Wir bauen eine neue Stadt Kopieren

Ein visionärer Blick auf die Zukunft der Pädagogik oder ein Beitrag über das Selbstverständliche, das alles andere als selbstverständlich ist: Drei Wochen Mini-München

Mit ungefähr 1500 Kindern warten wir morgens vor den Zenith-Hallen in München Freimann darauf, reingelassen zu werden. Bis Mittag wird man fast 2500 Kinder zählen. In den nächsten drei Wochen will ich mit meinem Kamerateam beobachten, was die Kinder in Mini-München alles machen. Wie sie es machen. Und was sich dabei in ihnen und zwischen ihnen sowie zwischen ihnen und den Erwachsenen abspielt.

Die Kinder stehen geduldig in der Schlange. An diesem ersten Ferientag scheint die Sonne. Wunderbare Augustsonne. Manche sind in Begleitung von Müttern oder Vätern gekommen. Viele sitzen auf dem Boden, beraten woran sie teilnehmen wollen. „Will ich diesmal Vollbürger werden?“ „Gehe ich lieber gleich arbeiten oder erst mal studieren?“ Sie füllen den Mini-München Mitspielpass aus oder lesen die Regeln. Die 10. heißt, „Wer Regeln aufstellt, kann sie auch verändern.“ Das macht die Bürgerversammlung. Es gibt schon viele Regeln und Traditionen, denn Mini-München findet in diesem Sommer zum 18. Mal statt. Alle zwei Jahre in den großen Ferien. Manche Eltern waren bereits als Kinder dabei. Viele der Betreuer auf dem Bauhof, im Rundfunkstudio oder im Gasthaus „Zur Fetten Sau“ sind Ehemalige.

Es wird fast noch eine Stunde bis zum Einlass dauern. Dann werden die Kinder ungefähr so reinstürmen, wie sie am letzten Schultag aus der Schule rausgerannt sind.

Nicht wenige waren schon vor zwei oder vier Jahren oder noch häufiger dabei. Sieben Jahre alt muss man sein und nicht älter als Fünfzehn. Von einigen hören wir, dass sie ihre Eltern überredet haben später in den Urlaub zu fahren, damit sie erst mal zu Mini-München können. Und nun wollen sie an den ersten Ferientagen oder die ganzen drei Wochen hier von morgens bis gegen Abend Dinge herstellen, ins Rathaus gehen, Geld verdienen, einkaufen, was so alles hergestellt wird. Es gibt eine Währung, den MiMü. Und ihren ganzen Alltag selbst regeln. Eltern bekommen nur ein Visum für eine halbe Stunde. Und das wird, wie man jetzt schon hört, streng, also mit Eifer und mit großer Freude von den Kindern kontrolliert. Schulfrei und elternfrei.

Mini-München hat bei den Kindern einen so umwerfend guten Ruf, dass man sich das einfach genauer ansehen muss. Wir haben schon einen Vorbereitungstag gefilmt und werden nun bis zum Ende drei Wochen jede Minute dabei sein. Eines ist schon klar. Wenn man wissen will, was Vorfreude ist, muss man jetzt in diese Gesichter blicken.

Ich schwanke noch, ob der Film eher ein visionärer Blick auf die Zukunft der Pädagogik sein wird, oder eine Studie über das Selbstverständliche. Dieses Selbstverständliche, das alles andere als selbstverständlich ist. Es gibt bedrückende Hinweise, dass das freie Spiel der Kinder so bedroht ist wie manches Biotop.

Der Hunger auf Welt

Nun geht’s los. Punkt 10 Uhr. Die Hallentore werden geöffnet. Die Kinder rennen. Manche rasen zum Ziel, das sie schon kennen. Es gibt das Rathaus und Handwerksbetriebe, das Gasthaus, die Comenius Hochschule und die Bank und das Arbeitsamt, auch Müllabfuhr, Theater, Kino und Fernsehen. 68 Einrichtungen. Die Kinder sind Bürgermeister und Taxifahrer, Gärtner und Hochschullehrer. Es gibt Märkte und Wahlen, Müllsammelaktionen und natürlich Feste. Das Botschaftsgebäude wird in diesem Jahr von Kindern aus Indien, Japan und europäischen Städten gestaltet. Dort gibt es nämlich Ableger dieser in München kreierten Idee. Zentral ist in diesem Jahr der Klimaschutz mit einem Wertstoffhof und einem Forschungsinstitut.  200 Erwachsene sind die Mentoren: Pädagogen, Künstler, Handwerker, Studenten und Wissenschaftler, kurz: erwachsen gewordene Erwachsene, Leute, bei denen die Kinder aus erster Hand die Dinge und das Können, also die Welt kennenlernen, auf die Kinder so hungrig sind.

Sie rennen in die Hallen, um an die besonders beliebten Jobs zu kommen. Zum Beispiel Taxifahrer auf seifenkistenartigen Gefährten. Oder auch Taxen reparieren. Wer dann anderswo arbeiten will, kündigt, bekommt einen Lohnscheck, der bei der Bank eingelöst wird. Die Arbeitskarte für diesen Arbeitsplatz geht zum Arbeitsamt, wo die Jobs nun tagsüber vermittelt werden.

Bank und Arbeitsamt

Mini München ist Fest und Alltag. Nur immerzu Fest wäre ja so schwer auszuhalten wie nichts als Alltag. Die Kids kommen freiwillig. Eine Festpflicht wäre so etwas wie ein Zwangsrestaurant mit Aufesszwang. Dort würden sich selbst bei guter Küche bald Essenstörungen ausbreiten.

Viele Kinder finden ihr Ding. So ein 14jähriger, der letztes Mal an die hundert Seiten Gesetzestext für die Kinderrepublik geschrieben hatte. Wo hat er das nur her? Die Kinder vertiefen sich in Themen. Diesmal haben einige den digitalen Geldverkehr entwickelt, den sie neben der gedruckten MiMü-Währung einführen wollen. Ein Expertenwerk. Kinder wechseln ihre Tätigkeiten. Auch weil sie etwas suchen, an dem sie hängen bleiben können. Aber sie wechseln nicht ständig im 45-Minutentakt des Stundenplans, als wäre der Vormittag ein Pro-ADHS-Training.

Das ewige Kind in uns

In der Comenius Hochschule lehrt Ellen Fritsche. Sie ist ein Fan von Mini-München. Schon seit Jahren. Sie spendet und ist dort „Professorin“. Professoren sind diejenigen, die Vorlesungen oder Kurse halten. Das machen Kinder, Jugendliche, Profis oder jemand wie Ellen Fritsche. Sie ist 88 Jahre alt und ohne Übertreibung, sie gehört in mancher Hinsicht zu den Jüngsten. Sie interessiert sich schon ihr Leben lang, exakt seit 1945, für Hände. Sie interessiert sich auch für vieles andere. Aber über Hände hat sie ein riesiges Wissen. Und Hände sind für sie ein mindestens ebenso großes Geheimnis geblieben. Sie ist mit den Händen nicht fertig. Von Händen kann sie was erzählen. Ihre Begeisterung und Neugierde haben nicht nachgelassen.

„17000 Fühlsensoren haben wir an unseren Händen.“ Die Kinder staunen. „Aber das kann sich natürlich niemand vorstellen“, fügt sie gleich hinzu. Deshalb hat sie kleine, einen Quadratzentimeter große Zettelchen ausgeschnitten und an die Kinder ausgegeben. „Auf einem Zentimeter Fingerkuppe gibt es 144 Sensoren.“ Das kann man sich schon eher vorstellen und deshalb auch merken. Frau Fritsche ist eine gute Lehrerin, was sie allerdings nie von Beruf war. Sie hatte eine Handschuhmanufaktur gegründet.

Ständig sind ihre Hände in Bewegung. Sie spricht nicht nur über Hände, sie spricht auch mit ihnen, erklärt wofür wir sie gebrauchen und was sie ausdrücken. Schon im Mutterbauch beginnt dieses Spiel und für das Baby sind dann die Finger das erste Spielzeug. Wie wunderbar in diesem Organ Tätigkeit und Wahrnehmung  zusammenliegen. Was wären wir ohne Hände? „Das müsst ihr euch mal vorstellen“, verlangt sie. Pause. Konzentration und Ruhe. Wache, nachdenkliche und dabei schöne Gesichter. Dann fordert sie die Kinder auf ihren Puls zu fühlen. „Was, du fühlst keinen?“ fragt sie mit superkräftiger Stimme. „Das ist ja furchtbar, dann bist du tot“. Aber tot ist hier natürlich niemand. Auch nicht so scheintot wie sonst häufig im Unterricht. Ellen Fritsche ist einfach ansteckend vitalisierend. Sie erinnert an Albert Einsteins Antwort auf die ihm gestellte Frage, wie er denn all das herausfinden und entdecken konnte. Er sagte: Weil ich immer das ewige Kind geblieben bin. Natürlich ist bei Albert Einstein und bei Ellen Fritsche sonnenklar, dass dieses ewige Kind nichts mit Infantilität zu tun hat. Im Gegenteil. Gelungene Erwachsene – im Unterschied zu den vielen Verwachsenen – haben nicht nur ihre Urteilskraft entwickelt, sie bieten diesem ewigen Kind Schutz. Sie haben es nicht abgetrieben. So werden sie immer wieder neu staunende, große Anfänger. Je mehr sie wissen, umso mehr Fragen haben sie. Sie sind eben nicht fertig. Das macht eine Ellen Fritsche oder einen Einstein mit den Kindern so verwandt. Die Kinder spüren diese Verwandtschaft sofort. Kinder brauchen solche Erwachsene.

Klimazentrum

Mit Leib und Seele

Nun sind wir schon ein paar Tage dabei. An einem Morgen so um neun, auf dem Weg von der U-Bahnstation Freimann zu den Zenith-Hallen. Vor mir drei Knirpse im Laufschritt, diese kindertypische Begeisterung.  Einer guckt auf die Uhr und sagt, „es sind noch genau 57 Minuten, wir können mehr trödeln“. Sie verlangsamen den Schritt. Der andere, „ne, die Warteschlangen sind doch immer so lang“. Der dritte, „dann lasst uns rennen“. Der erste wieder, „da sparen wir höchstens eine halbe Minute“. Dann sind sie wieder in diesem glücklichen Laufschritt. Bewegte Vorfreude. Vorfreude auf den Tag, Vorfreude auf Erlebnisse und Vorfreude auf sich selbst.

Werkzeugausgabe

Unsere erste Station ist diesmal die Gärtnerei. Die Kinder tragen Körbe mit Pflanzen ins Freie, gießen sie, erklären uns welche mit der Tülle, die jungen nämlich, und welche ohne, aber mit sanftem Strahl gegossen werden. So eine stolze Fachlichkeit. Auf dem Bauhof entsteht Klein-Mini-München. Hier bauen die Kinder Häuser, am Anfang Buden, dann verschachteltere Konstruktionen. Ein Zimmermann ist immer dabei. Außerdem wird an einem U-Boot Modell gearbeitet. Das brauchen die Trickfilmer. In der Küche werden Kartoffeln püriert. Butter, Quark und viel Schnittlauch werden zugesetzt. Das wird ein Brotaufstrich. Die Kellner probieren ihre bodenlangen, roten Schürzen an, nehmen sich Notizblöcke und werden nachher Bestellungen aufnehmen, bedienen und kassieren.

Erstaunlich ist die Hingabe der Kinder. Jeder findet seinen Platz, bleibt für ein paar Stunden, dann kann gewechselt werden. Die meisten in der Küche wollen dortbleiben. Andere wollen aber ebenfalls mal den Job in der Küche haben. Vielleicht ein Thema für die Bürgerversammlung am Nachmittag? Da können allerdings nur Vollbürger abstimmen. Die Vollbürgerschaft kann nach vier Stunden Arbeit, vier Stunden Studieren und einem „Zoff-Kurs“ beantragt werden. Dort lernt man Streits nicht eskalieren zu lassen.

Gerichtstag
Modenschau

Wie Schulen aussehen können

Damit sind wir wieder mitten in Mini-München und bei den Kindern. Wir sehen andauernd Kinder, die tief in eine Sache versunken sind. Zum Beispiel im Architekturbüro. Eben noch haben sie draußen Flächen vermessen, auf denen Häuser gebaut werden sollen. Da waren sie wach und agil. Nun sind sie übers Papier gebeugt, übertragen die Maße und bauen Modelle. Jetzt könnte ein Schrank neben ihnen umfallen und sie blieben unbeeindruckt. Weder das Dorfplatztreiben noch ein Kameramann, der nah an sie herangeht, lässt sie aufblicken. Maria Montessori nannte das die Polarisierung der Aufmerksamkeit.

Das Geheimnis von Mini-München ist, dass die Dinge, die Tätigkeiten und die Ziele selbst wichtig und wertvoll sind. Dann wollen viele Kinder um 17 Uhr nicht nach Hause und stehen am nächsten Morgen zu Hunderten lange vor der Öffnung in der Schlange.

Die Zeit bei Mini-München vergeht schnell. Am auffälligsten ist die Haltung der Kinder. Diese schier unglaubliche Aufmerksamkeit. Ihre Intensität. Anderes als die in der Schule mit zumeist nur sitzenden Schülern, die einen Kopf zu transportieren haben und ansonsten ruhiggestellt werden, hier diese bewegten, friedlichen und zusammen handelnden „ganzen Kinder“! Nicht einmal hörte ich in dieser Woche den Kommandoruf „Ruhe!“ Auch keine Disziplinprobleme sind aufgefallen. Die Kinder sind nicht im Status der sie ungerührt lassenden Vorratsdatenspeicherung. Sie sind ganz gegenwärtig. Sie sind in der Welt. Die wird ihnen nicht aus zweiter Hand gereicht. Sie wird tätig erfahren. Die Möglichkeit seine Erfahrungen zu machen, und dann aus den Erfahrungen was Anderes zu machen, Lösungen, etwas Neues oder etwas ganz Anderes. Einigen Ehemaligen, die sich an einem Nachmittag trafen, fiel auf, dass sie kein Kind mit einem Smartphone in der Hand gesehen haben.

Mini-München ist ein Labor des Lernens, Denkens und Handelns und muss unbedingt als solches entdeckt werden. Weil die Kinder handeln wollen, denken sie und dabei lernen sie. Viele, auch in München glauben ja immer noch, das sei eine sehr schöne und ziemlich aufwendige Ferienbetreuung. Keine Betreuung! Mini-München verhält sich zur Schule nicht wie Freizeit zur Arbeit, es verhält sich zu ihr eher wie die Grammatik der Industriegesellschaft zu der einer nachindustriellen Tätigkeitsgesellschaft, die hier, das ist das Großartige, gebildet wird. Man bekommt eine Idee davon, wie eine Schule aussehen könnte. Eine aus Werkstätten, Ateliers, Übungsräumen, auch Cafés und Räumen der Stille. In so einer Schule wären Lehrer auch Menschensammler. Sie holen Experten, Meister ihrer Sache, also Botschafter aus der tätigen Welt hinein und führen die Kinder nach draußen zu interessanten Orten. Die Schule selbst wäre ein Basislager der Gesellschaft, ein generativer Ort, an dem die Generationen zusammenkommen und Neues generieren. Und wie wichtig sind doch die Lebendigkeit und die Neugier von Kindern für uns Erwachsene! Es wäre ein Geben und Nehmen.

Geldwechsler

Die Kinder stoßen zu den Dingen, zu den Phänomenen selbst vor. Deshalb sind sie so begeistert. Sie verwandeln die Dinge. Das nennen sie Arbeit. Und Lernen ist, dass sie sich die Dinge und die Erfahrungen und das Wissen anverwandeln. Dabei werden sie nach ein paar Tagen einen Kopf größer. Diesen Satz habe ich mehrfach gehört. Auch von einer Redakteurin des Bayrischen Rundfunks. Sie macht hier mit den Kindern eine tägliche Radiosendung „radioMikro“ und sie hat ihren Sohn mitgebracht, der in die erste Klasse geht. In der Schule, sagt sie, begann er sich schon mehr und mehr zu langweilen und war frustriert, weil er sich nicht mehr wie im Kindergarten frei bewegen und seine Sachen machen konnte. Hier ist er glücklich, emsig, hier ist ihm nicht langweilig und nach ein paar Tagen ist er „einen Kopf größer.“

Und was kommt dabei raus, wenn Kinder ihre Sachen machen, ihr Ding finden und es weiter und weitertreiben? Die Redakteurin selbst war als achtjähriges Kind erstmals bei Mini-München dabei. Da wollte sie zuerst nichts Anderes als in der Küche „Zur Fetten Sau“ arbeiten. „Immer nur umrühren.“ In den folgenden Jahren kam für sie anderes hinzu. Sein Ding zu finden ist eben keine lineare oder einmalige Angelegenheit. Eigentlich müsste man dafür einen neuen Begriff erfinden: Die positive Traumatisierung. Oder einfach: Glück.

PS. Das ist natürlich nur ein Ausschnitt von dem, was wir gesehen haben und filmen konnten. Und auch nur ein Teil der Gedanken, die dann auf Papier im DVD-Buch stehen werden. Mehr Infos:

Wir bauen eine neue Stadt Kopieren

Ein visionärer Blick auf die Zukunft der Pädagogik oder ein Beitrag über das Selbstverständliche, das alles andere als selbstverständlich ist: Drei Wochen Mini-München

Mit ungefähr 1500 Kindern warten wir morgens vor den Zenith-Hallen in München Freimann darauf, reingelassen zu werden. Bis Mittag wird man fast 2500 Kinder zählen. In den nächsten drei Wochen will ich mit meinem Kamerateam beobachten, was die Kinder in Mini-München alles machen. Wie sie es machen. Und was sich dabei in ihnen und zwischen ihnen sowie zwischen ihnen und den Erwachsenen abspielt.

Die Kinder stehen geduldig in der Schlange. An diesem ersten Ferientag scheint die Sonne. Wunderbare Augustsonne. Manche sind in Begleitung von Müttern oder Vätern gekommen. Viele sitzen auf dem Boden, beraten woran sie teilnehmen wollen. „Will ich diesmal Vollbürger werden?“ „Gehe ich lieber gleich arbeiten oder erst mal studieren?“ Sie füllen den Mini-München Mitspielpass aus oder lesen die Regeln. Die 10. heißt, „Wer Regeln aufstellt, kann sie auch verändern.“ Das macht die Bürgerversammlung. Es gibt schon viele Regeln und Traditionen, denn Mini-München findet in diesem Sommer zum 18. Mal statt. Alle zwei Jahre in den großen Ferien. Manche Eltern waren bereits als Kinder dabei. Viele der Betreuer auf dem Bauhof, im Rundfunkstudio oder im Gasthaus „Zur Fetten Sau“ sind Ehemalige.

Es wird fast noch eine Stunde bis zum Einlass dauern. Dann werden die Kinder ungefähr so reinstürmen, wie sie am letzten Schultag aus der Schule rausgerannt sind.

Nicht wenige waren schon vor zwei oder vier Jahren oder noch häufiger dabei. Sieben Jahre alt muss man sein und nicht älter als Fünfzehn. Von einigen hören wir, dass sie ihre Eltern überredet haben später in den Urlaub zu fahren, damit sie erst mal zu Mini-München können. Und nun wollen sie an den ersten Ferientagen oder die ganzen drei Wochen hier von morgens bis gegen Abend Dinge herstellen, ins Rathaus gehen, Geld verdienen, einkaufen, was so alles hergestellt wird. Es gibt eine Währung, den MiMü. Und ihren ganzen Alltag selbst regeln. Eltern bekommen nur ein Visum für eine halbe Stunde. Und das wird, wie man jetzt schon hört, streng, also mit Eifer und mit großer Freude von den Kindern kontrolliert. Schulfrei und elternfrei.

Mini-München hat bei den Kindern einen so umwerfend guten Ruf, dass man sich das einfach genauer ansehen muss. Wir haben schon einen Vorbereitungstag gefilmt und werden nun bis zum Ende drei Wochen jede Minute dabei sein. Eines ist schon klar. Wenn man wissen will, was Vorfreude ist, muss man jetzt in diese Gesichter blicken.

Ich schwanke noch, ob der Film eher ein visionärer Blick auf die Zukunft der Pädagogik sein wird, oder eine Studie über das Selbstverständliche. Dieses Selbstverständliche, das alles andere als selbstverständlich ist. Es gibt bedrückende Hinweise, dass das freie Spiel der Kinder so bedroht ist wie manches Biotop.

Der Hunger auf Welt

Nun geht’s los. Punkt 10 Uhr. Die Hallentore werden geöffnet. Die Kinder rennen. Manche rasen zum Ziel, das sie schon kennen. Es gibt das Rathaus und Handwerksbetriebe, das Gasthaus, die Comenius Hochschule und die Bank und das Arbeitsamt, auch Müllabfuhr, Theater, Kino und Fernsehen. 68 Einrichtungen. Die Kinder sind Bürgermeister und Taxifahrer, Gärtner und Hochschullehrer. Es gibt Märkte und Wahlen, Müllsammelaktionen und natürlich Feste. Das Botschaftsgebäude wird in diesem Jahr von Kindern aus Indien, Japan und europäischen Städten gestaltet. Dort gibt es nämlich Ableger dieser in München kreierten Idee. Zentral ist in diesem Jahr der Klimaschutz mit einem Wertstoffhof und einem Forschungsinstitut.  200 Erwachsene sind die Mentoren: Pädagogen, Künstler, Handwerker, Studenten und Wissenschaftler, kurz: erwachsen gewordene Erwachsene, Leute, bei denen die Kinder aus erster Hand die Dinge und das Können, also die Welt kennenlernen, auf die Kinder so hungrig sind.

Sie rennen in die Hallen, um an die besonders beliebten Jobs zu kommen. Zum Beispiel Taxifahrer auf seifenkistenartigen Gefährten. Oder auch Taxen reparieren. Wer dann anderswo arbeiten will, kündigt, bekommt einen Lohnscheck, der bei der Bank eingelöst wird. Die Arbeitskarte für diesen Arbeitsplatz geht zum Arbeitsamt, wo die Jobs nun tagsüber vermittelt werden.

Bank und Arbeitsamt

Mini München ist Fest und Alltag. Nur immerzu Fest wäre ja so schwer auszuhalten wie nichts als Alltag. Die Kids kommen freiwillig. Eine Festpflicht wäre so etwas wie ein Zwangsrestaurant mit Aufesszwang. Dort würden sich selbst bei guter Küche bald Essenstörungen ausbreiten.

Viele Kinder finden ihr Ding. So ein 14jähriger, der letztes Mal an die hundert Seiten Gesetzestext für die Kinderrepublik geschrieben hatte. Wo hat er das nur her? Die Kinder vertiefen sich in Themen. Diesmal haben einige den digitalen Geldverkehr entwickelt, den sie neben der gedruckten MiMü-Währung einführen wollen. Ein Expertenwerk. Kinder wechseln ihre Tätigkeiten. Auch weil sie etwas suchen, an dem sie hängen bleiben können. Aber sie wechseln nicht ständig im 45-Minutentakt des Stundenplans, als wäre der Vormittag ein Pro-ADHS-Training.

Das ewige Kind in uns

In der Comenius Hochschule lehrt Ellen Fritsche. Sie ist ein Fan von Mini-München. Schon seit Jahren. Sie spendet und ist dort „Professorin“. Professoren sind diejenigen, die Vorlesungen oder Kurse halten. Das machen Kinder, Jugendliche, Profis oder jemand wie Ellen Fritsche. Sie ist 88 Jahre alt und ohne Übertreibung, sie gehört in mancher Hinsicht zu den Jüngsten. Sie interessiert sich schon ihr Leben lang, exakt seit 1945, für Hände. Sie interessiert sich auch für vieles andere. Aber über Hände hat sie ein riesiges Wissen. Und Hände sind für sie ein mindestens ebenso großes Geheimnis geblieben. Sie ist mit den Händen nicht fertig. Von Händen kann sie was erzählen. Ihre Begeisterung und Neugierde haben nicht nachgelassen.

„17000 Fühlsensoren haben wir an unseren Händen.“ Die Kinder staunen. „Aber das kann sich natürlich niemand vorstellen“, fügt sie gleich hinzu. Deshalb hat sie kleine, einen Quadratzentimeter große Zettelchen ausgeschnitten und an die Kinder ausgegeben. „Auf einem Zentimeter Fingerkuppe gibt es 144 Sensoren.“ Das kann man sich schon eher vorstellen und deshalb auch merken. Frau Fritsche ist eine gute Lehrerin, was sie allerdings nie von Beruf war. Sie hatte eine Handschuhmanufaktur gegründet.

Ständig sind ihre Hände in Bewegung. Sie spricht nicht nur über Hände, sie spricht auch mit ihnen, erklärt wofür wir sie gebrauchen und was sie ausdrücken. Schon im Mutterbauch beginnt dieses Spiel und für das Baby sind dann die Finger das erste Spielzeug. Wie wunderbar in diesem Organ Tätigkeit und Wahrnehmung  zusammenliegen. Was wären wir ohne Hände? „Das müsst ihr euch mal vorstellen“, verlangt sie. Pause. Konzentration und Ruhe. Wache, nachdenkliche und dabei schöne Gesichter. Dann fordert sie die Kinder auf ihren Puls zu fühlen. „Was, du fühlst keinen?“ fragt sie mit superkräftiger Stimme. „Das ist ja furchtbar, dann bist du tot“. Aber tot ist hier natürlich niemand. Auch nicht so scheintot wie sonst häufig im Unterricht. Ellen Fritsche ist einfach ansteckend vitalisierend. Sie erinnert an Albert Einsteins Antwort auf die ihm gestellte Frage, wie er denn all das herausfinden und entdecken konnte. Er sagte: Weil ich immer das ewige Kind geblieben bin. Natürlich ist bei Albert Einstein und bei Ellen Fritsche sonnenklar, dass dieses ewige Kind nichts mit Infantilität zu tun hat. Im Gegenteil. Gelungene Erwachsene – im Unterschied zu den vielen Verwachsenen – haben nicht nur ihre Urteilskraft entwickelt, sie bieten diesem ewigen Kind Schutz. Sie haben es nicht abgetrieben. So werden sie immer wieder neu staunende, große Anfänger. Je mehr sie wissen, umso mehr Fragen haben sie. Sie sind eben nicht fertig. Das macht eine Ellen Fritsche oder einen Einstein mit den Kindern so verwandt. Die Kinder spüren diese Verwandtschaft sofort. Kinder brauchen solche Erwachsene.

Klimazentrum

Mit Leib und Seele

Nun sind wir schon ein paar Tage dabei. An einem Morgen so um neun, auf dem Weg von der U-Bahnstation Freimann zu den Zenith-Hallen. Vor mir drei Knirpse im Laufschritt, diese kindertypische Begeisterung.  Einer guckt auf die Uhr und sagt, „es sind noch genau 57 Minuten, wir können mehr trödeln“. Sie verlangsamen den Schritt. Der andere, „ne, die Warteschlangen sind doch immer so lang“. Der dritte, „dann lasst uns rennen“. Der erste wieder, „da sparen wir höchstens eine halbe Minute“. Dann sind sie wieder in diesem glücklichen Laufschritt. Bewegte Vorfreude. Vorfreude auf den Tag, Vorfreude auf Erlebnisse und Vorfreude auf sich selbst.

Werkzeugausgabe

Unsere erste Station ist diesmal die Gärtnerei. Die Kinder tragen Körbe mit Pflanzen ins Freie, gießen sie, erklären uns welche mit der Tülle, die jungen nämlich, und welche ohne, aber mit sanftem Strahl gegossen werden. So eine stolze Fachlichkeit. Auf dem Bauhof entsteht Klein-Mini-München. Hier bauen die Kinder Häuser, am Anfang Buden, dann verschachteltere Konstruktionen. Ein Zimmermann ist immer dabei. Außerdem wird an einem U-Boot Modell gearbeitet. Das brauchen die Trickfilmer. In der Küche werden Kartoffeln püriert. Butter, Quark und viel Schnittlauch werden zugesetzt. Das wird ein Brotaufstrich. Die Kellner probieren ihre bodenlangen, roten Schürzen an, nehmen sich Notizblöcke und werden nachher Bestellungen aufnehmen, bedienen und kassieren.

Erstaunlich ist die Hingabe der Kinder. Jeder findet seinen Platz, bleibt für ein paar Stunden, dann kann gewechselt werden. Die meisten in der Küche wollen dortbleiben. Andere wollen aber ebenfalls mal den Job in der Küche haben. Vielleicht ein Thema für die Bürgerversammlung am Nachmittag? Da können allerdings nur Vollbürger abstimmen. Die Vollbürgerschaft kann nach vier Stunden Arbeit, vier Stunden Studieren und einem „Zoff-Kurs“ beantragt werden. Dort lernt man Streits nicht eskalieren zu lassen.

Gerichtstag
Modenschau

Wie Schulen aussehen können

Damit sind wir wieder mitten in Mini-München und bei den Kindern. Wir sehen andauernd Kinder, die tief in eine Sache versunken sind. Zum Beispiel im Architekturbüro. Eben noch haben sie draußen Flächen vermessen, auf denen Häuser gebaut werden sollen. Da waren sie wach und agil. Nun sind sie übers Papier gebeugt, übertragen die Maße und bauen Modelle. Jetzt könnte ein Schrank neben ihnen umfallen und sie blieben unbeeindruckt. Weder das Dorfplatztreiben noch ein Kameramann, der nah an sie herangeht, lässt sie aufblicken. Maria Montessori nannte das die Polarisierung der Aufmerksamkeit.

Das Geheimnis von Mini-München ist, dass die Dinge, die Tätigkeiten und die Ziele selbst wichtig und wertvoll sind. Dann wollen viele Kinder um 17 Uhr nicht nach Hause und stehen am nächsten Morgen zu Hunderten lange vor der Öffnung in der Schlange.

Die Zeit bei Mini-München vergeht schnell. Am auffälligsten ist die Haltung der Kinder. Diese schier unglaubliche Aufmerksamkeit. Ihre Intensität. Anderes als die in der Schule mit zumeist nur sitzenden Schülern, die einen Kopf zu transportieren haben und ansonsten ruhiggestellt werden, hier diese bewegten, friedlichen und zusammen handelnden „ganzen Kinder“! Nicht einmal hörte ich in dieser Woche den Kommandoruf „Ruhe!“ Auch keine Disziplinprobleme sind aufgefallen. Die Kinder sind nicht im Status der sie ungerührt lassenden Vorratsdatenspeicherung. Sie sind ganz gegenwärtig. Sie sind in der Welt. Die wird ihnen nicht aus zweiter Hand gereicht. Sie wird tätig erfahren. Die Möglichkeit seine Erfahrungen zu machen, und dann aus den Erfahrungen was Anderes zu machen, Lösungen, etwas Neues oder etwas ganz Anderes. Einigen Ehemaligen, die sich an einem Nachmittag trafen, fiel auf, dass sie kein Kind mit einem Smartphone in der Hand gesehen haben.

Mini-München ist ein Labor des Lernens, Denkens und Handelns und muss unbedingt als solches entdeckt werden. Weil die Kinder handeln wollen, denken sie und dabei lernen sie. Viele, auch in München glauben ja immer noch, das sei eine sehr schöne und ziemlich aufwendige Ferienbetreuung. Keine Betreuung! Mini-München verhält sich zur Schule nicht wie Freizeit zur Arbeit, es verhält sich zu ihr eher wie die Grammatik der Industriegesellschaft zu der einer nachindustriellen Tätigkeitsgesellschaft, die hier, das ist das Großartige, gebildet wird. Man bekommt eine Idee davon, wie eine Schule aussehen könnte. Eine aus Werkstätten, Ateliers, Übungsräumen, auch Cafés und Räumen der Stille. In so einer Schule wären Lehrer auch Menschensammler. Sie holen Experten, Meister ihrer Sache, also Botschafter aus der tätigen Welt hinein und führen die Kinder nach draußen zu interessanten Orten. Die Schule selbst wäre ein Basislager der Gesellschaft, ein generativer Ort, an dem die Generationen zusammenkommen und Neues generieren. Und wie wichtig sind doch die Lebendigkeit und die Neugier von Kindern für uns Erwachsene! Es wäre ein Geben und Nehmen.

Geldwechsler

Die Kinder stoßen zu den Dingen, zu den Phänomenen selbst vor. Deshalb sind sie so begeistert. Sie verwandeln die Dinge. Das nennen sie Arbeit. Und Lernen ist, dass sie sich die Dinge und die Erfahrungen und das Wissen anverwandeln. Dabei werden sie nach ein paar Tagen einen Kopf größer. Diesen Satz habe ich mehrfach gehört. Auch von einer Redakteurin des Bayrischen Rundfunks. Sie macht hier mit den Kindern eine tägliche Radiosendung „radioMikro“ und sie hat ihren Sohn mitgebracht, der in die erste Klasse geht. In der Schule, sagt sie, begann er sich schon mehr und mehr zu langweilen und war frustriert, weil er sich nicht mehr wie im Kindergarten frei bewegen und seine Sachen machen konnte. Hier ist er glücklich, emsig, hier ist ihm nicht langweilig und nach ein paar Tagen ist er „einen Kopf größer.“

Und was kommt dabei raus, wenn Kinder ihre Sachen machen, ihr Ding finden und es weiter und weitertreiben? Die Redakteurin selbst war als achtjähriges Kind erstmals bei Mini-München dabei. Da wollte sie zuerst nichts Anderes als in der Küche „Zur Fetten Sau“ arbeiten. „Immer nur umrühren.“ In den folgenden Jahren kam für sie anderes hinzu. Sein Ding zu finden ist eben keine lineare oder einmalige Angelegenheit. Eigentlich müsste man dafür einen neuen Begriff erfinden: Die positive Traumatisierung. Oder einfach: Glück.

PS. Das ist natürlich nur ein Ausschnitt von dem, was wir gesehen haben und filmen konnten. Und auch nur ein Teil der Gedanken, die dann auf Papier im DVD-Buch stehen werden. Mehr Infos:

Wir bauen eine neue Stadt

Ein visionärer Blick auf die Zukunft der Pädagogik oder ein Beitrag über das Selbstverständliche, das alles andere als selbstverständlich ist: Drei Wochen Mini-München Mit ungefähr 1500 Kindern warten wir morgens vor den Zenith-Hallen in München Freimann darauf, reingelassen zu werden. Bis Mittag wird man fast 2500 Kinder zählen. In den nächsten drei Wochen will ich…

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Kathedralen der Zukunft!

In Hamburg soll jede dritte evangelische Kirche in den kommenden zehn Jahren geschlossen werden. Die Leute bleiben weg. Und auch die Euros aus der Kirchensteuer. Sinkende Einnahmen wegen sinkender Nachfrage. Also, sagte jetzt die Synode:  Kapazitätsabbau. So platt würde keine Geschäftsleitung von Supermärkten und Drogeriemärkten reagieren. Sie würde um Kunden werben.

Wie der „dm-drogerie markt“. Dort wurden die Abstände zwischen den Regalen nicht verkleinert, sondern vergrößert. Die Räume wurden heller, offener, einladender. Die Kunden sollen sich wohl- und willkommen fühlen. Auszubildende in den dm Märkten spielen Theater. „Abenteuer Kultur“ ist ein wichtiger Teil ihrer Ausbildung. Die Lernlinge, so heißen die Azubis dort, sollen dadurch selbstbewusster und gestaltungsfreudiger werden. Sie sollen sogar lernen Nein zu sagen. Nicht zu den Kunden. Zu den Oberen.

Mit diesen Ideen des dm Gründers Götz Werner, der heute vor allem mit seinem Plädoyer für das bedingungslose Grundeinkommen unterwegs ist, wurde dm Marktführer. Es wurden keine Filialen geschlossen. Es werden dauernd welche eröffnet.

 

Valentin

 

 

Man hört den Sound von Planwirtschaft

Wie die Kirchen sollen in Hamburg auch die Schulen schrumpfen. Solche mit überflüssigen Quadratmetern gemäß der Bemessungsnorm, die „Musterflächenprogramm“ heißt. Man hört den Sound von Planwirtschaft, die letzte verbliebene, die Bildungsplanwirtschaft. 12 Quadratmeter stehen einem Schüler zu. Flure, Fachräume, auch Turnhallen sind mit gerechnet. Bereits 34 Hamburger Schulen mussten Flächen abgeben. Jetzt trifft es weitere 17 . Die Finanzverwaltung  vermietet oder verkauft dann die Gebäude. Einzelne Klassenräume werden „abgemietet“. Das trifft jetzt auch die Grundschule „Moorflagen“. Sie ist „Schwerpunktschule für Inklusion“. Aber für Inklusion bekommt sie keinen zusätzlichen Platz. Das fordert den Widerspruch der Eltern heraus. Behinderte Kinder brauchen mehr Raum. Für die drei Autisten sollte es Platz für Auszeiten geben. Kinder mit Orthesen, brauchen Ecken mit Teppichen um zwischendurch auf dem Boden zu krabbeln. Das sollte eigentlich selbstverständlich sein. Ist es aber nicht.

 

Schulen sollten die Kathedralen unserer Zukunft werden

Als die Eltern jetzt Krach schlugen, bekamen sie zu hören, die Räume seinen bereits „abgemietet“ und dass es auch möglich sei, „mit weniger Raum den Ansprüchen der Inklusion gerecht zu werden.“ Vielleicht den Ansprüchen der Inklusion, aber nicht denen der Kinder. Immer wieder diese Camouflage in der Funktionärssprache. Sie reden zum Beispiel von den „Schwierigkeiten der Schulen im Umgang mit Heterogenität“. Nein, die Schulen haben Schwierigkeiten mit den Kindern, die alle verschieden (heterogen) sind. Aber die Heterogenität? Wer hat sie je gesehen außer in den Texten aus Behörden und anderen Ideologiefabriken.

Es geht darum dieser Sprache und dieser wirklichkeitsabgewandten Haltung eine andere Haltung und konkrete Vorstellungen entgegen zu setzen. Die Kinder zu sehen, wie sie sind und wer sie sind, und sie nicht auf Abstraktionen wie Heterogenität, Inklusion und Co. zu reduzieren. Nicht auf die Quadratmeter in „Musterflächenprogrammen“ zu starren, sondern zu überlegen wie die Räume Welt öffnen können. Wie wäre es denn, wenn es in Schulen Ateliers gäbe, in denen Erwachsene ihren Passionen nachgehen und Kinder dafür interessieren und damit anstecken? Zum Beispiel für Schriftsetzer eine ausgemusterte Druckerei? Ateliers für Künstler? Werkstätten für Handwerker? Übungsräume für Bands? Eine Küche für die Poeten der neuen Kochkompositionen? Und ähnliches. Wir brauchen Raum für die wunderbare analoge Welt, in der und mit der man so viel machen kann. Nur so lässt sich dem Fastfood aus den Simulationen, die auf den Handys landen, etwas entgegen setzen! Nichts gegen die Computer, diese Universalmaschinen, wenn wir lernen sie als Werkzeuge zu benutzen. Auch dafür brauchen wir Labore in Schulen.

Wie wäre es denn, wenn es in Schulen Ateliers gäbe?

Also viele verschiedene produktive Räume. Räume zur Produktion! Räume für viele Stoffe und für verschiedenes Material!  Für passende Techniken und Künste, um aus dem Material was zu machen. Dafür brauchen wir in Schulen noch viel mehr Räume.

Auch die arbeitslos gewordenen Kirchen könnte man dafür gut nutzen. Ihre Chance wäre so etwas zu werden wie die Kathedralen im Hochmittelalter. Darin gab es Märkte. Da wurde Karneval gefeiert. Selbst Prostitution war in diesen Räumen der großen Inklusion geduldet. Man lese das große Buch von Georg Duby, Die Zeit der Kathedralen – Kunst und Gesellschaft 980 bis 1420 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1011).

Ja, vor allem die Schulen sollten die Kathedralen unserer Zukunft werden. Orte, die verkörpern was uns gut und wichtig ist. Was auch ein bisschen größer ist als ein noch so schönes Privatleben. Die Kirchengebäude bieten dafür natürlich in vielen Fällen bessere Voraussetzungen als die kleinteilige und engherzige Schularchitektur vergangener Tage und neuerlicher Sparprogramme.

 

Max

 

Aber wer soll das bezahlen?

Machen wir nicht gleich den Staat haftbar, klagen wir ihn nicht an, dass er sollte und müsste und überhaupt. Da wird nichts draus. Bilden wir Bündnisse zur Finanzierung einiger Kathedralen. Bilden wir Bündnisse für Bildung. Und dazu gehört erst mal das building, der jeweils besondere Ort. Ein zugleich öffentlicher und doch geschützter Ort. Verschwenderisch und schön! Mit Werkstätten, Übungsräumen, Ateliers, Laboren, Räumen der Stille und zum Toben, mit Unterrichtsräumen und Lernbüros. Ein ganz und gar diesseitiger Tempel für erwachsen gewordene Erwachsene und für Kinder voller Neulust!

Übrigens: Götz Werner, der dm – Gründer, sagte auf dem letzten Kongress des Netzwerks Archiv der Zukunft in Bregenz, jedes Unternehmen, das voran kommen will, braucht Leute, die ab und zu einen Schreikrampf bekommen, wenn die Verhältnisse einzufrieren drohen. Und er fasste sein Plädoyer für das bedingungslose Grundeinkommen in diesem Satz zusammen: Damit jeder die Freiheit hat, Nein zu sagen.

 

Illustrationen: Valentin und Max