Haro Senft

Die Filme von Haro Senft sind für Kinder gemacht. Erwachsene lieben sie, weil sie den Abstieg in die verschüttete eigene Kindheit erlauben, in Träume und Erinnerungen.

1970 löste Ivan Illich mit seinem Buch „Deschooling Society“ (1) weltweit Diskussionen aus. Er forderte die Abschaffung von Schulen zugunsten freierer Formen des Lernens. Eine seiner zentralen Aussagen lautet, dass das intensivste Lernen nicht durch Unterweisung, sondern durch die ungehinderte Teilhabe an relevanter Umgebung geschehe. „Relevante Umgebung“ meint eine Realität, die herausfordert, neugierig macht und die Tür zu unbekanntem Gelände öffnet.

Klassenzimmer und Seminarräume gehören eher nicht dazu. Jahrzehnte vor Ivan Illichs Veröffentlichung hatte Siegfried Bernfeld in „Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung“ über die Lächerlichkeit pädagogischen Bemühens geschrieben, das am falschen Ort, abseits vom eigentlichen Geschehen, stattfände: Pädagogen würden Kinder mit dem Ticket der Unmündigkeit versehen, sie vom Leben draußen absondern und – selbst Opfer des langen Marschs durch die pädagogischen Institutionen – versuchen, sie auf eben dieses Leben vorzubereiten. (2) Ein Paradox.

 

Hinter dem Zaun, 1974
Hinter dem Zaun, 1974

 

WENN MAN MAUERN EINREISST, WIRD SICHT FREI

In der neueren Geschichte der Pädagogik ist dieser Vermauerung von Kindheit immer wieder Paroli geboten worden, beispielsweise mit der Progressive Education eines John Dewey, der Bewegung der Community Schools oder im Think Tank der UNESCO „Learning Without Frontiers“, wobei mit den Grenzen die Mauern pädagogischer Institutionen gemeint sind. Wenn man Mauern einreißt, so Gottfried Keller im „Grünen Heinrich“, wird die Sicht frei. Die UNESCO nennt das „Open Learning Society“, in der das Lernen in Realsituationen einen hohen Stellenwert bekommt. In der Bundesrepublik wurde der Situationsansatz seit den 1970er Jahren in Kindergärten erprobt – zunächst in neun, später in 14 Bundesländern. Er entstand unter Mitwirkung vieler tausend Erzieherinnen.

Das ebenfalls in den 1970er Jahren entwickelte „Curriculum Soziales Lernen“ nahm seinen Ausgang nicht mehr von Fächern, sondern von Schlüsselsituationen der Kinder. Mit viel O-Ton von Kindern, Erzieherinnen, Eltern, Nachbarn und anderen Interessierten entstanden 28 „Didaktische Einheiten“ mit Titeln wie „Kinder im Krankenhaus“, „Kinder und alte Leute“, „Allein zu Hause“, „Junge und Mädchen“, „Wochenende“, „Behinderte Kinder“, „Gastarbeiter“ oder „Was meine Eltern tagsüber tun“. Das waren und sind wichtige Situationen von Kindern, und es gab und gibt viele Einfälle von Kindern und Erzieherinnen, wie man mit solchen Situationen umgehen kann.

Das inzwischen legendäre ZDF-Kinderprogramm „Rappelkiste“ adaptierte den Situationsansatz für das Medium Fernsehen und wurde dafür mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet.

In den 1990er Jahren bezogen Erzieherinnen in den fünf neuen Bundesländern und im Osten Berlins den Situationsansatz auf ihre Bedingungen, und das Konzept wurde einer externen empirischen Evaluation unterzogen. Die Ergebnisse zeigten, dass die Kinder, deren Einrichtungen nach dem Situationsansatz arbeiteten, ihre Wege im Vergleich mit anderen Kindern eigenaktiver, selbstständiger und konsequenter verfolgten, dass sie ihre Themen ideenreich vorantrieben, Konflikte untereinander regelten und nicht an den Rockzipfeln der Erzieherinnen hingen.

Inzwischen erschloss sich der Situationsansatz weiteres Terrain. Er wurde in asiatischen Ländern (Philippinen, Indonesien, Südkorea, Thailand, Malaysia oder Singapore), in lateinamerikanischen Ländern (Nicaragua, Brasilien und Argentinien) und in afrikanischen Ländern (Ghana, Nigeria) adaptiert, erwies sich also als kulturell sensibel. Und er wurde erwachsen, denn man wendet ihn in der Schule und in der Erwachsenenbildung an, zum Beispiel in der Carl Benz Academy in Peking. In Thailand arbeiten die Schools for Life nach diesem Konzept. Und im Oktober 2013 wurde in der Freien Universität Berlin eine internationale Konferenz veranstaltet: „Zukunft gestalten – 40 Jahre Situationsansatz“.

Warum ist dieser Exkurs hier von Bedeutung? Erstens: Weil Haro Senft DER kongeniale Situationsfilmer war. Zweitens: Weil es sich lohnt, seine Filme anzusehen.

PERSPEKTIVENWECHSEL

Die neuere Entwicklungspsychologie arbeitete die Bedeutung der Selbstregulierung von Kindern heraus: Kinder sind Ko-Konstrukteure ihrer Entwicklung. Das war zuvor anders. Man kann sich die Entwicklungspsychologen der früheren Zeiten als eine Versammlung verständnissuchender Forscher vorstellen, die das Kind von außen betrachteten und es aus der Sicht Erwachsener zu interpretieren versuchten.

Im Jahr 2003 veröffentlichte der entwicklungspsychologische Pionier Daniel Stern das Buch „Die Lebenserfahrung des Säuglings“ – eine kleine kopernikanische Wende. Ohne die Kinderfilme von Haro Senft zu kennen, wurde Stern gleichsam sein entwicklungspsychologischer Partner. Stern nahm quasi die Kamera, kletterte in einen Säugling und filmte – mit dem Blick des Säuglings – von innen nach außen: ein zunächst wirres, konturloses, unscharfes Ineinander von Farben und Bewegungen, eine geheimnisvolle Welt und ein rat- und tatenloses Kind? Nein, Sterns Kleinkind ist ein großer Experimentator. Es probiert und macht und wiederholt und variiert und lernt im Zick-Zack. Aber es lernt nicht nur, sondern verwandelt die nahe Welt, ist ein grenzenlos neugieriger Eroberer, nicht von außen, sondern von innen getrieben.

Weiter so? Nein. Denn nun treten die domestizierenden Erwachsenen auf und trimmen das Kind. Seine Entdeckungsfahrten enden in gesitteten Lernprogrammen. Der lange Marsch des Kindes durch die pädagogischen Institutionen beginnt.

Es ist noch nicht lange her, dass die Kindheitsforscher eine Eigenschaft bei Kindern diagnostizierten, die scheinbar neu, in Wahrheit wohl aber uralt ist: die Resilienz. Also die Widerstandskraft eines Kindes, die Fähigkeit, selbst abwegige Erziehungsversuche und Verhaltensweisen Erwachsener irgendwie zu überstehen. Das Kind als Entdecker, Experimentator, Guerillero und Geheimnisträger. Damit sind wir beim Avantgardisten Haro Senft, dem Mann, der Daniel Stern 20 Jahre voraus war.

ABSCHIED VON PAPAS KINDERKINO

Haro Senft interpretierte den Situationsansatz filmisch, entwickelte den Kinderfilm in überzeugender Weise weiter und nahm Abschied von Papas Kinderkino. Ich will das an einigen Film-Beispielen erläutern:

Hinter dem Zaun, 1974
Hinter dem Zaun, 1974

„HINTER DEM ZAUN“

Eine Szene auf einer freien Fläche in einer Vorstadtsiedlung Münchens: Ein Junge zwirbelt am Propeller seines gummigetriebenen Flugzeugs. Es steigt auf und landet hinter dem Zaun in einem Garten. Dort steht eine kleine Hütte, in der ein alter Mann werkelt. Das weiß der Junge aber noch nicht. Er weiß es weder in Wirklichkeit noch im Film, sondern sucht seinen Flieger und kommt in den Garten. Er sieht den alten Mann. Der sieht ihn auch. Der alte Mann bekam von
Haro nur mitgeteilt, dass etwas geschehe und er sich darauf einlassen möge.

Beide – der alte Mann und der Junge – sind überrascht, und alles, was nun geschieht, steht in keinem Drehbuch, sondern entwickelt sich aus der Situation heraus. Den Jungen interessiert, was der Alte in seiner Hütte macht; es gibt viel zu sehen und anzufassen. Nachdem der Alte den Flieger mit einer Stange vom Baum heruntergeholt und repariert hat, wobei die beiden sich anzufreunden beginnen, kommt – im Film so unerwartet wie in der Wirklichkeit dieses Drehtags
– ein Mann zu Besuch, ein alter Grantler, der den Jungen und seine Freunde zurechtweist und sich dafür rotzfreche Antworten einhandelt. Auch nicht zu erfinden ist die Szene, in der der Junge eine Walnuss knacken will. Weil er das nicht schafft, versucht es der Alte, kriegt die Nuss aber auch nicht auf.

„Hinter dem Zaun“, von Haro Senft 1974 als Kurzfilm gedreht, ist ein vergessener Klassiker des deutschen Films mit Kindern, für Kinder und für Erwachsene, die sich an den nicht vorfabrizierten Pointen des Geschehens erfreuen. Haro provoziert Situationen von Kindern und mit Kindern und spürt den Ereignissen nach, die sich daraus ergeben. Das schützt ihn vor gestelztem Laienschauspiel. Seine Personen dilettieren nicht nach Textvorgaben, sondern reden und handeln aus sich heraus.

Mondtag, 1973
Mondtag, 1973

„MONDTAG“

Die Rolle des Zauns übernimmt in „Mondtag“ ein altes, kleines Karussell in Münchens Englischem Garten. Setzt sich ein Kind auf eins der hölzernen Pferde, und das Karussell nimmt Fahrt auf, dann wird der Blick des Kindes weit und richtet sich in die Ferne.

„Mondtag“ beginnt mit einem Streit zweier Erwachsener hinter einer Wohnungstür. Man hört ihn nur. Da öffnet sich die Tür, und ein Junge kommt heraus. Er ist verstört, läuft die Straße entlang, geht in den Park und klettert auf eines der Holz-Pferde. Das Karussell setzt sich in Bewegung. Ein Traum beginnt, ein Traum voller Geheimnisse und seltsamer Begegnungen. Kurz taucht im Halbdunkel zwischen hohem Gras eine schöne Fee auf. In Wirklichkeit heißt sie Dorothee Zippel, war Tänzerin im Musical „Hair“ und arbeitete mit John Cranko in Stuttgart, bis sie nach Poona ging und dort zu Bhagwan geriet.

Der Film erinnert an die Umgebung Münchens in den frühen 1970er Jahren, als Hark Bohm seinen Film „Tschetan der Indianerjunge“ im Ursprungstal der Isar drehte und es in eine Landschaft voller seltsamer Pflanzen, Libellen und Schmetterlinge verwandelte. In „Mondtag“ pflückt der Junge eine Blume, auf der sich in diesem Augenblick ein Schmetterling niederlässt. Er schüttelt die Blume, aber der Schmetterling bleibt sitzen. Als ich Haro fragte, welche Bewandtnis es mit dem Schmetterling habe, sagte er, das gehöre zu den Geheimnissen, von denen dieser Film handelt.

Mondtag, 1973
Mondtag, 1973

„BEGRÄBNIS“

Ein Junge fährt mit seinem Roller einen Gehweg entlang und findet eine tote Taube. Er bringt sie seinen Freunden. Die Kinder halten die Taube in den Händen und überlegen, ob sie nur schläft oder tot ist. Dann machen sich auf, um das Tier auf freiem Feld in der Nähe von Weiden mit Zweigen zu bedecken. Es gibt ein bißchen Streit – „Kumm, geh weida!“ – und viel Respekt vor dem, was die Kinder in Erfahrung bringen.

Warum kann ein solcher Film nicht vorweg erfunden werden? Weil kein Drehbuchautor darauf kommt, was am Ort des Geschehens wirklich gesagt, empfunden und getan wird. Manuel, ein Junge aus der Gruppe, überlegt und druckst, nimmt Anlauf und stockt. Es macht ihm sichtlich Mühe, herauszulassen, was ihm auf der Seele liegt: Sein Großvater, der 100 Jahre alt werden wollte, ist gestorben. Er wurde nur 80 Jahre und konnte nichts dafür, dass er in die Hose machte. Manuels Bekenntnis geht im Hin und Her der Wortfetzen unter, aber es ist ein Moment der Wahrhaftigkeit und eine Sternstunde des Filmemachers Haro Senft.

Sonnentage, 1974
Sonnentage, 1974

„SONNENTAGE“

Im diesem Film kommen Erwachsene gar nicht vor. Zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen, schaffen sich irgendwo draußen ihr eigenes Reich und erleben ihr eigenes Glück. Wiederum „spielen“ sie nicht vor der Kamera, sondern sind sie selbst, und kein Drehbuchautor könnte auch nur annähernd die Ausrufe, Gespräche und Wortfetzen erfinden, die den Dialog der Kinder prägen.

Geräusche und Erscheinungen begleiten die Erkundungen der Kinder: das Wasser, in dem sich eine Fee spiegelt, der Ruf des Käuzchens, das hohe Gras, ein Papagei auf dem Baum, das Hämmern des Spechts, der Mond, Nebel, ein Bratapfel über der Glut. Aber wir Betrachter sehen und hören mehr als in actiongetriebenen Filmen und erinnern uns an die Zeit, in der wir uns mit Muße auf die kleinen Dinge einließen, Kaulquappen fingen, sie im Einmachglas mit Wasserkäfern aufzogen, sie als kleine Frösche im Wiesenbach aussetzten und fest daran glaubten, dass alles Quaken im Sommer von unseren Fröschen stammte.

Die Redaktion trauert um Haro Senft

Der große deutsche Avantgardist und Autorenfilmer Haro Senft ist im Februar 2016 im Alter von 87 Jahren verstorben. Haro Senft war einer der zentralen
Gründungsväter des Neuen deutschen Films und initiierte Ende der 50er Jahre die Münchener Gruppe DOC 59, aus deren Kreis 1962 auch die meisten
Unterzeichner des Oberhausener Manifests kamen. Zwischen 1954 und 1997 war er an über 40 Filmen beteiligt, meist als Autorenfilmer, aber oft auch als Produzent und Drehbuchautor. 1961 erhielt Haro Senft für „Kahl“ als erster deutscher Filmemacher eine Nominierung für den Kurzfilm-Oscar. 2012 ehrten ihn die Internationalen Filmfestspiele Berlin mit einer Berlinale Kamera.

Seine Kinderfilme erscheinen im April 2016 neu im Archiv der Kindheit bei wamiki.
Mehr Info unter: www.wamiki.de

Dr. Jürgen Zimmer (77) ist Professor emeritus an der FU Berlin und Mitbegründer der School for Life in Chiang Mai/Thailand. Er ist Träger des Bundesverdienstkreuzes, Vater von fünf Kindern und Großvater von sechs Enkeln.

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