Hier gibts den Artikel als PDF: Wortlauber+Gedicht_#3_2021
Irgendwann reicht es, ist es genug. Man hat die Schnauze gestrichen voll und die Faxen dicke.
Es kommt der Moment, das Feld zu räumen und sich vom Acker zu machen, das Weite zu suchen und sich aus dem Staub zu machen, nicht ohne dabei die Kurve zu kratzen. Höchste Zeit, sich abzuseilen, abzuschwirren, ne Mücke, ne Biege oder die Fliege zu machen, sich zu verpissen oder Leine zu ziehen.
Unsere Sprache ist selten so kreativ wie bei dem Versuch, den Moment des Abhauens in deutliche Worte zu fassen. Das liegt ganz offensichtlich daran, dass das Ausbrechen aus dem Alltag mit seinen Annehmlichkeiten, aber auch mit den Unannehmlichkeiten und die ungewisse Zukunft eins der größten Lebensthemen ist. Auch in der Welt der Geschichten und Mythen geht es immer wieder um die große Frage: Welche Gründe gibt es, alles hinter sich zu lassen?
Flucht vor ethnischer Diskriminierung und ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen
Wenn man schlecht behandelt wird, sollte man fliehen: Das zweite Buch Mose von Thora und Bibel, genannt Exodus, erzählt eine Geschichte, die nach wie vor aktuell bleibt: Die Ägypter lassen die minderprivilegierten Israeliten für große Bauten massenweise Lehmziegel herstellen und versuchen gleichzeitig, die Geburten von Jungen zu kontrollieren, damit sie nicht zu zahlreich werden. Da verhandelt Moses im Auftrag Gottes mit dem Pharao, um seine Leute zu retten: „Let my people go!“ Erst nach den von Gott herbeigeführten zehn Plagen – bei der letzten wird immerhin jeder erstgeborene Ägypter getötet – ist der Pharao nicht nur bereit, die Israeliten gehen zu lassen, sondern vertreibt sie sogar: „Macht euch auf und zieht weg aus meinem Volk.“ Auf geht es ins Land, in dem Milch und Honig fließen, nicht ohne zuvor die zehn Gebote aufzustellen, eine Art eigene Gesetzgebung.
Flucht vor Altersdiskriminierung und Rentenbetrug
Alt und abgearbeitet sind sie, aber statt der Rente wartet der Tod auf sie. Zusammen träumen sie von einer Karriere als städtische Musikanten im fernen Bremen. Doch daraus wird nichts, vielleicht auch wegen mangelnden Talents. Deshalb besetzen die vier eine bisher von Kleinkriminellen geführte Unterkunft und beschließen: „Das ist unser Wirtshaus!“
Viele Märchenforscher sehen in „Die Bremer Stadtmusikanten“ den Widerschein sozialer Ungerechtigkeit und Ungleichheit in ländlicher Leibeigenschaft und den Traum von städtischer Freiheit. Viele Märchen erzählen von Menschen, die ausreißen – aus unterschiedlichsten Gründen. Schneewittchen flieht vor der bösen Stiefmutter und findet bei Zwergen Asyl. Brüderchen und Schwesterchen fliehen vor häuslicher Gewalt. Das tapfere Schneiderlein verlässt das Haus, weil es, nachdem es sieben Fliegen erschlagen hatte, meint, „die Werkstatt sei zu klein für seine Tapferkeit“. Und „einer, der auszog, das Fürchten zu lernen“, haut ab, weil er als Nesthäkchen nichts lernt und erst in der Fremde zu Reife gelangt.
Loslösung aus der Mutterbindung
Erst in der Fremde wird man zum Manne: Mit diesem Vorsatz macht sich um 1860 ein junger Mensch auf, die Welt zu erobern – und zwar im Lied „Hänschen und seine Mutter“ von Franz Wiedemann, erschienen in der Sammlung „Samenkörner für Kinderherzen“. In heutigem Dumm-Sprech „ging der Song sofort viral“, als „Hänschen Klein“. Aber dabei veränderten sich Text und Sinn. Ursprünglich gab es drei Strophen, und die zweite schildert die Länge von Hänschens Aufbruch: „Sieben Jahre, trüb und klar, Hänschen in der Fremde war, bis das Kind sich besinnt“ und zurückkehrt, aufgrund gewonnener Reife aber von niemanden erkannt wird, nur von der Mutti. Ob der „Samen“ dieses betulichen Liedes als zu gefährlich galt? Jedenfalls verpasste der Volksmund dem Liedtext bald die heutige Kürze: Mutter „weinet sehr“. Sofort „besinnt sich das Kind“ und beendet die Reise, bevor sie richtig begonnen hat. So ragt aus einem „Coming of age“-Song ein biedermeierlich erhobener Zeigefinger: Bloß nicht abhauen von daheim!
Aus den Zwängen der Zivilisation in die Natur fliehen
Grau, steinern und gemein ist die Welt.
Spätestens seit Joseph von Eichendorffs „Aus dem Leben eines Taugenichts“ verbreitet sich ein Grund zum Abhauen, der es sogar international zum deutschen Lehnwort gebracht hat: Die „Wanderlust“, erklärt als „a strong desire to wander or travel and explore the world“. Sie ist Motiv unzähliger Lieder, nicht nur in Eichendorffs „O Täler weit, o Höhen“. Verächtlich wird vom Bergesgipfel auf die Zivilisation zurückgeblickt: „Da draußen, stets betrogen, saust die geschäft’ge Welt“.
Hundert Jahre später ist im Jugendbewegungs-Lied „Aus grauer Städte Mauern“ der Wald „unsere Liebe, der Himmel unser Zelt“. In einer Hymne der alten Sozialdemokratie wird die Natur nach „einer Woche Häuserquadern“ gar zur Verheißung einer besseren Gesellschaftsordnung: „Wann wir schreiten Seit an Seit, und die alten Lieder singen, und die Wälder widerklingen, fühlen wir, es muss gelingen: Mit uns zieht die neue Zeit!“ Leider wurde der Wunsch, aus grauen Städten abzuhauen, auf ungute Weise später wahr: In die Welt zieht man als Soldat, Zivilisation und graue Städte versinken im Bombenhagel.
In Gedanken abhauen, obwohl es keine Gründe mehr gibt
Während es im Osten gute Gründe für die Republikflucht gab, fehlten sie im Westen weitgehend: Überall anderswo ist man ärmer und demokratisch schlechter dran. Was tun, wenn die Lust, einfach abhauen zu wollen, trotzdem lockt? Man sublimiert dieses Gefühl, am besten im Schlager. Dort ist die Fremde Verlockung pur, sei es „Auf der Straße nach San Fernando“, „Irgendwo in Mexiko“, auf „Santa Maria“ oder gar in „Moskau, Moskau“. Überall locken Anitas, und „La Paloma Blanca“ verspricht besseres Wetter und unerforschte Weiten. Die Spießigkeit dieser Vorstellungen bringt Udo Jürgens in „Ich war noch niemals in New York“ auf den Punkt, wenn er den besten Grund ever fürs Abhauen nennt: Er „ging nie durch San Francisco in zerrissenen Jeans“. Wahrscheinlich verzichtete der Protagonist auf dieses Wagnis dann doch.
Heute scheint die Unterhaltungsindustrie für das Abhauen zuständig zu sein – und der Sex als kleine Flucht. Lassen wir es Helene Fischer in atemlose Worte fassen: „Alles, was ich will, ist da. Große Freiheit pur, ganz nah. Nein, wir wollen hier nicht weg. Alles ist perfekt…“
Foto: Bady Abbas/unsplash.org