Deutschland hat unzählige UNESCO-Weltkulturerbe-Stätten, und auch unser „Immaterielles Kulturerbe“ kann sich sehen lassen. Vom „Ehrbachen Narrensingen zu Grosselfingen“ über die „Deutsche Brotkultur“ zur geheimnisvollen „Oberpfälzer Zoiglkultur“ gibt es faszinierende kulturelle Praktiken, die teilweise über Jahrhunderte tradiert wurden.
Hier gibt es den Artikel als PDF: Satire_Weltkulturerbe_#5_2023
Moooment: Einfach so weitermachen, obwohl die Welt sich weiterdreht – ist das nicht genau unser Ding im Bildungsbereich? Gut, dass die Weltkulturerbe-Kommission gerade von ihrer Expeditionsreise durch unsere Kitawelt kommt und uns Einblick in ihre Arbeit gewährt.
Die Kunst des stets leergegessenen Krippentellers in Groß-Krekelow
„Immaterielles Weltkulturerbe sind kulturelle Praktiken, die von Generation zu Generation weitergegeben werden“, definiert Dr. Franz Eisenbichler, der Vorsitzende der Weltkulturerbe-Kommission. „Erzieherinnen wie Helga Heitmann erfüllen diese Aufgabe tagtäglich!“
In einem Einspielfilm zeigt er, wie die rührige Endfünfzigerin Traditionspflege betreibt – im Rahmen der Praxisanleitung. „Wickeln immer nach Mittach! Ejal, ob jekackt oder nich“, erklärt sie den „jungen Dingern“ gerade die Basics traditioneller Krippenpädagogik, um dann Wissen abzufragen: „Und wie sorjen wir dafür, dass die Kleenen würklich uffessen?“ Selbstsicher meldet sich Giulia, 23: „Kind durch Anschieben des Armstuhls an Tischkante fixieren, Lätzchen zum Tisch spannen und den Teller draufstellen, zum Stimulieren des Ess-Reflexes mit dem Löffel hartnäckig an den Lippen schaben.“ Voller Zuversicht hofft Dr. Eisenbichler, „dass auch kommende Generationen das Ritual der Zwangsfütterung pflegen“.
Das Ritual „Immerwährender Morgenkreis“ in Runneroth
„Die schönsten kulturelle Praktiken“, sagt Dr. Eisenbichler, „werden gelebt, ohne ständig die Sinnfrage zu stellen.“ Insofern ist der „Immerwährende Morgenkreis zu Runneroth“ ein klarer Weltkulturerbe-Fall, erklärt er und legt die Schrittfolge dieses über Jahrzehnte entstandenen Rituals dar: „Auftakt ist das vorsichtige Abreißen des Kalenderblattes durch das tagesaktuelle Kalenderabreiß-Kind. Dann folgt die langanhaltende Überlegung, wer heute das Datum-Vorlese-Kind ist. Nach der Verlesung und der mit Betonung wiederholten Datumszahl durch die Erzieherin folgt das traditionelle Abrutschen erster Kinder von den sogenannten Morgenkreiskissen, begleitet vom seit Generationen praktizierten Ausschluss der sogenannten Zappelfritzen, wonach das zum Auswählen des täglichen Liedes berechtigte Kind bestimmt wird.“ Auch wenn schon das Zuhören offenbar langweile, sagt Eisenbichler nach einem Blick in die Runde, sei der „Immerwährende Morgenkreis“ gerade wegen seiner „speziellen Zeitlupenhaftigkeit“ schützenswert.
Der alljährliche „Erboste Elternaufstand in der Elefantentränke“
„Seit Jahrzehnte gelebt, ist der ‚Erboste Elternaufstand im Kinderladen Elefantentränke ‘ ein unverzichtbares Ritual im Jahreskreis vieler Familien aus dem Hipsterviertel Südend-Nord“, würdigt die Weltkulturerbe-Kommission eine weitere kulturelle Praxis. Die meist detailliert eingehaltene szenische Abfolge dieses beeindruckenden Spektakels überzeugte die Jury. Am Anfang obliegt es dem sogenannten „Neuen Elternpaar“, mit dem Ausruf „Warum gibt es genau in dieser Kita kein Kinder–Chi Gong!“ einen sogenannten „Ewigen Elternabend“ in Gang zu setzen, der mit der traditionellen „WhatsApp-Gruppenschlacht“ zum Thema „Was verkehrt läuft bei den Elefanten“ fortgeführt wird. Nach dem „Entlassungsgesuch des gesamten Kita-Teams“ und der „Anrufung von Hubert, der Kontakt zur Lokalpresse hat“, folgt stets der „Krisengipfel auf dem Clownsspielplatz“, bis der Aufstand mit dem Ausruf „Dann war das ja nur ein Missverständnis!“ feierlich beendet wird.
Die Herstellung und Bedeutung der Bügelperlenherzen
„Allein schon des Geruchs zerschmolzener Plastik wegen“, schwärmt Dr. Eisenbichler, „gebührt der nordwesteuropäischen Perlenbügeltradition Weltkulturerbe-Status.“ Darüber hinaus wohne der Bügelperle eine tiefgreifende Symbolik inne, die das Erziehungsverständnis des deutschen Kindergartens ausdrücke: „Die Perlen, das sind quasi die Kinder, so vielfältig, bunt und mit Achtsamkeit zu führen. Für den geschützten Rahmen, den der Kindergarten bietet, steht die Steckplatte: Jedes Kind hat seinen Platz! Und das Symbol für die Erzieherin ist natürlich das dampfend-heiße Bügeleisen, das alle miteinander verschmilzt.“
Die traditionelle Technik der Beobachtung
„Immaterielles Weltkulturerbe bedeutet, Dingen treu zu bleiben, auch wenn sich Zeiten ändern“, erklärt Eisenbichler. Im Kindergarten „Asselhöhle“ habe sich auf diese Weise ein fast verschwundenes Ritual erhalten. Auf zum Teil vor Jahrzehnten kopierten Formularbögen tragen die dortigen Fachkräfte in händischer Tradition Stichworte und kurze Sätze ein. Hintergrund ist wohl die uralte Idee, sogenannte „Beobachtungen“ des „Tuns der Kinder“ durch Aufschreiben quasi zu verinnerlichen. Besonders im Zuge des urtümlichen Rituals der „Förderplanerstellung“ kommt es zum Anfertigen gewaltiger Textmassen, die nach altem Brauch zwar stets gegengezeichnet und abgeheftet werden müssen, dabei aber von niemand gelesen werden dürfen.
Die Unbeirrtheit, mit der die Fachkräfte diesen Vorgang absolvieren, ohne nach dem Nutzen zu fragen, beeindruckte die Kommission. Doch Dr. Eisenbichler nimmt in dieser traditionellen Technik der Beobachtung auch hochmoderne Aspekte von well beeing und Nachhaltigkeit wahr. Er erklärt: „Die Vertiefung in die offensichtlich sinnfreie Betätigung hat eine buddhistische Wirkung. Und die umfangreichen Aktenordner, in die die Bögen geheftet werden, tragen zum gesunden Raumklima bei, indem sie riesige Staubmengen binden.“
Das jährliche St.-Martin-Ersatzritual
„Das Immaterielle Weltkulturerbe Deutscher Kindergarten endet nicht an der Kitatür“, weiß Eisenbichler. „Unzählige Rituale gehören dazu, die rund um dieses uralte Erziehungshandwerk gelebt werden.“ So sei etwa die alljährliche „Hat-etwa-jemand-den-St.-Martin-Laternenlauf-als-Lichterfest-tituliert?“-Diskussion in deutschen Medien und bei X, vormals Twitter, ein heißer Aspirant auf den Weltkulturerbe-Status.
Die traditionelle Praxis der Gymnasiallehrerverehrung
Schließlich gelte es, auch den Humus unter Schutz zu stellen, auf dem das „Weltkulturerbe Kindergarten“ gedeiht. „Und da“, berichtet der Kommissionsvorsitzende, „fiel unser Augenmerk sofort auf kulturelle Praktiken, die noch dazu Ausdruck uralter, aber lebendiger Denkweisen sind. Deshalb empfehlen wir Weltkulturerbe-Schutzstatus für die ‚Traditionelle tarifliche Schlechterstellung des Elementarbereichs ‘. Dahinter steht immerhin der mittelalterliche Denkansatz, jüngere Kinder sind quasi weniger wert als ältere, filigran verwoben mit der Geringschätzung berufstätiger Frauen im Biedermeier.“ Gefragt, ob der Erzieherinnen-Tarif jetzt also Weltkulturerbe sei, schüttelt Eisenbichler den Kopf. „Wichtig für den Status ist, dass die kulturelle Praxis bedroht sein muss. Doch die Gefahr, dass jemand am deutschen Kindertagesstätten-Tarifsystem rüttelt, besteht nicht.“
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Ehe der Kommissionsvorsitzende sich verabschiedet, möchte noch jemand wissen, was das Ziel der nächsten Expeditionsreise sei. Eisenbichler schmunzelt: „Das wird eine große Sache! Wir sind auf einen immateriellen Kulturschatz gestoßen, in dem sich Rituale und ihre gedanklichen Grundlagen seit Jahrhunderten fast unversehrt erhalten haben.“ Nach einer bedeutungsvollen Pause beugt er sich vor und flüstert verschwörerisch: „Es geht um nicht weniger als das deutsche dreigliedrige Schulsystem.“
Foto: Westend61/Photocase