mindestens so nachhaltig im freien Spiel wie im gemeinsamen und geplanten Tun.
Fragen ohne Antworten
Was macht es uns Erwachsenen so schwer, die (Frei-)Räume der Kinder auszudehnen? Was hindert uns, ihren Impulsen „Futter“ zu geben, ohne sie zu dominieren? Was befürchten wir, wenn Kinder tun, was für sie von Bedeutung ist? Warum fällt es uns so schwer, die spielerischen Lernprozesse der Kinder wahrzunehmen und nicht zu unterbrechen? Warum sehen wir nicht die Ernsthaftigkeit in ihrem Spiel? Warum erkennen wir nicht, welche Potenziale sich im Spiel entfalten?
Haben wir Angst vor der ungezügelten Lebensfreude der Kinder? Misstrauen wir dem wilden Spiel der Kräfte? Sind wir gar neidisch? Befürchten wir, die Kinder könnten das Leben für ein Wunschkonzert halten und später böse erwachen? Treibt uns die Sorge um, dass sich bestimmte Fähigkeiten – Schere oder Stift halten zum Beispiel – nicht entwickeln? Fürchten wir uns davor, mehr und mehr überflüssig zu werden? Oder können wir einfach nicht mehr nachvollziehen, was bei den Kindern passiert, weil wir aus dem Stadium heraus sind, in dem Realität und Fantasie verschmelzen? Bedeutet, erwachsen zu werden, beides zu trennen?
Und halten wir es für einen pädagogisch wertvollen Beitrag zur Entwicklung von Kindern, die Zeit zu beschränken, in der sie die Realität nach eigenen Ideen fantastisch verwandeln?
Viele offene Fragen und keine Antworten. Aber das macht nichts. So viel können wir uns doch immerhin vornehmen: Wir sollten lockerer werden, gelassener und aufmerksamer. Versenken wir das Freispiel samt seinem Gegenüber und fischen wir stattdessen nach mehr Freiheit und Spiel für Kinder und für uns.
wamiki-Tipp: Begriffe versenken
Was ist das für ein Spiel?
In unserer pädagogischen Alltagssprache benutzen wir häufig Begriffe, die nicht mehr auf der Höhe der Zeit sind. Oft sind sie auch nicht auf der Höhe dessen, was wir tatsächlich tun. Lassen wir uns auf den Gedanken ein, die Gewohnheitswörter der pädagogischen Szene auf ihren Gehalt zu überprüfen, kommen wir gar nicht mehr aus dem Versenken und Waschen heraus. Denn in den meisten Begriffen steckt ein längst überholtes Rollen- und Berufsbild. Kein Wunder, Sprache verändert sich. Aber nur allmählich. Der erste Schritt ist, das Unsichtbare sichtbar zu machen. Dazu sollen die in diesem Buch gesammelten Beispiele dienen. In manchen Fällen reicht es, Begriffe gründlich zu waschen und neu gestärkt wieder ins Rennen zu schicken.
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