Trauriger Tag
Ich bin ein Tiger im Regen
Wasser scheitelt mir das Fell
Tropfen tropfen in die Augen
Ich schlurfe langsam, schleudre die Pfoten
die Friedrichsstraße entlang
und bin im Regen abgebrannt
Ich hau mich durch Autos bei Rot
geh ins Café um Magenbitter
freß die Kapelle und schaukle fort
Ich brülle am Alex den Regen scharf
das Hochhaus wird naß, verliert seinen Gürtel
(ich knurre: man tut was man kann)
Aber es regnet den siebten Tag
Da bin ich bös bis in die Wimpern
Ich fauche mir die Straßen leer
und setz mich unter ehrliche Möwen
Die sehen all nach links in die Spree
Und wenn ich gewaltiger Tiger heule
verstehn sie: ich meine es müßte hier
noch andere Tiger geben
Kein Heft ohne Gedicht.
Aus: Sarah Kirsch: Gedichte. Bibliothek des 20. Jahrhunderts. Herausgegeben von Walter Jens und Marcel Reich-Ranicki. S. 20
Ausgesucht hat es Marie Sander.
Teaserfoto: Bratscher / photocase.de