Ich, wir und die Anderen heißt das Thema dieses Heftes. Wer ich bin oder du bist, ist klar. Wer aber sind „wir“? Und wer bleibt als „die Anderen“ übrig?
Versuchen wir, das zu klären! Hoppla, schon begegnen wir sofort der ersten Absonderlichkeit des Pronomens wir. Nicht du, Lesende oder Lesender, wirst jetzt etwas klären, sondern nur ich. Wenn ich trotzdem „wir“ zu mir sage, bin ich nicht vom Größenwahn besessen, eine Majestät zu sein – „Wir, Michael von wamikis Gnaden“ –, sondern verwende das Autoren-Wir. Es kommt wohl aus einer verstaubten akademischen Welt, in der es in wissenschaftlichen Texten als unfein galt, „ich“ zu schreiben – schließlich zog man seine Schlüsse quasi in Vertretung der gesamten Wissenschaft. Selbst wenn das „Wir“ uneitel klingen soll, rhetorisch hat es eine suggestive Wirkung: Wir rutschen zusammen in meine Argumentation hinein.
Und, was hätten wir heute gerne? Das proletarische Gegenüber des Autoren-Wir könnte man Fleischtheken-Wir nennen. Vielleicht will man sich im Beisein von Leberwurst und Kasslerkamm nicht siezen, hat aber – wiewohl angesichts des Ortes durchaus passend – noch nicht Blutsbrüderschaft geschlossen? In solchen Fällen kann das Pronomen „wir“ ein guter Ersatz für „du“ und „ihr“ sein.
Ähnliches passiert am Krankenbett, wenn der Landarzt huldvoll fragt, wie es uns heute gehe – und damit Einfühlungsvermögen vortäuschen will. Außerdem basteln wir ja gemeinsam am selben Genesungsvorgang herum.
„Wir“ hören wir oft auch in Krippen und jungen Familien: „Haben wir Kaka gemacht? Jaa, wir haben ein richtiges Stänkerchen gemacht!“
Selbst wenn das Wir ein Wir ist, meint es nicht immer die gleichen Personen. In den meisten europäischen Sprachen hat das eine Wort Wir zwei Funktionen, die der Fachmensch „inklusives“ und „exklusives“ Wir nennt. Das exklusive Wir meint, dass der Sprecher von sich und jemand anderem spricht, den Zuhörer aber nicht einbezieht: „Wir – Anette und ich – sind uns einig, dass du nicht dazu gehörst.“ Beim inklusiven Wir gehört der Angesprochene dazu: „Wir drei – also auch du – sind uns einig, dass du einfach nicht dazu gehörst.“ In vielen Sprachen im Pazifikraum gibt es für beide Wir-Bedeutungen übrigens ein eigenes Wort.
Hat es einen Vorteil, dass unser europäisches Wir so uneindeutig ist? Zumindest lässt es sich so besser instrumentalisieren. Wie wir Pädagogen wissen, wenn wir sagen: „Wir sind uns doch einig, dass die Garderobe kein Tobeplatz ist.“ Dass nicht die Kinder federführend an der Festlegung beteiligt waren, sondern nur die Kolleginnen Käthe und Grete, fällt sprachlich nicht auf. Auch wenn Politiker und Würdenträger appellieren, kaschiert die Doppeldeutigkeit des Wir Unklarheiten. „Wir alle müssen jetzt handeln“ kann heißen: „Ich und das ganze Kabinett tun endlich etwas.“ Oder: „Ihr da draußen müsst jetzt etwas tun, und wir hier oben sind im Geiste dabei.“
Ach, du liebes Wir! Weil du so sympathisch, aber verschwommen bist, hast du als einziges Pronomen Eingang in die Welt der Emotionen gefunden – als „Wir-Gefühl“. Allerdings ist der Begriff fast ein wenig verräterisch: Bei „Wir“ geht es nicht darum, wer tatsächlich teilhat, sondern wer gefühlt dazugehört. Es ist einfach wohltuend, sich als Teil von „Wir in NRW“, „Wir im Osten“ oder „Mia-san-mia-Bayern“ zu fühlen und beim verordneten Unternehmenscoaching „Vom Ich zum Wir“ zu gelangen. „Wir“ hilft, den zu Recht verpönten Nationalismus nicht aussprechen zu müssen, aber trotzdem anzudeuten. Etwa wenn im Sommer vorm EM-Duell „Ein Hoch auf uns“ intoniert wird. Klingt einfach smarter als „Deutschland lebe hoch!“
Sind wir irgendwann alle „wir“? Gefühlt bestimmt. Zum misstrauischen Beäugen oder Alltags-Diskriminieren gibt es ja immer noch „die Anderen“. Solange wir Anzeichen finden, dass die Anderen anders sein könnten als „wir“ und sich nicht ändern, solange sind wir „Wir“.
Foto: pip / photocase.de