Generationen ohne Ende

Wie wird wohl die „Generation Corona“? Ein paar Monate war die Pandemie alt, als die ersten Autor*innen den Begriff verwendeten – und damit einem bewährten Trend folgten. Seit einigen Jahren ist es angesagt, junge Menschen einer Alterskohorte mit Generation-Pipapo-Namen zu behängen, um damit zu behaupten: Weil die alle unter gleichen Voraussetzungen aufgewachsen sind, sind sie einander irgendwie ähnlich. Aber diese Idee ist uralt.

Hier gibts den Artikel als PDF: Wortklauber_#4_2021

 

Schon 3000 Jahre bevor Sokrates die Jugend beschimpfte, weil sie stets „die Beine übereinanderlegt“, reagierten ältere Sumerer ihre Wut auf Tontafeln ab: „Die Jugend achtet das Alter nicht mehr, zeigt bewusst ein ungepflegtes Aussehen, sinnt auf Umsturz, zeigt keine Lernbereitschaft und ist ablehnend gegen übernommene Werte.“ In jeder Epoche gibt es unzählige solcher Schmähungen, mit denen ältere Menschen der jungen Generation Degeneration unterstellen. Dahinter steckte wohl schon immer ein Wahrnehmungsproblem, denn aus Sicht älterer Leuten verhalten sich jüngere Menschen gern tendenziell unreif – die eigene Unreife liegt dagegen lange zurück.

Schicksal, Trauma, Skepsis

Aber seit wann sprach man bestimmten Generationen statt allgemeiner Verlotterungstendenz konkrete Eigenschaften zu? Karl Mannheimer hieß ein deutscher Soziologe, der 1928 die Schrift „Das Problem der Generationen“ publizierte. Seine Kernthese, vereinfacht gesagt: Mitglieder einer Generation erleben gemeinsame Schicksale und verarbeiten vielleicht gemeinsame Zeitströmungen auf gleiche Weise. Beispiele des Soziologen waren damals: die Jugendbewegung vor allem bürgerlicher Heranwachsender zu Beginn des 20. Jahrhunderts und die zarten „Neuromantiker“.

Traumatische Ereignisse scheinen wie geschaffen, eine gemeinsame Generation zu prägen. Kein Wunder, dass nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmend wenige Jahrgänge als jeweils eigene Generation bezeichnet wurden. Helmut Schelsky beschrieb in den Fünfzigerjahren wegweisend die „Skeptische Generation“ der überlebenden Kriegsteilnehmer und hoffte, dass diese Generation in ihrem sozialen Bewusstsein und Selbstbewusstsein kritischer, skeptischer, misstrauischer, glaubenslos oder wenigstens illusionsloser als alle Jugendgenerationen vorher ist, dafür aber tolerant, ohne Pathos, Programme oder Parolen.

X und Golf

Dreißig Jahre später ist von Trauma wenig zu spüren, als die Angehörigen der „Boomer-Generation“ allmählich erwachsen werden. Nun ist ein amerikanischer Autor zur Stelle, um den Generationenbegriff boomen zu lassen: Douglas Coupland recycelt 1992 den eigentlich in den frühen Fünfzigern für Rocker verwendeten Ausdruck „Generation X“ in seinem Romantitel „Generation X. Geschichten für eine immer schneller werdende Kultur“. Seine Generationsbeschreibung wird sofort von den Medien aufgegriffen und erweitert, bis das Bild einer Grunge hörenden, stets ironischen Nihilisten-Generation entsteht, die auf dicke Schlitten und das Eigenheim der Eltern pfeift, gerade weil die Alten trotz Zugehörigkeit zur Skeptischen Generation darauf so stolz sind.

Bald ploppt eine Generation nach der anderen auf. Zum Beispiel die „Generation Golf“, in der Florian Illies den eben noch bewunderten „Generation X“-Mitgliedern zuschreibt, weniger nihilistisch, sondern vielmehr hedonistisch zu sein und den von den Eltern angehäuften Wohlstand zu genießen, statt aktiv zu werden.

Von MTV zu Maybe

Nun scheint es Trend zu sein, immer schlimmere Generationen zu entdecken, etwa die „MTV-Generation“ (glotzt nur Musikvideos) und die „Generation Doof“ (glotzt nur RTL 2 und verhält sich entsprechend). „Außerdem legen sie die Füße hoch“, würde Sokrates beipflichten. Oder es werden traurige, weil chancenlose Generationen erdacht, etwa die „Generation Praktikum“ oder die „Generation Prekär“, die beide wirtschaftlich nicht in die Pötte kommen. Weil all die Generationen immer nur auf ein paar Leute zutreffen und auf den Rest nicht, erfindet ein schlauer Mensch die „Generation Maybe“, die sich offenbar nicht festlegen will und deswegen „Vielleicht“ heißt.

Generationsübergreifend!

Immer wieder neue Generationen zu postulieren, um damit mediale Aufmerksamkeit zu erregen, das verbreitet sich inzwischen dermaßen, dass man für entsprechende Autor*innen eine „Generation Generation“ erfinden könnte. Doch das ist ebenso unsinnig wie jeder andere Versuch, große Teile der Menschheit mit einem Label zu versehen. Übrigens wurden bei früheren Generationen nur selten Frauen mitbedacht – siehe: die Flakhelfergeneration.

Wer in den Achtzigern keine vermögenden Eltern hatte, in Ostdeutschland wohnte oder vor irgendeinem Migrationshintergrund aufwuchs, passte kaum zur „Generation Golf“. Und Nicht-Akademiker*innen könnten die prägenden Ängste der „Generation Prekär/Praktikum“ egal sein. Auch beim Beschreiben der „Generation Corona“ wird es schwer, einen gemeinsamen Nenner für wohlhabende Homeoffice-Familienkinder und prekär lebende Notbetreuungskinder zu finden. Trotzdem werden gewiss neue Generationen erfunden werden. Schon weil unsere Generation das Wort Generation so liebt. Längst haben auch die Dinge, die heutige Generationen („Generation App“) prägen, eine eigene Generationenfolge bekommen. Zum Beispiel mein Smartphone – ist es noch „Neueste Generation“ oder wurde bereits ein Nachfolger generiert?

Das abgelegte, obschon noch brauchbare Telefon zeigt uns die wahren Gründe für unsere Generationenbesessenheit: Wir haben Angst vorm Aussortiert-Werden. Was hilft? Solidarität! Wir tun uns einfach zur Generation Generationsübergreifend zusammen.

Gründe zum Abhauen

Hier gibts den Artikel als PDF: Wortlauber+Gedicht_#3_2021

Irgendwann reicht es, ist es genug. Man hat die Schnauze gestrichen voll und die Faxen dicke.

Es kommt der Moment, das Feld zu räumen und sich vom Acker zu machen, das Weite zu suchen und sich aus dem Staub zu machen, nicht ohne dabei die Kurve zu kratzen. Höchste Zeit, sich abzuseilen, abzuschwirren, ne Mücke, ne Biege oder die Fliege zu machen, sich zu verpissen oder Leine zu ziehen.

Unsere Sprache ist selten so kreativ wie bei dem Versuch, den Moment des Abhauens in deutliche Worte zu fassen. Das liegt ganz offensichtlich daran, dass das Ausbrechen aus dem Alltag mit seinen Annehmlichkeiten, aber auch mit den Unannehmlichkeiten und die ungewisse Zukunft eins der größten Lebensthemen ist. Auch in der Welt der Geschichten und Mythen geht es immer wieder um die große Frage: Welche Gründe gibt es, alles hinter sich zu lassen?

Flucht vor ethnischer Diskriminierung und ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen

Wenn man schlecht behandelt wird, sollte man fliehen: Das zweite Buch Mose von Thora und Bibel, genannt Exodus, erzählt eine Geschichte, die nach wie vor aktuell bleibt: Die Ägypter lassen die minderprivilegierten Israeliten für große Bauten massenweise Lehmziegel herstellen und versuchen gleichzeitig, die Geburten von Jungen zu kontrollieren, damit sie nicht zu zahlreich werden. Da verhandelt Moses im Auftrag Gottes mit dem Pharao, um seine Leute zu retten: „Let my people go!“ Erst nach den von Gott herbeigeführten zehn Plagen – bei der letzten wird immerhin jeder erstgeborene Ägypter getötet – ist der Pharao nicht nur bereit, die Israeliten gehen zu lassen, sondern vertreibt sie sogar: „Macht euch auf und zieht weg aus meinem Volk.“ Auf geht es ins Land, in dem Milch und Honig fließen, nicht ohne zuvor die zehn Gebote aufzustellen, eine Art eigene Gesetzgebung.

Flucht vor Alters­diskriminierung und ­Rentenbetrug

Alt und abgearbeitet sind sie, aber statt der Rente wartet der Tod auf sie. Zusammen träumen sie von einer Karriere als städtische Musikanten im fernen Bremen. Doch daraus wird nichts, vielleicht auch wegen mangelnden Talents. Deshalb besetzen die vier eine bisher von Kleinkriminellen geführte Unterkunft und beschließen: „Das ist unser Wirtshaus!“

Viele Märchenforscher sehen in „Die Bremer Stadtmusikanten“ den Widerschein sozialer Ungerechtigkeit und Ungleichheit in ländlicher Leibeigenschaft und den Traum von städtischer Freiheit. Viele Märchen erzählen von Menschen, die ausreißen – aus unterschiedlichsten Gründen. Schneewittchen flieht vor der bösen Stiefmutter und findet bei Zwergen Asyl. Brüderchen und Schwesterchen fliehen vor häuslicher Gewalt. Das tapfere Schneiderlein verlässt das Haus, weil es, nachdem es sieben Fliegen erschlagen hatte, meint, „die Werkstatt sei zu klein für seine Tapferkeit“. Und „einer, der auszog, das Fürchten zu lernen“, haut ab, weil er als Nesthäkchen nichts lernt und erst in der Fremde zu Reife gelangt.

Loslösung aus der Mutterbindung

Erst in der Fremde wird man zum Manne: Mit diesem Vorsatz macht sich um 1860 ein junger Mensch auf, die Welt zu erobern – und zwar im Lied „Hänschen und seine Mutter“ von Franz Wiedemann, erschienen in der Sammlung „Samenkörner für Kinderherzen“. In heutigem Dumm-Sprech „ging der Song sofort viral“, als „Hänschen Klein“. Aber dabei veränderten sich Text und Sinn. Ursprünglich gab es drei Strophen, und die zweite schildert die Länge von Hänschens Aufbruch: „Sieben Jahre, trüb und klar, Hänschen in der Fremde war, bis das Kind sich besinnt“ und zurückkehrt, aufgrund gewonnener Reife aber von niemanden erkannt wird, nur von der Mutti. Ob der „Samen“ dieses betulichen Liedes als zu gefährlich galt? Jedenfalls verpasste der Volksmund dem Liedtext bald die heutige Kürze: Mutter „weinet sehr“. Sofort „besinnt sich das Kind“ und beendet die Reise, bevor sie richtig begonnen hat. So ragt aus einem „Coming of age“-Song ein biedermeierlich erhobener Zeigefinger: Bloß nicht abhauen von daheim!

Aus den Zwängen der Zivilisation in die Natur fliehen

Grau, steinern und gemein ist die Welt.

Spätestens seit Joseph von Eichendorffs „Aus dem Leben eines Taugenichts“ verbreitet sich ein Grund zum Abhauen, der es sogar international zum deutschen Lehnwort gebracht hat: Die „Wanderlust“, erklärt als „a strong desire to wander or travel and explore the world“. Sie ist Motiv unzähliger Lieder, nicht nur in Eichendorffs „O Täler weit, o Höhen“. Verächtlich wird vom Bergesgipfel auf die Zivilisation zurückgeblickt: „Da draußen, stets betrogen, saust die geschäft’ge Welt“.

Hundert Jahre später ist im Jugendbewegungs-Lied „Aus grauer Städte Mauern“ der Wald „unsere Liebe, der Himmel unser Zelt“. In einer Hymne der alten Sozialdemokratie wird die Natur nach „einer Woche Häuserquadern“ gar zur Verheißung einer besseren Gesellschaftsordnung: „Wann wir schreiten Seit an Seit, und die alten Lieder singen, und die Wälder widerklingen, fühlen wir, es muss gelingen: Mit uns zieht die neue Zeit!“ Leider wurde der Wunsch, aus grauen Städten abzuhauen, auf ungute Weise später wahr: In die Welt zieht man als Soldat, Zivilisation und graue Städte versinken im Bombenhagel.

In Gedanken abhauen, obwohl es keine Gründe mehr gibt

Während es im Osten gute Gründe für die Republikflucht gab, fehlten sie im Westen weitgehend: Überall anderswo ist man ärmer und demokratisch schlechter dran. Was tun, wenn die Lust, einfach abhauen zu wollen, trotzdem lockt? Man sublimiert dieses Gefühl, am besten im Schlager. Dort ist die Fremde Verlockung pur, sei es „Auf der Straße nach San Fernando“, „Irgendwo in Mexiko“, auf „Santa Maria“ oder gar in „Moskau, Moskau“. Überall locken Anitas, und „La Paloma Blanca“ verspricht besseres Wetter und unerforschte Weiten. Die Spießigkeit dieser Vorstellungen bringt Udo Jürgens in „Ich war noch niemals in New York“ auf den Punkt, wenn er den besten Grund ever fürs Abhauen nennt: Er „ging nie durch San Francisco in zerrissenen Jeans“. Wahrscheinlich verzichtete der Protagonist auf dieses Wagnis dann doch.

Heute scheint die Unterhaltungsindustrie für das Abhauen zuständig zu sein – und der Sex als kleine Flucht. Lassen wir es Helene Fischer in atemlose Worte fassen: „Alles, was ich will, ist da. Große Freiheit pur, ganz nah. Nein, wir wollen hier nicht weg. Alles ist perfekt…“

Foto: Bady Abbas/unsplash.org

Und ewig spricht das Tier

Hier gibts den Artikel als PDF: wortklauber_#2_2021

„Wie sagt der Löwe Gute Nacht? … Die Tierkinder und ihre Eltern kuscheln am Abend vor dem Einschlafen genauso gern wie kleine Menschenkinder. Ein absolutes Lieblingsbuch fürs Gutenacht-Ritual…“, flötet uns der Klappentext eines aktuellen Kinderbilderbuchs ins Ohr.

Bilderbücher mit Tieren sind angesagt – in über der Hälfte der aktuellen Titel sprechen, streiten und menscheln Tiere, von den omnipräsenten Löwen über kleine Fliegen bis zu Otti Otter. Wie kommt es eigentlich, dass Kleinkindern in Geschichten Tieren begegnen, deren echte Vorbilder sie vermutlich niemals in freier Wildbahn erleben werden? Und warum verhalten sich diese Wesen wie Menschen?

Der Anfang liegt weit zurück. Vier- bis fünftausend Jahre alt sind die Tontafeln, auf denen die Sumerer die ältesten überlieferten Tiergeschichten der Menschheit per Keilschrift hinterließen. So etwas steht da: Neun Wölfe haben zehn Schafe gejagt, und nun fällt das Aufteilen schwer. Gut, dass ein besonders kluger zehnter Wolf rät: „Ihr seid neun und erhaltet eins, macht zehn. Ich bin allein und erhalte neun, macht ebenfalls zehn.“ Man erkennt: Es handelt sich um eine frühe Form der Fabel. Eine Message hat sie, vermuten Forscher, auch: Schülern wurde damit in spaßiger Form das Kommutativ-Gesetz vermittelt: 9+1=1+9.

Auch in allen folgenden Hochkulturen kommt das Tier in Fabeln zu Wort. Bei Griechen wie Römern handelt es sich meist um eine Art „Gebrauchstexte“ mit anschaulichen Beispielen. Oft geht es darum, menschliche Fehler in Vergleichen zu veranschaulichen: Wenn du das so machst, geht es dir wie dem Esel und dem Hund…

Lässt man „ein Tier mit dem anderen reden“, stellt Jahrhunderte später Martin Luther fest, kann man unbequeme Wahrheiten vermitteln: „… weil man sie nicht will hören aus Menschenmund, dass man sie doch höre aus Tier- und Bestienmund.“ Und so übersetzt er lateinische Fabeltexte: „Ejne Maus were gern uber ein Wasser gewest und kundte nicht und bat einen Frosch umb Raht und Hülffe. Der Frosch war ein Schalck…“ Damit jede noch so lustige Geschichte eine Lehre habe, schreibt Luther sie kurz und deutlich dahinter. In der Fabel von Maus und Frosch – erst will der Frosch die Maus ersäufen, wobei dann beide von der Kornweihe gefressen werden – fasst Luther sie so zusammen: „Die Welt ist falsch und untrew vol.“

Um 1810 bekommt die Fabel einen ernsthaften Konkurrenten, der sich zudem auch an Kinder richtet. Zwei Brüder namens Grimm erhalten von Herrn Brentano den Auftrag, nach Volksgut zu suchen. Die beiden Bürgersöhne aber kennen niemanden aus dem Volk, und so muss das gutbürgerliche Umfeld in Form einiger Tanten für die ersten „Märchen“ sorgen. Die Tanten kennen Märchen wie „Der Wolf und die sieben Geißlein“. Und weil sie eben zutiefst bürgerlich sind, kommt der Märchenstoff nicht ohne den erhobenen Zeigefinger aus: Beweist das Märchen nicht, dass man Mutters Anweisungen immer umzusetzen hat, statt leichtsinnig die Tür zu öffnen? Erst in späteren Märchen, die wirklich aus dem Volk stammen, hören die Gebrüder von deftigen Szenen, oft ohne erkennbare Moral. Gut, dass sie diese Texte einer gründlichen Nachbearbeitung unterziehen, um junge Leser nicht auf ungute Wege zu geleiten.

Einhundert Jahre später, um 1920, gehören Kindheit und Disziplin immer noch eng zusammen. Das erfahren auch die Besucher der „Häschenschule“, die je nach Geschlecht vom reichlich senilen Hasenlehrer für Wohlverhalten gelobt oder mit Backpfeife und Rohrstock auf den rechten Weg gebracht werden. Weil diese Tiergeschichte zum absoluten Longseller wird, erntet auch der Textautor im Laufe der Jahre gleichermaßen Lob wie Backpfeifen: Ist das Buch eine ironische Darstellung der Dorfschule? Oder verherrlicht es autoritäre Erziehung mit Rohrstock und Zwangs-Eier-Bemalen? Gerade nach 1945 wird das Buch scharf kritisiert, auch wegen der „beleidigenden Darstellung“ von Tieren in Menschenbekleidung. Dabei ist die Entstehung der „Häschenschule“ denkbar harmlos: Als der Sohn des Autors Alfred Sixtus klein war, liebten es Vater, Mutter, Kind und Tante, im Spiel als Hasen durch die Wohnung zu hoppeln – und deren Erlebnisse wurden dann zum Gedicht.

Verdummt das Bilderbuchtier unsere Kinder? Seit Ende der Sechzigerjahre haben es Häschen und Löwe zunehmend schwer, sich gegenüber menschlichen Protagonisten zu behaupten. Das hat wohl mit dem veränderten Blick auf Kinderliteratur zu tun, den Schriftsteller Peter Härtling in Worte fasst: „Es gibt eine Literatur für Kinder, deren Verlogenheit kränkend ist. Die Welt wird verschont, verkleinert, bekommt Wohnstubengröße… Ich plädiere für eine übersetzbare Wirklichkeit. Sie kann alles umfassen. Spiel, Leben und auch Tod. Zuhause und Krieg. Güte und Gemeinheit.“ Praktisch führt das zu Büchern wie Maurice Sendaks „Wo die wilden Kerle wohnen“, in dem nur die inneren Fantasietiere der menschlichen Hauptfigur toben.

Aber dann kehren die Tiere zurück. Ausgerechnet der als besonders frech verschriene Janosch will Ende der Siebziger mal einen Erfolgstitel raushauen: „Einmal habe ich mich hingesetzt und mir vorgenommen, ich male jetzt den größten Kitsch des Jahrhunderts. Nur für diese verflixten Kritiker und Pädagogen, die ja genau wissen, wie man Kinderbücher machen muss. Dann fing ich an, Teddybär macht eine Reise. Dann dachte ich, der muss noch einen Freund haben, ´nen kleinen Tiger. Am Ende dachte ich, du blamierst dich damit nur.“ Und so kehrt mit „Oh, wie schön ist Panama“ die putzige Welt der befreundeten Tier-Kinder zurück. Nur in Details erkennt man Brüche, wenn die beiden sympathischen Protagonisten artgerecht, aber unbeobachtet vom Leser eine Gans fangen und zum Schlachten vorbereiten.

Was treiben die Tiere heute im Bilderbuch? Auf den ersten Blick sind es bloße Menschen-Stellvertreter, die in ihren Tierbehausungen ein ganz normales Menschenleben führen. Oft scheinen sie – ein Musterbeispiel wäre Nadia Buddes „Ein zwei drei Tier“ – als unschuldige Sinnbilder für das schwierige Thema „Diversität“ zu dienen: Jeder ist anders!

Tiere werden auch gern als Protagonisten benutzt, wenn menschliche Eigenschaften im Mittelpunkt stehen, die man lieber nicht direkt benennen möchte. Im positiven Beispiel kann man damit ein wenig kindliche Lust an der Brutalität ins Buch schmuggeln, zum Beispiel in „Der Grüffelo“. Da droht die Maus Fuchs und Schlange fröhlich an, sie in Püree oder Spießbraten zu verwandeln – mit menschlichen Figuren schwer vorstellbar. Weniger nett sind die Geschichten, in denen gefräßige Schweine die inzwischen verpönte Rolle des Dickerchens spielen und andere Tiere die liebenswerte Dummheit vorführen, die man menschlichen Charakteren aus gutem Grund nicht mehr zuschreibt.

Vor allem aber ist die uralte Rolle des Belehrungstiers nicht totzukriegen. Schaut man in den Klappentext unzähliger Bilderbücher, dann erfährt man zum Beispiel mit Leo Lausemaus: „Aufräumen muss manchmal einfach sein.“ Die Fliege Zappelbein begreift, dass Rücksichtnahme und Verständnis füreinander besser sind, als ständig zu streiten. Und der kleine Affe versteht im Zuge der Handlung eine universelle Botschaft: „Ein gutes Abenteuer lässt sich nur ausgeschlafen bestehen.“

So entpuppen sich viele Bilderbuchtiere als heimliche Agenten von Eltern, die keinen Streit mit ihren Kindern wollen: „Dass du jetzt schlafen musst, sag ja nicht ich, sondern der kleine Affe.“ Unangenehme Erziehungs-Wahrheiten, verpackt in Tier- und Bestienmund, würde Luther loben. Oder wäre das Elternverhalten für ihn untrew und falsch?

Klappt das wenigstens? Zum Glück nicht, heißt es in einer Studie des Ontario Institute for Studies in Education (OISE) der University of Toronto. Die Studie ergab: Will man Kindern moralische Werte über Geschichten vermitteln, sollte man immer Figuren wählen, die dem Leben der Kinder nahe sind. Kein Leo Lausemaus erzieht Kinder zum Aufräumen, und Leser der „Häschenschule“ werden nicht automatisch Fans autoritärer Erziehung. Ob die Welt „untrew vol“ ist und Muttis Tipps die richtigen sind, lernt man nicht von Maus, Frosch und Geißlein, sondern in echten Geschichten und im echten Leben. Nur eine Lehre aus der Fabelwelt stimmt: 9+1 = 1+9.

Foto: qijin-xu, unsplash

Auf Phrasenjagd

Hier gibts den Artikel als PDF: wortklauber_#1_2021

Spielen, basteln, Kaffee trinken: Vielleicht liegt es an diesen hartnäckigen Klischees, dass wir PädagogInnen beim Versuch, den Wert unserer beruflichen Tätigkeit zu beschreiben, so oft in die große Phrasenkiste greifen. Das tun wir beim Verfassen von großspurigen Konzepten, Einrichtungsflyern, Fachtexten und wenn wir im Seminar oder beim Elternabend über unser „berufliches Selbstverständnis“ sprechen. Schauen wir mal drauf und „reflektieren kritisch“, welche Phrasen wir vielleicht aussortieren sollten.

Jedes Kind ist einmalig und unverwechselbar

Eine echte Power-Phrase, die deshalb manchen Fachtext, manche Konzeption einleitet. Durchaus in Varianten, etwa der, in der „jedes Kind“ eine „eigene Persönlichkeit besitzt“, statt sie vielleicht mit den Eltern zu teilen?

Eine gesteigerte Form findet sich im Netz in einem beliebten „Begrüßungsbrief“ für Mütter bei der Eingewöhnung: „Als ich dein Kind zum ersten Mal getroffen habe, habe ich sofort gemerkt, dass es etwas ganz Besonderes ist.“ Schön, wenn man das allen Müttern der Gruppe versichert.

Wie hohl die Phrase ist, erkennt man, wenn man sich das Gegenteil vorstellt. Gehen Teams, die den Satz nicht verwenden, davon aus, dass jedes Kind mehrfach vorkommt und deshalb verwechselbar, zumindest „nix Besonderes“ ist? Hieße der Satz „Jedes Kind, jeder Mensch, jedes Tier, jede Pflanze, jeder Stein ist einmalig und unverwechselbar“, würde sofort klar: Ziemlich banale Weisheit!

Wir wertschätzen das Tun der Kinder…

… oder „ihre sprachlichen Äußerungen“, „ihre Kunstwerke“, ihre „Bedürfnisse“ und begegnen Kindern „mit Respekt“. Auch bei diesem Satz kann man erstens Wortkritik betreiben: „Wert schätzen“ ist ein neutraler Ausdruck. „Der taugt nichts“ ist übrigens auch eine Wertschätzung. Zweitens kann man wieder den Umkehr-Test anwenden, um den Wert der Phrase zu schätzen: Wie sähe es aus, wenn Erzieherinnen dem Tun, den Werken und Worten der Kinder herablassend und respektlos begegnen würden? Auch wenn das durchaus passiert, bleibt festzustellen: Die Phrase erhebt eine absolute berufliche Selbstverständlichkeit zum besonderen Konzept.

Die eigene Haltung kritisch reflektieren

Haltung, könnte man zunächst „kritisch reflektieren“, ist nichts, das man hat, sondern etwas, das man einnimmt. Wir kennen das aus Jugendjahren, in denen wir uns nach dem Satz „Sitz gerade!“ missmutig aufrichteten, aber nach wenigen Sekunden wieder gemütlich erschlafften. Ob das bei der pädagogischen „Grundhaltung“ anders ist?

„Kritisch reflektieren“, ein Lieblingssatz in jeder Weiterbildungsveranstaltung, klingt allzu bienenfleißig. Drehen wir es mal um: Kann man auch „unkritisch reflektieren“?

Auf Augenhöhe begegnen

„Sieh mir in die Augen“, fordert Hilfslehrer Hühnerbrüh im „Kleinen Nick“, und so manches Kind wird bei strengen Belehrungen angeherrscht: „Sieh mich an!“ In die Augen zu schauen, das muss nicht immer positiv sein.

Schwach am tausendfach gelesenen Spruch mit der Augenhöhe ist zweitens, dass er nicht beschreibt, wer da wessen Augenhöhe einnehmen soll. Kritisch hinterfragen könnte man drittens auch die positiv gemeinte Bedeutung der Phrase: Ist es eigentlich möglich und nötig, sich als erwachsener Mensch auf „Augenhöhe“ eines Kindes zu begeben, also zeitweise das eigene Erwachsensein zurückzustellen?

Wir lassen niemanden zurück!

Ein Pro-Inklusions-Spruch, der es in Pandemiezeiten sogar zum englischen Graffiti-Spruch geschafft hat: Leave no one behind! Wie immer nett gemeint, aber voller Fragen: Wer ist „wir“? Und wer sind im Unterschied die anderen, die wir irgendwo zurücklassen? Die „Zurückgebliebenen“ etwa, ein längst geächtetes Wort? Zu welchem Vorwärts geht die Reise eigentlich? Und warum hat sich bei der Pandemie nicht „Leave no one alone“ durchgesetzt, die klare Aufforderung, sich um Einzelne zu kümmern?

Im ständigen Austausch mit den Eltern

Manche Phrasen bestrafen die DrescherInnen damit, dass sie wahr werden. Wer „ständigen Austausch“ mit den Eltern ankündigt, bekommt ihn auch: morgens WhatsApps zum Stattfinden des Ausflugs, endlose Tür-Angel-Gespräche, vormittägliche Anrufe, lange Mails am Abend… Wer dann noch wie der Krimi-Kommissar seine Nummer mit dem Spruch „Sie können mich jederzeit anrufen“ vergibt, weiß bald, was „jederzeit“ bedeutet.

Mit allen Sinnen lernen

Fünf Sinne hat der Mensch – und manchmal kommt noch einer dazu, nämlich der Irr- oder Unsinn. Zum Beispiel dann, wenn die PädagogIn über Lernangebote für kleine Kinder schreibt und selten ohne die Phrase „mit allen Sinnen“ auskommt. Dieses Prädikat wird oft schon verliehen, wenn statt des Seh-Sinns nur der seltener erwähnte Tast-Sinn zum Zuge kommt. Oder kann man den Rasierschaum beim Matsch-Angebot wirklich gleichzeitig sehen, hören, tasten, fühlen, riechen und schmecken? Flapsig gesagt: Wer immerzu von „Lernen mit allen Sinnen“ spricht, dem ist egal, ob das alles Sinn ergibt.

Die Kinder lieben…

… alles, was sie drei Minuten lang einigermaßen interessiert tun. Zumindest, wenn man Fachtexten in Printmedien und im Netz glaubt: „Kinder lieben es, selbstständig Apfelmus zu essen“ stand ebenso in einem Text wie „Kinder lieben Händewaschen“. Und mir strich eine Lektorin den Satz „Kinder lieben analoge Küchenwecker“.

Nun „lieben“ zwar laut Werbesprech auch Erwachsene immer mehr Dinge, Tätigkeiten oder Schnellrestaurants. Aber der Drang, kindliches Tun mit diesem Wort zu veredeln, scheint stündlich zuzunehmen. Anders gesagt: Erwachsene lieben es, jede gelegentliche Vorliebe der Kinder als „Liebe“ zu bezeichnen. Reichlich be-lieb-ich!

Gelebte Partizipation

Jeder lebt sein Leben, bis er lange genug gelebt hat. Manchmal lebt man sich auch aus – auf Kosten anderer womöglich. Wie lebt man so etwas Abstraktes wie „Partizipation“?

Wer meint, Beteiligung aller gehöre so selbstverständlich zum Alltag, dass niemand etwas dafür tun muss, darf durchaus von „gelebter Partizipation“ sprechen oder schreiben. Wenn´s nicht so ist, dann passt besser: Partizipation würde ich gern mal erleben.

Foto:kallejipp/photocase.de

Das Bild von Eltern versus „StnMdKh“

Wie sind Eltern? Wer wissen will, ob diese Sorte Mensch, zu der immerhin große Teile der Weltbevölkerung gehören oder gehören werden, gemeinsame Eigenschaften hat, muss uns PädagogInnen besuchen, unsere Gespräche belauschen, unsere Fachbücher und Zeitschriften lesen. Denn wir denken gerne über Eltern nach. Vielleicht hat sich dabei, ähnlich wie beim Bild vom Kind, eine kollektive Vorstellung entwickelt. Nennen wir sie „Unser Bild von Eltern“. Weiter lesen

Piep, lieb, Appetit!

Wort und Essen gehören oft zusammen. Zum Beispiel im uralten Brauch, Mahlzeiten mit einem Tischspruch einzuleiten. Ein ziemlich paternalistischer Brauch ist das: Erst segnet der Chef die Speise, dann darf gegessen werden. Heute führen Tischsprüche eher ein Nischen-Dasein bei steifen Feierlichkeiten, hochrangigen Zusammenkünften oder im religiösen Kontext, nicht aber im deutschen Kindergarten. Hören wir mal rein, welche Worte dort gesprochen werden? Weiter lesen

Weisheiten über Dummheiten

Dummheit und Wortklauberei – ein weites Feld! Nur über wenige Themen gibt es so viele Sprich- und Schimpfwörter, Redewendungen und schlaue Zitate. Der Artikel als PDF zum herunterladen: Wortklauber_#4_2020 Was bedeutet dumm, und was ist der Unterschied zu doof? Ein Blick ins Herkunfts-Wörterbuch verrät: Dumm kommt von dumpf, dumpf von stumpf, stumpf aber von stumm….

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Zwölf ängstliche Fragen

Woher kommt die Angst?

Von Enge. Es wird eng, enger, engst – oder eben: Angst. Engst gibt es selten – nur beim Leben auf engsten Raume, im engsten Familien- oder Freundeskreis. Kein Wunder, dass man da gleich an Angst denkt.

Ist Angst typisch deutsch, siehe „german Angst“?

Zumindest benutzen Deutsche und nördlichere Germanennachfahren das Wort exklusiv. Im Vergleich zum knuffigen „Timor“ der Römer oder dem englischen „Fear“ klingt unser Wort besonders lautmalerisch: Immerhin schnürt sich einem für die Aussprache der vier Konsonanten automatisch der Hals zu, als müsse man sich durch diesen engen Gang aus n, g, s und t quetschen.

Was ist Furcht?

Furcht ist Angst, bei der man weiß, wovor man sich ängstigt. Furcht mag man vorm Tod haben. Früher hatte man Gott, den Kaiser oder den gestrengen Vater zu fürchten. Oder nur Gott. „Wir fürchten Gott und sonst nichts auf der Welt“, sagte man dann.

„Ich habe Angst vor Gott“ klingt im Grunde besser und heißt: Scheiße gebaut – und jetzt weiß ich nicht, wie er reagiert. Aber weil Furcht berechenbar ist, kann man einem Gott, den man fürchtet, trotzdem vertrauen. Wer das nicht tut, fühlt Heidenangst. Böse Christen haben eine Höllenangst, guten wird höchstens himmelangst.

Hat der Angsthase Angst?

Nein. Hasen und andere Fluchttiere stellen sich nix Gefährliches vor und handeln dann panisch, sondern gehen Gefahren ganz besonnen und präventiv aus dem Weg. Furchthase wäre vielleicht passender.

Wovor haben Menschen Angst?

Erwachsene Deutsche haben, sagt Umfrage 1 auf dem Portal Stastista, am meisten Angst, vor fremden Leuten zu sprechen. Dann folgen Höhenangst, Angst vor Geldmangel und tiefem Wasser. Erst danach kommen Spinnen und Insekten, Krankheit, Tod, Einsamkeit, Hunde, Fahrstühle und Dunkelheit.

Gibt’s auch eine Umfrage 2?

Klar, sagt Stastista. 2019 war die größte Angst der Deutschen, mit der Flüchtlingswelle überfordert zu sein. Davor war jahrelang Schiss vor den Kosten der Eurokrise angesagt. Und zwischen 2004 und 2010 war die Inflation unsere größte Angst. Ob Ängste wohl Moden unterliegen?

Ist Angst ein guter Ratgeber, schützt also vor Gefahren?

Wie man es nimmt. Tatsächlich sind nur wenige Deutsche in den letzten Jahren beim Sprechen vor fremden Leuten kollabiert, von hohen Bergen oder ins Wasser gefallen. Ob die entsprechende Angst uns vor Schlimmerem bewahrt hat, weiß man nicht.

Nicht geklappt hat Angst als Schutz­-
mechanismus vor Hunden. Davon zeugen fast 50.000 Hundebisse pro Jahr, darunter durchschnittlich 3,8 tödliche. Bedrohlich ist, dass die Angst vor dem Tod keine Schutzwirkung für fast 900.000 Deutsche jährlich hat.

Woran erkennt man Angst?

Wer Angst hat, schreibt die Hexal-Ratgeberseite, spürt Symptome wie Herzrasen, Herzklopfen oder schnellen, unregelmäßigen Herzschlag, Schweißausbrüche, fein- oder grobschlägiges Zittern, Mundtrockenheit, Atemnot, Kurzatmigkeit, Erstickungsgefühl…

Reagieren die Deutschen auf Inflation oder das Gefühl, mit der Flüchtlingskrise nicht klarzukommen, mit Mundtrockenheit und grobschlägigem Zittern? Nicht direkt, sondern gerade bei letzterem eher mit grobschlächtigem Twittern, wenn überhaupt.

Welche Ängste sollte man ernst nehmen, welche eher nicht?

Politiker haben Angst, nicht wiedergewählt zu werden, wenn sie die Ängste der Bevölkerung nicht ernst nehmen. Erzieherinnen haben Angst, Ärger zu kriegen, wenn sie die Ängste der Eltern nicht ernst nehmen, auch wenn diese nicht ernst zu nehmen sein sollten. Kinder haben manchmal Angst, sich zwischen den Ängsten der Eltern und denen der Erzieherinnen positionieren zu müssen.

Wer hat Angst vorm schwarzen Ma…?

Halt, stopp, das sagt man nicht mehr. Nicht, weil sonst der gefürchtete, schwarzgekleidete Mann kommt, der mit der Sense unterwegs ist und zu Pestzeiten als „schwarzer Tod“ seinen Auftritt hatte. Man sagt das nicht mehr und spielt es nicht mehr, weil man Angst hat, jemand könne denken, man meint jemanden, den man aufgrund besonderer Merkmale… Hat man zwar nicht gemeint, aber sicher ist: Nicht sagen und nicht spielen.

Wann geht es endlich um Sicherheit, das Gegenüber von Angst?

Jetzt. Gesichert ist, dass das Wort vom lateinischen „securus“ kommt, genau wie totsicher und sicherlich und die beliebte Antwortfloskel: „Na sicher!“

Doch was hieß das Wort ursprünglich? Etwa „frei von Gefahren“? Nein, die Römer waren viel moderner, als wir denken. „Securus“ kommt aus der Rechtssprache und bedeutet „frei von Schuld“ oder „nicht haftpflichtig“. Sicherheit hieß schon immer: frei von der Gefahr, Ärger zu kriegen.

Noch ne Frage?

Ja. Was ist Muffensausen?

Muffen sind Rohrenden. Auch unser körpereigenes Rohrsystem im unteren Baubereich hat ein Rohrende. Unter Einfluss großer Angst kann sich dort ein schneller, unkontrollierbarer Abfluss bemerkbar machen – ob man das nun Sausen nennt oder nicht. Klar?

Upps, noch ne Frage nach Redaktionsschluss: Ändert Corona alles, auch diesen Text?

Na ja. Was sich ändert: 2020 dürfte die Angst, mit der Flüchtlingskrise überfordert zu sein, vom ersten Platz in den Angst-Charts verdrängt werden. Und ob „engster Familienkreis“ und „Angst“ jetzt nicht mehr – oder jetzt erst recht – zusammengehören, muss jeder angesichts von Kontaktsperren selbst entscheiden.

Foto: knallgrün, photocase.de

Wir- Verwirrungen

Ich, wir und die Anderen heißt das Thema dieses Heftes. Wer ich bin oder du bist, ist klar. Wer aber sind „wir“? Und wer bleibt als „die Anderen“ übrig?

Versuchen wir, das zu klären! Hoppla, schon begegnen wir sofort der ersten Absonderlichkeit des Pronomens wir. Nicht du, Lesende oder Lesender, wirst jetzt etwas klären, sondern nur ich. Wenn ich trotzdem „wir“ zu mir sage, bin ich nicht vom Größenwahn besessen, eine Majestät zu sein – „Wir, Michael von wamikis Gnaden“ –, sondern verwende das Autoren-Wir. Es kommt wohl aus einer verstaubten akademischen Welt, in der es in wissenschaftlichen Texten als unfein galt, „ich“ zu schreiben – schließlich zog man seine Schlüsse quasi in Vertretung der gesamten Wissenschaft. Selbst wenn das „Wir“ uneitel klingen soll, rhetorisch hat es eine suggestive Wirkung: Wir rutschen zusammen in meine Argumentation hinein.

Und, was hätten wir heute gerne? Das proletarische Gegenüber des Autoren-Wir könnte man Fleischtheken-Wir nennen. Vielleicht will man sich im Beisein von Leberwurst und Kasslerkamm nicht siezen, hat aber – wiewohl angesichts des Ortes durchaus passend – noch nicht Blutsbrüderschaft geschlossen? In solchen Fällen kann das Pronomen „wir“ ein guter Ersatz für „du“ und „ihr“ sein.

Ähnliches passiert am Krankenbett, wenn der Landarzt huldvoll fragt, wie es uns heute gehe – und damit Einfühlungsvermögen vortäuschen will. Außerdem basteln wir ja gemeinsam am selben Genesungsvorgang herum.

„Wir“ hören wir oft auch in Krippen und jungen Familien: „Haben wir Kaka gemacht? Jaa, wir haben ein richtiges Stänkerchen gemacht!“

Selbst wenn das Wir ein Wir ist, meint es nicht immer die gleichen Personen. In den meisten europäischen Sprachen hat das eine Wort Wir zwei Funktionen, die der Fachmensch „inklusives“ und „exklusives“ Wir nennt. Das exklusive Wir meint, dass der Sprecher von sich und jemand anderem spricht, den Zuhörer aber nicht einbezieht: „Wir – Anette und ich – sind uns einig, dass du nicht dazu gehörst.“ Beim inklusiven Wir gehört der Angesprochene dazu: „Wir drei – also auch du – sind uns einig, dass du einfach nicht dazu gehörst.“ In vielen Sprachen im Pazifik­raum gibt es für beide Wir-Bedeutungen übrigens ein eigenes Wort.

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Hat es einen Vorteil, dass unser europäisches Wir so uneindeutig ist? Zumindest lässt es sich so besser instrumentalisieren. Wie wir Pädagogen wissen, wenn wir sagen: „Wir sind uns doch einig, dass die Garderobe kein Tobeplatz ist.“ Dass nicht die Kinder federführend an der Festlegung beteiligt waren, sondern nur die Kolleginnen Käthe und Grete, fällt sprachlich nicht auf. Auch wenn Politiker und Würdenträger appellieren, kaschiert die Doppeldeutigkeit des Wir Unklarheiten. „Wir alle müssen jetzt handeln“ kann heißen: „Ich und das ganze Kabinett tun endlich etwas.“ Oder: „Ihr da draußen müsst jetzt etwas tun, und wir hier oben sind im Geiste dabei.“

Ach, du liebes Wir! Weil du so sympathisch, aber verschwommen bist, hast du als einziges Pronomen Eingang in die Welt der Emotionen gefunden – als „Wir-Gefühl“. Allerdings ist der Begriff fast ein wenig verräterisch: Bei „Wir“ geht es nicht darum, wer tatsächlich teilhat, sondern wer gefühlt dazugehört. Es ist einfach wohltuend, sich als Teil von „Wir in NRW“, „Wir im Osten“ oder „Mia-san-mia-Bayern“ zu fühlen und beim verordneten Unternehmenscoaching „Vom Ich zum Wir“ zu gelangen. „Wir“ hilft, den zu Recht verpönten Nationalismus nicht aussprechen zu müssen, aber trotzdem anzudeuten. Etwa wenn im Sommer vorm EM-Duell „Ein Hoch auf uns“ intoniert wird. Klingt einfach smarter als „Deutschland lebe hoch!“

Sind wir irgendwann alle „wir“? Gefühlt bestimmt. Zum misstrauischen Beäugen oder Alltags-Diskriminieren gibt es ja immer noch „die Anderen“. Solange wir Anzeichen finden, dass die Anderen anders sein könnten als „wir“ und sich nicht ändern, solange sind wir „Wir“.

Foto: pip / photocase.de

Mach endlich Schluss!

Niemand muss so oft Schluss machen wie die PädagogInnen. Während der Normalbürger höchstens alle paar Jährchen etwas absagt, müssen die PädagogInnen den lieben langen Tag junge Menschen auffordern, etwas zu beenden. Weil die Freispielzeit um oder die Diktatschreibezeit abgelaufen ist, weil ein Zwist zur Kabbelei entartet, weil das Gebrabbel in der letzten Reihe nervt und das eben gehörte Widerwort unverschämt ist. Unzählige Momente, in denen sie zum Schlussmach-Wort greifen. Hören wir mal, welche Wörter zur Verfügung stehen.

Unter Möchtegernen

Möchtest du beim Schlussmachen sanft und einen Hauch partizipativ rüberkommen? Dann wähle den höflichsten aller Modi, nämlich den Konjunktiv, also den Mode-Modus. Verkünde: „Wäre es ok, wenn ihr mal damit aufhört? Wir müssten so allmählich mal zum Schluss kommen. Im Grunde ist die Zeit längst um. Also, ich fände es richtig toll, wenn jetzt jeder mal anfängt, aufzuhören…“ Ernte Zustimmung bei den Kindern: „Ja, wäre im Grunde wirklich toll, wenn wir das täten. Aber wir machen lieber weiter…“

Vorsicht vor falschen ­Konjunktiv- Freunden! Die formulieren streng: „Du möchtest jetzt bitte sofort mit dem Gebrabbel aufhören.“ Vielleicht klappt es ja, und das Kind glaubt, dass es das möchte.

Bei Sonunmachenwirs

Wenn du Überrumplungseffekte liebst, bist du bei den „Sonunmachenwirs“ richtig. Die rufen betont ruhig, aber einen Tick zu laut in die beschäftigte Kindergruppe: „So, nun legen wir alle unser Spielzeug beiseite… (Pause, in der die Kinder verwirrt ihre Sachen ablegen) … und räumen alles auf sei-näään Platz… (abermals Pause, den Blick wachsam schweifen lassen) … und gehen jääätzt ganz ruhig zum Ääässensraum.“

Die Technik der Massenhypnose wurde garantiert in einem solchen Kindergarten erfunden.

Bei den Warlords und -ladys

Du liebst knappe Kommandos und unbedingten Gehorsam? Eine Vielzahl gesellschaftlich akzeptierter Floskeln steht zum Schlussmachen bereit: „Finito! Kein Mucks mehr! Punkt, aus, Ende! Es reicht!“ Oder auf gut Italienisch: „Basta!“

Apropos „Es reicht“: Nutze „Es“-Formulierungen, um dich mit einer unsichtbaren Macht zu verbünden. „Mir reicht´s jetzt“ klingt nach übellaunigen Erwachsenen. „Es ist genug!“ heißt hingegen: Das objektiv aufgestellte Maß ist voll, und ich muss jetzt den Befehl von oben durchsetzen.

Arbeite im Ernstfall mit Lautmalerei: Wie eine Militärblaskapelle klingt ein akzentuiert und am besten in ­Proll-Berlinerisch ausgesprochenes „Hör – uff!“

Unter Sprücheklopfern

Es behagt dir trotz des Erfolges nicht, das Militärische? Dann kleide deine Kommandos einfach in putzige Sprich- oder Reimwörter. Sage „Ende Gelände“, obwohl das eigentlich keinen Sinn ergibt. Behaupte, dass „die Laube“ oder „der Lack“ fertig seien. Sorge für ein bisschen Grusel mit „Aus die Maus!“ Reicht das nicht, dann werde deutlicher: „Klappe zu, Affe tot.“

Bei den Fertigen

Wenn du nicht gern viele Worte machst, dann nutze „Fertig“, das Universalwort für Schlussmachen. Sag es, und Schluss ist.

 

Foto: Eva Blanco Fotografia, photocase

Die Erfindung von MINT

MINT ist kein Wort. Deswegen tut sich der Wortklauber zunächst schwer damit. MINT ist ein Akronym, also eine Abkürzung mehrerer Wörter durch deren Anfangsbuchstaben. Damit steht MINT in der Tradition des ersten Akronyms der Christenheit, nämlich INRI, der Inschrift auf dem Kreuz Jesu. INRI heißt – für alle Heiden unter der Leserschaft oder solche, die sich im Reliunterricht von anstrengenden MINT-Fächern erholten – Iesus Nazarenus Rex Iudaeorum. Was übersetzt heißt: Jesus von Nazareth, König der Juden. Dass die Römer als Verfasser einen ziemlichen Abkürzungsfimmel (Aküfi) gehabt haben müssen, ist offensichtlich, sparten sie zwar Zeit beim Einritzen der Buchstaben, aber gewiss litt die Verständlichkeit: Woher wussten Spaziergänger rund um Golgatha, für was die zwei Is, das R und das N stand?

Zwar enthält INRI zwei gleiche Buchstaben wie MINT, aber das hat nichts zu bedeuten, denn MINT heißt nicht „Moderne Iesus von Nazareth-Theologie“, sondern Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik. MINT spart also zunächst 15 Silben ein und führt die Angewohnheit von Schülern fort, die Namen unbeliebter Fächer zu kürzen – siehe Mathe, Nawi, Sowi und Reli.

MINT ist nicht nur ein Akro- sondern auch ein Apronym. Apronyme sind nämlich – gleich fürs nächste Kneipenquiz merken! – Abkürzungen, die ein neues sinnvolles Wort ergeben. Solche Wörter gibt es nicht viele, weil der Trend zur sinnvollen Abkürzung noch neu ist.

Apronyme gelingen, wenn beim Abkürzen einer unschönen Wortsammlung ein sympathisches Wort entsteht. Aus dem holzigen European Region Action Scheme for the Mobility of University Students wurde der nette Name ERASMUS. Nicht ganz so gut klappt die Sache bei der Elektronischen Steuererklärung, denn das Apronym ELSTER lässt alle Steuerpflichtigen sogleich an Diebstahl denken, weil sie Elstern – unberechtigterweise! – für diebisch halten.

Wer hat MINT erdacht? Intensive Internet-Recherchen ergaben leider keine klaren Anhaltspunkte, höchstens Verdachtsmomente. Vermutlich waren es Bildungspolitiker, die sich um den Nachwuchs in den vier früher als Jungs-Fächer geltenden Disziplinen sorgten. Als Suchbegriff ergibt MINT zahlreiche Treffer, bei denen auch das Wort „Mädchen“ an prominenter Stelle vorkommt. Wenn’s um Jungs geht, bleibt es oft bei Mathe, Informatik, Technik und diversen Naturwissenschaften. Geht’s um Mädels, verschmilzt alles zu MINT.

Schmelzen und Mint – wer denkt da nicht an ein leckeres Eis, bei dem man aufpassen muss, es nicht auf seine mintfarbene Hose zu kleckern? Ja, unser mint in Kleinbuchstaben ist ein waschechtes Modewort und vermutlich wie die mintfarbene Hose irgendwann in der Mitte der Achtziger eingewandert. Doch niemand sagt „Mint“ zu dem verdauungsfördernden Tee. Aber wenn aus dem wuchernden Fast-Unkraut coole Kaugummis, Kaubonbons oder Schokoladenspezialitäten hergestellt werden – das ist mint. Sonderbar.

Was wissen oder ahnen wir über MINTs Entstehung? Entweder hatte, wer aus Mathe, Informatik, Technik sowie Physik, Chemie und Bio, also aus Naturwissenschaften, MINT gemixt hat, einfach Glück, weil das entstandene Wort gut funktioniert. Immerhin wäre, wenn wir wie die Briten statt Naturwissenschaften Science sagen würden, ziemlicher MIST rausgekommen…

Oder war es so, dass ein paar Herrschaften nächtelang beisammen saßen und verzweifelt grübelten: „Wir brauchen so ein echtes ­Girlie-Wort, um diese Nawi-Fächer für Mädchen interessant zu machen. Hubert, du hast eine Tochter, was interessiert Mädels so?“ „Eis, Pferde, Mode…“ Ewig buchstabierte man dann: „P wie Physik, I wie Informatik, N wie Naturwissenschaft, jetzt noch was mit K….“ „Gibt´s nicht! Besser ist R wie Rechnen, O wie Oekologie, S wie Science und A wie… “ Bis dann einer sprach: „Nehmen wir einfach MINT!“

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Sechs Streitfragen

Gibt’s Streit? Frage eins ist schnell beantwortet: Ja, den gibt’s. Immer wieder. Obwohl ihn keiner macht.

Eine Eigenart hat das Wort „Streit“ nämlich: Es mangelt an passenden aktiven Verben. Streit kann man weder machen, erzeugen, leben, höchstens verursachen. In dieser Hinsicht ähnelt Streit einem Vulkanausbruch und einem Erdbeben, die sich ebenfalls von selbst ereignen. Genauso verhält es sich mit der militärischen Fortsetzung des Streits, dem Krieg: Den macht auch keiner, führt ihn höchstens (bloß: wohin?) oder erklärt ihn, damit klar ist, dass er da ist.

Willst du Streit? Frage zwei ist – mit drohender Faust vor der Nase – leichter beantwortet als nach längerem Nachdenken. Obwohl wir Frieden brauchen, scheint ein Bedürfnis nach Streit in uns zu stecken. Jedenfalls lassen Wörter wie „Streitlust“ oder „Streitsucht“ das vermuten. Politiker oder Unternehmer mit – ähem – pointierten Ansichten gelten gern als „streitbar“.

Besonders verräterisch aber scheint die Formulierung „Darüber lässt sich trefflich streiten“ zu sein, denn sie legt nahe, dass man das nur zu gerne tut. Eine Ausnahme gibt es, die oft bedauernd geäußert wird: Über Geschmack lässt sich – hier schieben viele Leute das Schlaumeierwort „bekanntlich“ ein – nicht streiten.

Frage drei lautet: Was gehört zum Streit? Dem Volksmund wie konflikt­geplagten Pädagogen geht die Antwort automatisch von der Zunge: Zum Streit gehören immer zwei. Eine Universal-­Antwort, die angestrengtes Nachdenken über Provokateure, Interessenausgleich zwischen Konfliktparteien und ungleiche Machtverhältnisse erspart: Jim und Jan streiten in der Bauecke, und weil zwei zum Streit gehören, sind sie selbst schuld. Das Opfer schreit, der Täter haut? Besser weitergehen, weil zum Streit eben zwei gehören.

Land A überfällt Land B? Sind eben typische Unruheherde voller Streitlust, die zwei. Besser nicht Partei ergreifen, denkt sich der Volksmund, sonst trifft das Lieblingssprichwort „Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte“ am Ende nicht mehr zu. Der „lachende Dritte“ hingegen macht sich die Sache leicht: „Ich will nicht wissen, wer angefangen hat, sondern wer aufhören kann.“

Wer streitet sich, wenn nicht ich? Die Antwort auf Frage vier: Streithansel.

Offenbar gibt es Menschen mit besonderer Neigung zum Streit. Vor ihnen muss man sich in Acht nehmen. Seit jeher hat der Volksmund dafür Fremde im Visier: Vor tausend Jahren waren es streitbare Wikinger, später verlegte sich das gefühlte Epi­zentrum erst nach Westen – die zerstrittenen, unruhigen Franzosen –, dann nach Süden zu den launischen Italienern und Spaniern, schließlich nach Osten, denn von den Polen stammt immerhin das Streit-Synonym Rabatz1. Besondere Streitlust aber attestierte man den eigenen Minderheiten. Lehnworte wie Zoff2 bezeugen das. Auch die immer noch gerne zitierten Kesselflicker haben rassistische Hintergründe, waren damit doch vor allem Roma gemeint, zu deren Broterwerb das Kesselflicken gehörte, ohne dass sie Mitglieder der entsprechenden Zunft waren.

Sind es heute immer noch die Anderen, die für Streit sorgen? Sicher. Vergleiche mal Berichte über „Randale im Asylbewerberheim“ und „familiäre Auseinandersetzungen bei deutscher Familie“.

Frage fünf: Ist öffentlicher Streit schlecht?

„Nicht vor den Kindern streiten“ lautet eine weitere Weisheit, die den Streit auf eine ähnliche Stufe wie öffentliche Liebesbezeugungen stellt. Obwohl Kinder sich „ständig in die Haare kriegen“, finden Volksmund und Volkspädagoge es wichtig, dass man stets „mit einer Stimme“ spricht, statt „Uneinigkeiten öffentlich auszutragen“. Die gleiche Haltung lässt sich Presseberichten über Politik entnehmen, wenn man auf ein Ende von „Asylstreit“, „Dieselstreit“ oder all den „Koalitionsstreitigkeiten“ hofft, als gäbe es nichts Wichtigeres als Burgfrieden im Staate. Selbst in windelweichen Wörtern wie „Meinungsverschiedenheit“ klingt an, dass die ideale Debatte doch eigentlich aus einem einstimmigen Austausch über gemeinsame Überzeugungen bestehen sollte.

Gibt’s – Frage sechs – auch gelassene Worte über Streit? Ja, und zwar in der Bibel, von dem streitlustigen, streitbaren und zu Recht umstrittenen Luther schön übersetzt: „Jegliches hat seine Zeit, Frieden hat seine Zeit, und Streit hat seine Zeit.“

1 Polnisch: rabac = hauen

2 Jiddisch: sof = mieses Ende