Baden-Württemberg: Wir stehen für Veränderung

Verband Kita-Fachkräfte Baden-Württemberg

Hier gibts den Artikel als PDF: PraxisPower_Landesverbaende_#3_2021

Ein Interview mit Anja Braekow – erste Vorsitzende im Landesverband Baden-Württemberg

1. Warum habt ihr einen Kitafachverband gegründet? was waren die Auslöser?

Wir reden immer gern davon, dass Kinder in den Kitas zu Gestaltern ihrer eigenen Lebenswelt werden sollen. Aber wir Erzieher*innen und Pädagog*innen arbeiten unter Arbeitsumständen, wo man nachmittags schon gar nicht mehr weiß, was man vormittags alles noch tun wollte?

Wie passt das zusammen? Gar nicht! Du kriegst Tag für Tag so einen Riesenberg Arbeit und du sollst dann schauen, dass du, für die Kinder, die die Zukunft unseres Landes sind, was Schönes draus machst. Das schaffst du nicht. Egal wie du dich mühst. Und die typischen Erzieher*innen-Reaktionen kennen wir doch alle: Wir jammern und versuchen dennoch, alles hinzubekommen. Irgendwie wird’s schon gehen. Augen zu und durch! Immer so weiter? Jahraus, jahrein? Nein danke! Wir hatten von der Gründung in Rheinland Pfalz gehört, um Weihnachten herum starteten wir eine Facebookgruppe zwecks Austausch und Anfang Januar gründeten wir unseren Berufsverband, mitten im baden-württembergischen Wahlkampf. Gestartet sind wir mit zehn Mitgliedern, heute – fünf Monate später – sind wir bereits 110. Wir haben mit Politiker*innen gesprochen und dabei beobachtet: Vielen ist gar nicht bewusst, unter welchen Umständen wir arbeiten. Und diese Umstände müssen wir sichtbar machen und verändern! Denn wir stehen für Veränderung!

2. Welche Themen liegen euch am Herzen? Was wollt ihr wie verändern?

Wir haben uns vier Ziele gesetzt.

Wir wollen erstens die Arbeitsbedingungen verbessern; zweitens den Personalschlüssel wieder an wissenschaftlichen Standards orientieren und vor allem einhalten; drittens die Ausbildung einheitlicher und praxisnäher gestalten und viertens Träger, Leitung, Team und Eltern bewegen, tatsächlich und verpflichtend zusammenzuarbeiten.

Wir haben in Baden-Württemberg im Vergleich mit anderen Bundesländern einen der besten Personalschlüssel – allerdings nur auf dem Papier! Dort nützt er uns aber nichts, wenn die Fachkräfte fehlen. Durch den Personalmangel bleibst du immer unter diesem Personalschlüssel. Wenn du großes Glück hast, arbeitest du mit dem Mindestpersonalschlüssel. Und der wird auch noch unterboten. Letztes Jahr hatte der Kommunalverband für Jugend und Soziales den Trägern coronabedingt sogar erlaubt, den Personalschlüssel zu unterschreiten, das geht auf Dauer nicht. Wir sind jetzt wieder im Regelbetrieb, und wir hören unsere Politiker*innen mit Stolz erfüllt sagen: „Ja, aber wir in Baden- Württemberg, wir haben dafür gesorgt, dass wir den besten Personalschlüssel haben.“ Wir antworten: „Ja, dann sorgt auch dafür, dass genug Personal kommt, dass wir mal so arbeiten können.“ Das wäre doch mal eine Maßnahme! Dabei werden in Baden-Württemberg sehr viele Fachkräfte ausgebildet. Nur: Die meisten angehenden Fachkräfte verabschieden sich nach spätestens drei Jahren aus dem Beruf. Wenn sie nicht schon in der Ausbildung vorher aussteigen. Es gibt ein Wirrwarr an Ausbildungsgängen und Modellen, das dringend entknäult werden muss. PIA – die vergütete Ausbildung könnte – weiterentwickelt – eine der Grundlagen für eine zukünftige praxisnahe anschlussfähige und transparente Ausbildung sein. Wir fordern: Die Praxis- Anleiter*innen müssen wie in anderen Berufen auch für diese zusätzliche Arbeit bezahlt werden und die Zeit dafür haben. Jetzt machen wir diese verantwortungsvolle Ausbildungsarbeit nebenbei. Und wenn du das unterm Tag nicht hinkriegst, was machst du dann? Genau, du mailst abends noch mit deiner Praktikantin hin und her, sie schickt dir die Ausarbeitung, die du dann neben dem Abendbrotmachen etc. liest. Das geht auf Dauer nicht! Jeder Mensch muss auch mal abschalten können und dürfen. Du kannst aber auch die jungen Leute nicht allein lassen. Du bist ja froh, dass sie in der Ausbildung sind. Und so strampeln wir uns in vielen kleinen Hamsterrädern ab. Bis zur Erschöpfung. Und darüber hinaus.

Wir wollen all diese Hamsterräder Schritt für Schritt stoppen. Deshalb haben wir Arbeitsgruppen gebildet, Kontakte geknüpft und überlegen: Welche Arbeitsbedingungen brauchen wir? Wie sieht ein alltagstauglicher guter Personalschlüssel für uns aus? Welche Möglichkeiten gibt es, die Ausbildung einheitlicher und praxisnäher zu gestalten?

Wir haben Kontakt auch zum Ministerium aufgenommen, denn wir möchten an der Überarbeitung des Bildungsplanes mitarbeiten, schließlich ist er die Basis für unsere Arbeit, den Teil für die Krippen gibt es noch gar nicht in Baden-Württemberg. Wir treffen uns mit anderen Verbänden: zum Beispiel mit Verdi, mit der GEW, um auszuloten, wo und wie wir zusammenarbeiten können. Regelmäßig verfassen wir Monatsberichte, nachzulesen auf der Homepage.

Für uns gilt: Gemeinsam sind wir stark. Es gibt so viele tolle neue junge Leute, die starten motiviert nach einem Studium in der Kita und rennen anschließend gegen Wände beim Gemeinderat: „Das brauchen wir nicht.“

„Und das schon gar nicht!“ Und überhaupt: „Was soll das nun schon wieder sein?“ Wir setzen hier auf Kommunikation im Austausch und untereinander. Wir stärken einander, denn wir stehen für Veränderung! In Baden-Württemberg gibt es sehr große Unterschiede zwischen den Trägern: Träger, die auf Zukunft setzen, aber auch sehr viele Träger aus Schon-Immer-So-Gewesen. Die wissen leider immer noch nicht, was in der Kita vor sich geht und was dringend gebraucht wird … Andere Träger, die eigentlich qualitativ gut aufgestellt sind, überraschen uns damit, dass sie bei ihnen angestellte Verbandsmitglieder einbestellen und ihnen am liebsten fix Maulsperren anlegen möchten. „Du erzählst aber nix!“ Da gilt es aufzuschlüsseln: Wo fangen Datenschutz, Schweigepflicht etc. an und wo hören sie definitiv auf? Wir setzen auf Dialog nicht auf Monolog mit Maulsperren.

Unser viertes Ziel ist (auch deshalb) das Allerallerwichtigste. Wir müssen anfangen, zusammenzuarbeiten, diese ewige Wurschtelei hinter uns lassen: Die Erzieher*innen wurschteln vor sich hin, die Leitungen, die Träger, die Fachberatung, die Eltern. Jede/r wurschtelt vor sich hin. Keine/r weiß so richtig Bescheid und jede/r wieder nur ein bisschen. Und wirklich mal herzugehen und zu sagen: „Lasst uns doch mal alle an einen Tisch setzen, wir haben doch das gleiche Ziel: Wir wollen eine richtig tolle, schöne Kita-Zeit mit unseren Kindern gestalten.“ Ja, da kommen wir gar nicht dazu. Warum eigentlich nicht? Das müssen wir uns anschauen und verändern!

Seid ihr dabei?

 

Alex Bartsch, Erzieherin und dritte Vorsitzende
Angela Becker, Erzieherin und zweite Vorsitzende
Anja Braekow, Erzieherin, Kindergartenfachwirtin, Kitagründerin und Geschäfts­führerin, erste Vorsitzende im Landesverband
Martina Zekan; Erzieherin und Kassiererin
Bärbel Baumgärtner, Erzieherin und Waldpädagogin, zuständig für den Newsletter
Heide Pöschel, Erzieherin und Schriftführerin
Corinna Mühleis, Fachberatung Inklusion, Erzieherin, zuständig für die Öffentlichkeits­arbeit

 

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Anja Braekow

 

Womit hast du 2021 aufgehört und womit angefangen?

Ich bin aus einem Hamsterrad ausgestiegen – schon vor zehn Jahren als ich meine eigene Kita gegründet habe. Ich wollte nicht mehr so weiterarbeiten: immer mehr Aufgaben, immer weniger Zeit. Die eigentliche Arbeit mit den Kindern geriet ins Hintertreffen. Jetzt haben wir uns die eigene Kita geschaffen, wir können uns ent­wickeln, ausprobieren, wie es anders gehen kann. Das ist aufregend, anstrengend und wunderbar! Ich bin stolz auf mein Team, die Eltern und die Kinder…

Abhauen oder bleiben?

Bleiben und kämpfen. Mich als Träger zu etablieren war nicht einfach. Ich erinnere mich noch, wie ich in den Gemeinderat voller Elan hineinmarschiert bin, unterm Arm meinen Geschäftsplan. Und die haben mich angeschaut wie: „Was will sie denn hier? Nun lass sie mal wieder schön nach Hause gehen!“ Beim zweiten Mal bin ich dann wiedergekommen – gemeinsam mit den Kindern. Oh. Das kam gar nicht gut an. Aber sie haben es sich gemerkt. Auch zehn Jahre später krieg ich noch gesagt: „Das war aber keine gute Idee. Damals mit den Kindern im Gemeinderat.“ Meine Erfahrung daraus für heute ist: Wir müssen uns immer wieder zeigen, nicht zurückziehen, sondern aufstehen und unsere eigenen Lösungsvorschläge einbringen. Unverdrossen und ungescheut. Leute, es geht!

Bitte ergänze den Satz: Wenn ich die Bundes­familienministerin wäre, dann …

würde ich als erstes endlich lernen, zuzuhören!

Bitte ergänze den Satz: Es ist an der Zeit, …

aus dem Jammern ins Tun zu kommen. Ich arbeite viel und habe das Glück, dass das meine Familie schon weiß. Es macht aber auch echt Spaß, neue tolle Leute mit Ideen und Veränderungswillen kennenzulernen, einander zu unterstützen, respektvoll miteinander umzugehen. Es ist so viel in Bewegung! Das Leben ist schön!

 

 

 

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