Mord aus Liebe (7)

So endete Teil 6: Die alte Frau war ganz verzweifelt, als man ihre Tochter über den Flur trug. Tranner hatte Mühe, sie zum Bleiben zu bewegen. Sie wollte unbedingt zu Elke in die Zelle. Ganz abgesehen davon, dass Schuminski angewiesen hatte, die Frauen separat unterzubringen, hatte Tranner das sichere Gefühl, dass Elke dringend Ruhe brauchte. Auch vor Mutti.

Mittagsruhe-ewig

 

Viel war aus Mutti nicht herauszukriegen. In ihrer geblümten Kittelschürze, den ordentlich zusammengelegten Mantel auf dem Schoß, saß sie vor dem Kommissar. Als Tranner wissen wollte, ob sie Frau Schuh kannte, sagte Mutti: „Frau Schuh war Elkes Leiterin. Aber keine gute.“ Ziemlich pietätlos ließ sie sich über die Dahingeschiedene aus und lobte deren Vorgängerin Elvira über den grünen Klee. Tranner merkte auf und verfolgte kurz den Gedanken, die frühere Leiterin habe eventuell ein Motiv, ihre Nachfolgerin zu beseitigen. Dann verwarf er diese Idee: Wer sich seines Rentnerdaseins erfreut und die Rasselbande von Kindern endlich los ist, wird sich kaum zurücksehnen. Tranner seufzte, rief einen Beamten und bat ihn, Mutti nach Hause zu fahren. Schuminski wird das schon verkraften, dachte er und begleitete die alte Frau noch ein Stück durch den Flur. „Vielen Dank“, sagte er zu ihr. „Kann sein, dass wir Sie noch einmal brauchen. Aber für heute ist es genug.“

Mutti nickte.

 

Irgendetwas scheppert draußen. Schlagartig ist Elke hellwach. Der Nebel in ihrem Hirn hat sich gänzlich gelichtet. Klar stehen ihr die Bilder vor Augen: Carina Schuh tot im Bett, Muttis Armband in der Erbsensuppe. Und dann Muttis Geständnis. In der Küche.

Gleich wird man sie holen und erneut befragen. Sie muss sagen, was sie weiß. Muss sie?

Wie nennt man das, wenn eine Entscheidung zwischen zwei Möglichkeiten ansteht, die beide richtig sind? Oder beide falsch? Elke grübelt. Dann geht sie das Alphabet durch. Das macht sie immer, wenn ihr ein Wort nicht einfällt. Meistens klappt’s. A, B, C…

Bei G steigt eine Ahnung in Elke auf. Ga, Ge, Go, Gu, Gü… Irgendwas mit Güterzügen? Quatsch. Ah, jetzt hat sie´s: Güterabwägung.

Elke wägt ab, welches Gut ihr wichtiger ist. Die Wahrheit, die Mutti ins Gefängnis bringt, oder die Lüge… Nein, das Verschweigen der Wahrheit. Verschweigen ist nicht ganz so schlimm wie lügen.

Plötzlich schießt ihr durch den Kopf: Ich kann die Aussage ja verweigern! Als Tochter muss ich Mutti nicht belasten! Vielleicht kommen die Kommissare selbst drauf. Und wenn nicht? Denken sie dann, dass ich es war?

Furchtbar! Jetzt setzt sich das Karussell in Elkes Kopf wieder in Bewegung. Aber ganz fern, noch fast im Unbewussten, regt sich ein Gedanke: Was, wenn Mutti tatsächlich für Jahre hinter Gitter muss? Elke zuckt zusammen. Darf man so etwas denken? Plötzlich wird ihr leichter zumute. Wenn Mutti nicht mehr da ist… Ja, dann habe ich die Wohnung ganz für mich, kann die blöde Anrichte rausschmeißen und neu tapezieren. Mit Streublümchentapete. Und im Urlaub ohne Mutti nach Braunlage im Harz fahren. Oder sogar nach Gomera! Ja!!! Elke springt auf. Schön bei der Wahrheit bleiben, denkt sie. Das hat Mutti auch immer gesagt.

 

Elke hämmert an die Tür. Da fällt ihr ein: Die Tür ist nicht verschlossen. Sie stürzt aus der Zelle und einem Beamten in die Arme. „Ich habe eine Aussage zu machen“, erklärt sie dem verdutzten Polizisten. „Bringen Sie mich sofort zu dem Herrn Schamutzki!“

„Sie meinen Schuminski“, sagt der Uniformierte. „Kommt nicht oft vor, dass sich jemand nach dem sehnt. Na, dann wollen wir mal…“

 

6

Als Elke mit dem Beamten den Flur betritt, sieht sie den Dozenten. In Handschellen. Schuminski schubst ihn gerade unsanft in den Verhörraum.

„Er war es nicht!“ ruft Elke. „Mutti war´s!“

Schuminski dreht sich um. „Wie bitte?“ fragt er genervt.

„Glauben Sie mir“, fleht Elke und ergreift seine Hand. „Bitte glauben Sie mir, ich kann alles erklären. Sie müssen nur in die Wohnung gehen, in die Küche. Da liegt Muttis Armband in der Erbsensuppe.“

Schuminski macht sich los. „Ticken Sie noch richtig?“

„Ja“, sagt Elke. „Das ist die Wahrheit. Ich habe das Armband bei Frau Schuh auf dem Sofa gefunden und es eingesteckt. Entschuldigen Sie bitte! Das war nicht richtig, ich weiß. Aber ich war so aufgeregt…“

Komisch, denkt Schuminski, die Tante heult ja gar nicht. Die hat sogar richtig rote Bäckchen.

„Gut“, sagt er, „erzählen Sie mal…“ Und zu Toni Mittermaier: „Sie warten hier. In Handschellen.“

Der Dozent versteht gar nichts mehr. Aber ihm dämmert, dass dieser sonderbare Auftritt der Erzieherin ihn in Kürze von den Fesseln befreit. Erleichtert lässt er sich auf die Bank im Flur sinken und betrachtet seine Handgelenke. Irgendwie cool, denkt er. Handschellen haben was.

 

Mutti hat unruhig geschlafen. Kein Wunder. Wenn Elke nicht zu Hause ist, schläft sie immer unruhig. Dass Elke sie heute verraten könnte, beunruhigt Mutti nicht. Wenn das Kind wieder nüchtern ist, kommt es schon zur Vernunft, denkt sie, steht auf, geht in die Küche und macht sich einen Tee. Die Erbsensuppe hatte sie gestern Abend noch in den Kühlschrank gestellt. Einen Moment lang hatte sie darüber nachgedacht, ob sie das Armband herausnehmen und abwaschen soll. Doch warum? In der Suppe war es gut aufgehoben.

 

Elke sitzt beiden Kommissaren gegenüber. Schuminski starrt sie fassungslos an. Tranner fragt leise: „Sie sind sicher, dass Sie Ihre Mutter beschuldigen wollen, den Mord an Ihrer Leiterin begangen zu haben?“

Elke atmet tief durch. „Ja. Ich bin mir sicher. Ich habe Muttis Armband auf Frau Schuhs Sofa gefunden. Und ich weiß, dass Mutti es getan hat. Sie hat es mir selbst gesagt. Wenn Sie mir nicht glauben, dann schauen Sie doch in die Erbsensuppe.“

„Moment!“ Schuminski hat sich gefasst. „Mal schön der Reihe nach.“ Er rückt das Mikrofon zurecht, kontrolliert das Kabel und drückt auf die Aufnahmetaste. So etwas hat er in 30 Jahren Polizeiarbeit noch nicht erlebt. Das muss dokumentiert sein. Sowieso.

„Sie sind in die Wohnung von Frau Schuh gefahren, um nachzusehen, warum sie nicht in der Kita erschienen ist. Das wissen wir. Ihre Kolleginnen haben es uns erzählt. Und dann?“ fragt er.

„Die Haustür stand offen. Wahrscheinlich wegen der Handwerker. Da war doch dieses Gerüst am Haus. Ich bin hoch gegangen und hab auf die Namensschilder an den Wohnungstüren geschaut. Es war gleich im 1. Stock. Ich wollte klingeln, aber die Tür war nur angelehnt. Also bin ich rein und habe nach Frau Schuh gerufen. Als niemand antwortete, bin ich weitergegangen und habe die erste Tür aufgemacht. Das war das Schlafzimmer. Frau Schuh lag im Bett und war tot.“ Elke stockt.

„Das haben Sie sofort erkannt?“ fragt Tranner.

„Na ja, ich bin herangetreten und hab sie mir angesehen. Sie hatte Schaum vorm Mund. Als ich ihren Arm berührte, war er ganz kalt.“

„Und dann?“

„Dann bin ich schnell wieder raus. Und wollte die Polizei rufen.“

„Das haben Sie ja auch getan. Lobenswerterweise.“

„Ja, aber erst bin ich ins Wohnzimmer gegangen.“

„Woher wussten Sie, dass es das Wohnzimmer war. Kannten Sie sich in Carina Schuhs Wohnung aus?“

„Nein. Aber es war das Wohnzimmer! Das sieht man doch.“

„Na gut. Und dann?“

„Mir war ganz schlecht. Ich musste mich setzen. Da sah ich auf dem Sofa etwas glitzern und schaute nach. Es war Muttis Goldarmband mit den grünen Steinen. Ich kenne es, wirklich. Mutti macht es immer um, wenn sie ausgeht.“

„Weiter! Details interessieren jetzt nicht“, unterbricht Schuminski.

„Dann habe ich Sie angerufen. Das wissen Sie doch.“

„Und was haben Sie mit dem Armband gemacht?“

„Ich habe es eingesteckt. Das habe ich schon zugegeben.“

„Warum?“

„Warum wohl! Was würden Sie denn machen, wenn Sie das Armband Ihrer Mutti an einem Tatort finden? Dann bin ich auf die Straße gerannt und habe auf Sie gewartet.“

Schuminski und Tranner sehen sich an. Verrückte Geschichte, aber nicht unlogisch, denkt Tranner. Wer weiß, was dahinter steckt? Mutter-Tochter-Beziehungen sollen mitunter ja noch komplizierter sein als Vater-Tochter… Abgründe tun sich auf.

„Warum sind Sie aus dem Polizeiauto abgehauen?“ fragt Schuminski.

„Ich wollte zu Mutti und sie fragen, wieso ihr Armband bei Frau Schuh… Zu Hause hat Mutti mir gesagt, dass sie Frau Schuh vergiftet hat.“

„Und warum?“

„Sie hat Frau Schuh gehasst, weil sie mir das Leben immer so schwer machte. Und sie dachte, dass ich ihre Stelle bekommen kann, wenn Frau Schuh nicht mehr da ist.“

„Da kann man sehen“, sagt Schuminski lakonisch, „was Liebe vermag. Versetzt nicht nur Berge, sondern auch Personal. Und zwar endgültig. Hol die Giftmischerin mal aus ihrer Zelle, Tranner.“

Oha, denkt Tranner, jetzt knallt´s. „Schummi, die habe ich gestern Abend nach Hause geschickt“, gesteht er kleinlaut. „Die müssen wir holen lassen.“

„Ja, bist du denn jeck!“ brüllt Schuminski. „Los, hol sie! Wenn die sich jetzt selbst den Schierlingsbecher gegeben hat, kannst du gleich den Rest ausschlürfen, du Idiot!“

Schuldbewusst trollt sich Tranner.

 

Wie ein Tiger im Käfig läuft Schuminski im Verhörraum hin und her. Elke hat er vergessen. Drei, vier Mal rennt er zum Fenster, reißt es auf und beugt sich hinaus.

„Herr Schamutzki“, hört er es plötzlich flüstern und fährt herum. Elke steht hinter ihm.

„Ich heiße Schuminski, merken Sie sich das gefälligst!“

„Ja“, sagt Elke. „Entschuldigen Sie bitte. Ich wollte bloß sagen… Ich kann mir denken, wo Mutti ist.“

„Wo denn?“ fragt Schuminski.

„In der Kirche“, sagt Elke.

 

Mutti sitzt auf der vierten Bank, wie sonst immer am Sonntag. Heute ist Donnerstag, denkt sie, ein Glück, da ist die Kirche leer. Sie richtet den Blick auf den Heiland am Kreuz, faltet die Hände und flüstert: „… und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben…“ Dann senkt sie den Kopf. Ob der Herr ihr vergibt? Sie hatte doch nur das Beste gewollt für ihre Elke. Das wird der Herr verstehen. Zumal sie dieser Frau Schuh gar nicht wehgetan hatte. Das Kraut wirkt schnell und schmerzlos. Sie hatte es der Leiterin als Schlaftrunk empfohlen, in der Hoffnung, dass es irgendwann zur Anwendung kommt. Auf das Glasfläschchen hatte sie ein Etikett geklebt, mit einem lächelnden Mond und zwei Sternen. „Wie niedlich“, hatte die Schuh gesagt und das Fläschchen ins Nebenzimmer gebracht.

Dass die Sache so schnell klappen würde, damit hatte Mutti nicht gerechnet. Eigentlich hat die Schuh sich selbst umgebracht, denkt sie. Schließlich habe ich ihr den Schlaftrunk nicht eingeflößt. Auf den Fläschchen sind nur Frau Schuhs Fingerabdrücke, falls man es untersuchen sollte. Der perfekte Mord.

 

Da spürt Mutti, dass jemand sie an der Schulter berührt, ganz sanft. Das ist ein Zeichen, denkt sie und dreht sich um. Hinter ihr steht der Pfarrer, sieht sie ernst, aber gütig an und weist zur Kirchentür. Im Gegenlicht erkennt Mutti zwei schwarze, schattenhafte Gestalten. Sie zwinkert, kneift die Augen zu und reißt sie wieder auf. Die Gestalten kommen näher. Es sind Schuminski und Tranner. Schuminski klimpert mit den Handschellen. „Tja“, sagt er, „es ist aus, Verehrteste. Da hilft Ihnen auch der liebe…“

„Halt den Mund, Schummi“, sagt Tranner, „wir sind in der Kirche.“

 

Elke steht vor dem Kommissariat. Schon mindestens zehn Minuten lang. Toni Mittermaier hält ihre Hand. Sie könnte ewig so stehen bleiben. Ihre Hand ist ganz warm. Der Arm auch. Sie kann sich nicht erinnern, wann sie sich jemals so warm gefühlt hat.

„Elke“, sagt Toni Mittermaier, „das alles werde ich nie vergessen.“ Er drückt sie an sich. Sie lässt es geschehen. In ihrem Kopf singt es: Elke, dich werde ich nie vergessen.

Das Leben kann so schön sein…

 

 

Pädagogikstudium abgebrochen. Pflegekraft, Postbote und Friedhofsgärtner. Erste literarische Versuche, Veröffentlichungen in der Lokalpresse. Fortsetzungsroman. Seit 2004 Hausmeister im Berliner Kinderhaus „Kumpelnest“.

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