Alle anders

Hier gibt es den Artikel als PDF: Panorama_#4_2022

Help!

Was singen die wamikis beim Fertigstellen dieser Ausgabe?

Hört selbst. Hier ist die wamki-Hitliste zum Thema „Auffällig“:

Was ist Neurodiversität?

Hast du schon einmal von AD(H)S oder dem Autismus-Spektrum gehört? Oder fühlst du dich manchmal rat- und hilflos, weil dich einzelne Kinder (und Erwachsene) mit ihrem Verhalten irritieren? In diesem kostenlosen (pädagogischen) Onlinekurs erläutert die Dozentin Anne Kuhnert kurzweilig und spannend, was Neurodiversität bedeutet und welche Wirkungen Nichtverstehen und Abwerten für das Leben und Lernen von betroffenen Kindern und Erwachsenen haben können.

Alle behindert?

Dieses Buch macht Schluss mit dem seltsamen Einteilen in „Eingeschränkt“ hier und „Normal“ dort. Es geht um uns alle.

25 bekannte Beeinträchtigungen inklusive deiner eigenen kannst du hier näher kennenlernen. Ab 5 und für alle.

 

So bin ich und wie bist du?

Toleranz, Integration, Inklusion, kulturelle Vielfalt – lauter wichtige Werte, die wir Kindern vermitteln möchten. Nur wie, ohne dass es überkorrekt, langweilig und abstrakt rüberkommt? Pernilla Stalfelt buchstabiert das Thema Toleranz so unterhaltsam und witzig durch, dass man gar nicht merkt, wie sehr man ins Mitdenken gerät. Ab 5.

Klassiker für alle ab 2

Es freut sich der Hase mit der roten Nase: „Wie schön ist meine Nase und auch mein blaues Ohr, das kommt so selten vor!“ Die eingängigen Reime im Bilderbuch von Helme Heine, erzählen davon, anders zu sein und dass gerade in der Vielfalt das Glück liegt. Zum Vorlesen für Kinder ab 2.

Anders sind wir alle!

Oft kommt es zu Erstaunen, Ausgrenzung oder Streit, wenn Kinder nicht verstehen, warum jemand anders aussieht oder sich anders verhält. Dieses Praxisheft für Erzieher*innen enthält 40 Projektideen zu fünf Bilderbüchern zum Thema: Vielfalt leben und schätzen.

 

Unsichtbar werden

Kannst du dich unsichtbar machen? Teile von dir vervielfachen? Können wir unsere Kräfte vereinigen? Kinder spielen gern mit Veränderungen, Verwandlungen und Variationen der eigenen Identität. Die Photoshop-Software kann dabei Werkzeug und Bündnispartner für Kinder und Erzieher*innen werden.

Schau durchs Fenster!

Schmulst du gern heimlich in andere Häuser? In Katerina Goreliks Bilderbuch darfst du nach Herzenslust in fremde Fenster schauen. Kocht die liebe ältere Dame, die in einem Topf rührt, wirklich nur das Mittagessen – oder ist sie vielleicht eine Hexe, die einen Zaubertrank braut? Und – oh Schreck! – was macht der hungrige Wolf denn dort im Wohnzimmer? Erst beim Umblättern siehst du, was sich wirklich in den Häusern abspielt – und dass es nicht immer das ist, was du erwartest …

Ein originelles Bilderbuch mit ausgeschnittenen Fenstern, das zum Entdecken überraschender Szenen einlädt und mit den eigenen Erwartungen spielt. Ab 3.

Foto: Krockenmitte/photocase.de

Eine Grammatik des Auffallens

„Auffällig“ heißt das Thema dieses Heftes. Das Wort hat es in sich, obwohl es doch – Achtung: Wortspiel – so unauffällig daherkommt. Denn „auffällig“ kann mit ganz unterschiedlichen positiven wie negativen Wertungen versehen sein, die sich gut unter der Unauffälligkeit des Wörtchens verstecken lassen.

Begeben wir uns auf eine Reise durch verschiedene Deklinationen des Wortes und ganz unterschiedliche Verwendungsweisen.

Ich falle auf.

Wer diese drei Wörter selbstbewusst ausspricht, merkt: Mit dem Auffallen hat es eine besondere Bewandtnis. Obwohl das Verb im Aktiv steht, ist Auffallen keine aktive Tätigkeit. Ich kann zwar durch besonderes Benehmen oder Bekleidung versuchen, die Aufmerksamkeit anderer Leute auf mich zu ziehen. Aber ob ich auffalle oder nicht, entscheiden letztendlich die anderen. Das wissen besonders die Menschen, die aufgrund von Behinderung, Hautfarbe, Körpergröße, Gewicht oder anderer Dispositionen auffallen, ohne dass sie das möchten. Sie werden ständig betrachtet, während das „Mauerblümchen“ übersehen wird.

Interessant: „Ich falle mir auf“ funktioniert sprachlich, aber nicht inhaltlich.

Du fällst mir auf.

Viele persönliche Beziehungen beginnen mit einem besonderen „Auffallen“. Person A nimmt unter vielen anderen Menschen Person B als etwas Besonderes wahr. Person B fühlt sich entweder geehrt, weil sie Person A aufgefallen ist, oder ihr ist A selbst „aufgefallen“. Ideale Grundlage für einen Flirt? Dazu sagen WissenschaftlerInnen: Offenbar finden Menschen andere Personen besonders dann positiv „auffallend“, wenn sie erstens gängigen Schönheitsklischees entsprechen und zweitens im positiven Sinne durchschnittlich wirken. „Du bist mir gleich aufgefallen“ könnte also heißen: „Du erinnerst mich an einen Mix aus diversen Schönheitsklischees.“

Er fällt auf.

In vielen Märchen, Mythen und Geschichten gibt es einen „besonderen“ Mann oder Jungen. Joseph aus der Bibel sieht mit besonders buntem Rock besser aus als seine Brüder. Mozart ist schon als Kind ein Wunderknabe, Leonardo wird es als Erwachsener. Viele dieser Helden fallen erst auf und dann auf die Fresse: Mozart verarmt, Siegfried wird ausgetrickst, Van Gogh wird verrückt… Zwar scheint die Zeit der Heldenverehrung heute passé. Doch immer noch führen uns Filme und Bücher den „auffallenden“ männlichen Einzelkämpfer vor, der die Dinge auf seine Art regelt – von Wickie im Trickfilm bis zum eigenbrötlerischen Kommissar im Sonntagskrimi.

Sie fällt auf.

Als auffallende Männer noch das Nonplusultra waren, waren auffallende Frauen verdächtig. In den Kinderbüchern der Fünfzigerjahre waren das beispielsweise die „Wildfänge“: Mädchen, die durch burschikoses Verhalten, lautes Lachen und allzu kräftige Stimmen auffielen, bevor sie dann von einem toleranten Jung-Förster gezähmt wurden. Auch heute noch gelten Frauen als auffallend, wenn sie sich in Männerdomänen behaupten wollen. Dann zeigen sie „ungewöhnliche Härte“, „eisernen Willen“ oder „beißen“ gar männliche Rivalen weg, die sich ihnen eigentlich überlegen fühlten.

Es fällt auf…

…dass es immer bestimmte Personen sind, die…

Egal, ob es um Kevins Verhalten im Matheunterricht oder statistisch ermittelte Durchschnittsverhaltensweisen irgendwelcher Bevölkerungsgruppen geht: Die Formulierung „Es fällt auf…“ bietet sich immer an, wenn man Vorurteile und Vorverurteilungen loswerden möchte, ohne allzu konkret zu werden. Zum Beispiel fällt auf, dass viele Maskenverweigerer in der Bahn männlich sind, eine bestimmte Herkunft haben, bis zum Plattenbauviertel fahren… Das Praktische an diesem „Es fällt auf…“ ist: Achtet man mal darauf, ob etwa „alle Kevins verhaltensauffällig sind“, wird jeder Treffer dieses Bild bestätigen.

Ist dir schon aufgefallen, dass unter den Maskenverweigerern wirklich jede Bevölkerungsschicht vertreten ist? Eben.

Wir fallen auf!

Auffallen kann sehr schön sein, wenn man es gemeinsam tut. Fällt der Kirchen­chor aus Bad Sumpfingen durch lautes Gackern in der Berliner S-Bahn auf, steigert das die Stimmung der Beteiligten. Gemeinsames Auffallen hat nämlich nichts mit dem Leid einsamen Auffallens zu tun, sondern verleiht das Gefühl: Jetzt setzen wir die Norm, indem wir gegen die von der Mehrheit gesetzte Norm verstoßen! Viele eher randständige soziale Gruppen genießen es, ihr individuelles Außenseitersein durch gemeinsames Auffallen zu kompensieren.

Ihr fallt auf!

Häufig hören Kinder in Gruppen und erst recht Jugendliche diese streng gemeinte Feststellung – gerne garniert mit dem Adjektiv „unangenehm“. Wer die Formulierung verwendet, macht klar, dass er auf der Seite derjenigen steht, die über richtiges – „unauffälliges“ – und falsches Verhalten entscheiden. Dazu steht im Widerspruch, dass wohl jede pädagogische Einrichtung heute behauptet, „jedes einzelne Kind im Blick zu haben“. Damit das auch wirklich klappt, ist Auffallen aber geradezu nötig. Andererseits suggeriert der Tadel „Ihr wolltet immer auffallen“, dass es nichts Besseres gibt, als von Päda­gogInnen übersehen zu werden.

Sie fallen auf.

So geht „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“: Man ordnet Menschen einer Gruppe zu, um ihnen danach eine gemeinsame Differenz zum angeblich „Normalen“ zu unterstellen. Ein Trick, der fast in jeder Diktatur funktioniert, weil er Gruppen besser stabilisiert als jedes Teambildungs-Seminar. Norbert Elias1 kennt das Rezept: Man bildet aufgrund irgendwelcher simpler Merkmale (Hautfarbe, Religion, Sprache, Körpermerkmale) eine Außenseiter-Gruppe, der man die als negativ wahrgenommenen Eigenschaften innerhalb der eigenen Gruppe unterstellt („gemein zu Frauen“, „geizig“, „fauler als andere Menschen“). Das entlastet die eigene Gruppe („Ich bin nicht so frauenfeindlich wie die…“) und vereinfacht die Rollenfindung auf beiden Seiten. Innerhalb kleinerer Gruppen übernehmen die anfangs irritierten „Außenseiter“ nun teilweise die vorgegebenen Rollen­eigenschaften, um nicht noch mehr „aufzufallen“.

1 Der deutsch-britische Soziologe Norbert Elias (1897-1990) gilt als einer der Begründer der modernen Soziologie.

Foto: Jonathan Schöps/photocase.de