Gedicht: Sarah Kirsch

Trauriger Tag

Ich bin ein Tiger im Regen

Wasser scheitelt mir das Fell

Tropfen tropfen in die Augen

 

Ich schlurfe langsam, schleudre die Pfoten

die Friedrichsstraße entlang

und bin im Regen abgebrannt

 

Ich hau mich durch Autos bei Rot

geh ins Café um Magenbitter

freß die Kapelle und schaukle fort

 

Ich brülle am Alex den Regen scharf

das Hochhaus wird naß, verliert seinen Gürtel

(ich knurre: man tut was man kann)

 

Aber es regnet den siebten Tag

Da bin ich bös bis in die Wimpern

 

Ich fauche mir die Straßen leer

und setz mich unter ehrliche Möwen

 

Die sehen all nach links in die Spree

 

Und wenn ich gewaltiger Tiger heule

verstehn sie: ich meine es müßte hier

noch andere Tiger geben

 

Teaserfoto: Bratscher / photocase.de

Gedicht: Christian Morgenstern

Drei Hasen
Eine groteske Ballade

Drei Hasen tanzen im Mondschein
im Wiesenwinkel am See:
Der eine ist ein Löwe,
der andre eine Möwe,
der dritte ist ein Reh.

Wer fragt, der ist gerichtet,
hier wird nicht kommentiert,
hier wird an sich gedichtet;
doch fühlst du dich verpflichtet,
erheb sie ins Geviert
und füge dazu den Purzel
von einem Purzelbaum,
und zieh aus dem Ganzen die Wurzel
und träum den Extrakt als Traum.

Dann wirst du die Hasen sehen
im Wiesenwinkel am See,
wie sie auf silbernen Zehen
im Mond sich wunderlich drehen
als Löwe, Möwe und Reh.