Gedicht: Joachim Ringelnatz

AN M.

 

Der du meine Wege mit mir gehst,

Jede Laune meiner Wimper spürst,

Meine Schlechtigkeiten duldest und verstehst —.

Weißt du wohl, wie sehr du mich oft rührst?

 

Wenn ich tot bin, darfst du gar nicht trauern.

Meine Liebe wird mich überdauern

Und in fremden Kleidern dir begegnen

Und dich segnen.

 

Leben, lache gut!

Mach deine Sache gut!

 

 

Foto: Alexander Grey/unsplash

Gedicht: Max Kruse

 

HERR SCHNECK

 

Herr Schneck
(mit seinem Versteck)

kommt so rasch,

dass es braust,

um die Ecke gesaust.

Da schreit er laut:

Halt!!!

Fast

wären wir

zusammengeknallt!

Herr!!!

Sehen Sie nicht,

dass ich

die Vorkriech habe?

Sie sind vielleicht

ein Unglücksrabe!

Beinahe hätte es

einen Unfall gegeben,

mir verdanken Sie,

dass Sie noch leben!

Sie haben wohl

keinen Kriecherschein?

 

Nein!

brummt der Stein.

 

 

Foto: nevio3 / photocase.de

Gedicht: Richard Dehmel

Wahrspruch

Ob wir verdienen, daß wir glücklich sind?

Was zweifelst du! Verdienst du gut zu sein?

Durch Zweifel wird das wahrste Wesen Schein.

Glück ist des Menschen Tugend, Kind;

wer glücklich ist, verdient ’s zu sein.

 

 

Foto: Jutta Schnecke/photocase

Gedicht: Peter Huchel

Über den Jägern jagt der größre Hund

Wenn ich mit den Beuteträgern

ziehe durch den dunklen Grund,

droben über allen Jägern

jagt als Wind der größre Hund.

 

Denn im Rücken spür ich einen,

der in meinem Jagen jagt,

und mein Herzschlag ist dem seinen

wie ein Knecht nur, der sich plagt.

 

Wie ein Knecht nur, der die Beute

sich zu schwerer Bürde häuft,

der im Winde hört die Meute,

die sein Laufen überläuft.

 

Zieh ich mit den Beuteträgern

dunkel durch den alten Grund,

droben über allen Jägern

hungrig jagt der größre Hund.

 

Foto: David-W- / photocase.de

Gedicht: Gerhard Schöne

Lass uns eine Welt erträumen

 

Lass uns eine Welt erträumen, die den Krieg nicht kennt,

wo man Menschen aller Länder seine Freunde nennt,

wo man alles Brot der Erde teilt mit jedem Kind,

wo die letzten Diktatoren Zirkusreiter sind.

 

Lass uns eine Welt erträumen, wo man singt und lacht,

wo die Traurigkeit der andern selbst uns traurig macht,

wo man, trotz der fremden Sprache, sich so gut versteht,

dass man alle schweren Wege miteinander geht.

 

Lass uns eine Welt erträumen, wo man unentwegt

Pflanzen, Tiere, Luft und Wasser wie einen Garten pflegt,

wo man um die ganze Erde Liebesbriefe schreibt,

und dann lass uns jetzt beginnen, dass es kein Traum bleibt.

 

 

Gedicht: kallejipp / photocase.de

Gedicht: Sarah Kirsch

 

Wie Ölbäume schimmern die Weiden

Blaugrün und zitternd, die Pappeln

Ahmen Zypressen nach (dunkler

Dunkler! Vertieft eure Schatten!). Der Wind

Übt Fall und Flug seines Bruders Mistral

 

Foto: Kalen Emsley/unsplash

Gedicht: Arno Holz

 

 

Aus Phantasus

Sieben Billionen Jahre vor meiner Geburt

war ich

eine Schwertlilie.

Meine suchenden Wurzeln

saugten

sich

um einen Stern.

Aus seinen sich wölbenden Wassern,

traumblau

in

neue,

kreisende Weltringe,

wuchs,

stieg, stieß

zerströmte, versprühte sich – meine dunkle Riesenblüte!

 

Foto: Erik Brolin, unsplash

Gedicht: Robert Gernhardt

Kurze Rede zum vermeintlichen Ende einer Fliege

Tut mir leid, meine Liebe, du wirst jetzt gleich hin sein.

Wir sind hier schließlich nicht bei Buddhistens.

Bei Buddhistens, das ist ein Kontinent weiter.

In Tibet, da lässt man sich so etwas bieten,

die würden dich, Fliege, die ganze Nacht

rumsummen lassen nach Herzenslust.

Bei Buddhistens ist das normal, die summen

ja selber rund um die Uhr ihre Oms,

ihre O mani padme hums, diese Priester.

Und wo andauernd irgendwo rumgesummt wird,

da fällt ein Gesumme mehr oder weniger

gar nicht groß auf. Doch wir sind hier bei Christens.

Da wird nicht gesummt. Da wird nachts geschlafen.

Daran hat sich auch eine Fliege zu halten.

Glaub bloß nicht, ich hätte was gegen euch Fliegen.

Normal tu ich keiner etwas zuleide.

Doch ich will jetzt schlafen, und du willst jetzt summen.

Ich hab die Patsche, und du bist der Brummer,

du oder ich, tut mir leid, meine Liebe:

Da!

Bsssss

Scheiße!

 

Foto: Erik Karits, unsplash

Versteh mich nicht so schnell

Gedichte lesen mit Kindern

Gedichte sind für alle da! Wir können sie miteinander teilen, uns im Gedicht verständigen. Nur sollten wir uns leise nähern. Respektvoll, aber ohne Scheu.

Klang und Rhythmus laden ein zu empfinden, was gesagt wird, wenn der Kopf noch zögert, es zu denken. Wenn wir Kinder in ihrer Begegnung mit Gedichten nicht bevormunden, wenn wir ihrem Nachdenken zuhören, werden wir empfänglich. Wenn sie uns zeigen, was sie berührt, öffnen sich uns Gedichte, die wir mit erwachsenem Wissen so nicht verstünden.

Marie Sander, die Gedichte für „wamiki“ auswählt, empfiehlt das Buch der ehemaligen Grundschullehrerin, findet, dass schon der Titel überzeugt, und stimmt Ute Andresen zu, die berichtet, warum Kinder sich Rilkes Gedicht „Schlussstück“ ausgesucht hatten: „Unsere Kinder stellen wir uns gerne glücklich vor, glücklich spielend im warmen Sommersonnenlicht. Dass sie auch frösteln und erstarren in Kälte, Leid und Angst, das möchten wir leugnen. Wenn sie Gedichte auswählen, die auch und bevorzugt die düsteren, schweren Seiten des Lebens spiegeln, zeigen sie uns, dass sie diese Verleugnungen nicht wollen oder nicht brauchen, auch wenn sie im Alltag uns zuliebe mitmachen.“

 

Rainer Maria Rilke — Schlussstück

 

Der Tod ist groß.

Wir sind die seinen

lachenden Munds.

Wenn wir uns

mitten im Leben meinen,

wagt er zu weinen,

mitten in uns.

 

Gedicht: Ingeborg Bachmann

WAHRLICH
Für Anna Achmatowa

Wem es ein Wort nie verschlagen hat,

und ich sage es euch,

wer bloß sich zu helfen weiß

und mit den Worten –

 

dem ist nicht zu helfen.

Über den kurzen Weg nicht

und nicht über den langen.

 

Einen einzigen Satz haltbar zu machen,

auszuhalten in dem Bimbam von Worten.

 

Es schreibt diesen Satz keiner,

der nicht unterschreibt.

 

Foto:kallejipp/photocase.de

Gedicht: Rainer Maria Rilke

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Ach, wehe, meine Mutter reißt mich ein.

Da hab ich Stein um Stein zu mir gelegt

und stand schon wie ein kleines Haus,

um das sich groß der Tag bewegt,

sogar allein. Nun kommt die Mutter,

kommt und reißt mich ein.

 

Sie reißt mich ein, indem sie
kommt und schaut,

sie sieht es nicht, dass einer baut –

sie geht mir mitten durch die Wand
von Stein.

Ach wehe, meine Mutter reißt mich ein.

 

Die Vögel fliegen leichter um mich her,

die fremden Hunde wissen: das ist d e r –

nur einzig meine Mutter kennt es nicht,

mein langsam mehr gewordenes Gesicht.

Von ihr zu mir war nie ein warmer Wind.

 

Sie lebt nicht dorten, wo die Lüfte sind,

sie liegt in einem hohen Herzverschlag

und Christus kommt und wäscht sie
jeden Tag.

 

Foto: as_seen/photocase.de