Vom langsamen Ankommen in der Moderne

Vor Jahrzehnten hielt Professor Halbey, der damalige Direktor des Gutenbergmuseums in Mainz, ein Liebhaber und Kenner von Bilderbüchern und Lyrik für Kinder, in seinem Museum vor Mitgliedern der Arbeitsgemeinschaft von Jugendbuchverlegern einen Vortrag darüber, das niedliche Häuser und Räume in Bilderbüchern vorherrschen.

Damals war Janosch der populärste Illustrator im deutschsprachigen Raum, und Halbey zeigte Dias von Janoschs Innenräumen und Häuschen. Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Das stimmt! Nicht nur die Phalanx derer, die Massenware produzierten, sondern auch anerkannte Illustratoren wie Janosch hatten sehr altertümliche Vorstellungen von den Wohnungen ihrer Figuren. Selbst wenn es nicht um Häschen und Mäuschen ging, glichen viele Behausungen Höhlen. Mittelalterliche, krummwandige Gebäude mit schiefen Dächern und Möbeln, die aus dem 19. Jahrhundert oder von noch früher stammten, prägten die Wohnkultur. Es gab armselige Hütten und prunkvolle Paläste, Dörfer und Gärten, den Wald und ein bisschen Landwirtschaft, kleine Städte mit schiefen Häusern, Wasserläufe, Berg und Tal – eine Idylle und Räume, die eher an Bühnenbilder erinnerten als an das, was die Betrachter in der Realität entdecken konnten.

Das kommt Ihnen bekannt vor? Ja, denn in vielen Bilderbüchern hat sich daran in den letzten 35 Jahren nicht viel verändert. Bis auf ein paar Ausnahmen. Heute werden Wohnungen oft nur angedeutet – Stuhl, Tisch, Sessel, Couch und Bett. Häuser und Straßenzüge werden wie die „Wildnis“ mit wenigen Strichen skizziert, so dass sie zeitlos, multikulturell und austauschbar wirken.

In „realistischen“ Bilderbüchern erahnt man modernes Wohnen: Es gibt Kinderzimmer, Badezimmer, Schlafzimmer und große Küchen. Kinder wohnen in Häusern mit Aufzügen und manchmal an belebten Straßen oder in der Nähe von Parks mit Spielplätzen. Häufig findet sich der Wohnstil von Mittelschichts-Familien in Industrienationen. Da die Bilderbücher per Lizenzen in die ganze Welt reisen, werden nationale und kulturelle Besonderheiten eher ausgespart als betont.

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Schon früh zeichnete Jutta Bauer moderneres Wohnen in Städten, Großstädten und ihren Vorstädten, zum Beispiel in den Juli-Alltagsgeschichten von Kirsten Boie. Jutta Bauer und andere deutsche und internationale Illustratoren, besonders die skandinavischen, setzten die Alltagsräume von Kleinkindern ins Bild. Von da an konnte man im Bilderbuch Kinder und ihre Eltern – meist Mütter – zum Kindergarten und auf den Spielplatz begleiten.

 

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