Der Rechtsruck bei den ­Braunbären

„Ich finde schlümm…“, sagt John, „dass die Schüldkrötenkinder einfach zu uns rüberkommen und unsere Spielsachen wegnehmen. Das dürfen die nicht!“ Erzieherin Sarah erklärt geduldig, dass der Kindergarten nun schon eine Weile offen arbeitet, weshalb alle Kinder aus allen Stammgruppen außerhalb der Morgenkreiszeit in alle Räume dürfen. Davon profitieren auch die Braunbären und können bei den Schild…

„Die kommen aber nur zu uns“, ereifert sich Joscha, „weil wir das schönste Spielzeug haben!“

„Wir könnten denen was abgeben“, schlägt Cora vor. Als die anderen die Augen verdrehen, greift der kleine Kurt vermittelnd ein: „Ich finde gut, dass andere Kinder zu uns dürfen. Aber nicht die Schildkröten! Da sind richtig böse dabei! Eine große Kröte klaut sogar Sachen aus unseren Garderobenfächern!“

„Hey, stoppi!“ ruft Sarah. „Selbst wenn das stimmen sollte – dann sind doch längst nicht alle Schildkrötengruppenkinder Diebe.“

„Aber fülleicht fast alle“, jammert John.

„Kinder, wenn die Schildkröten nicht mehr zu uns dürften“, simuliert Sarah Nachdenklichkeit, „dürften wir noch in den Schildkrötenraum?“

„Iiih, keiner will zu denen! Die haben sooo doofes Spielzeug!“ krakeelen die Braunbären.

„Heute muss ich was ganz Schlümmes erzählen“, berichtet John anderntags bei der Braunbären-Kinderkonferenz. „Einer aus der Krötengruppe hat Baby Anna voll fies geschubst. Jetzt kommt die nie mehr in die Kita! Die ist verletzt!“

„Schubsen darf keiner, weder ihr noch die Schild…“, will Sarah intervenieren, aber die Kinder sind nicht zu bremsen: „Alle Kröten sind Klopper!“ „Die können richtig zwicken, Sarah! So!“

„Aua, Malte, das tut weh!“

„Frau Meister soll die alle aus dem Kindergarten rausschmeißen“, schluchzt Annika hemmungslos.

„Macht doch eine Demo“, schlägt Sarah vor. „Für friedliches Miteinander!“

Die Kinder sind begeistert und skandieren lautstark: „Bärenraum für Braunbären, Krötengruppe raus!“ Jemand malt eine Schildkröte auf eine Pappe, streicht sie schwungvoll durch, und das Demo-Poster wird im Triumph durch den Raum getragen. Ein Heidenspaß! Nur Sarah bekommt Hektikflecken.

Derweil widmen sich ein paar Demo-Teilnehmer schon den Details. „Die Kröten sehen hässlich aus“, findet Lara. „Eine heißt Babett und ist fett, sooo fett!“ Mit beiden Händen deutet Lara einen riesigen Bauchumfang an.

„Das sagt man aber nicht!“ ruft Sarah tadelnd.

„Soll ich etwa sagen, die ist sooo dünn?“ kontert Lara und markiert einen Strich. „Soll ich etwa lügen?“

„Man darf nicht Kaka und Pipi sagen, nicht Fett-Babett und Scheiß-Krötengruppe!“ empört sich Malte. „Darf man nur sagen, was die Azia erlauben?“

„Wir müssen ganz klar dagegen steuern. Das geht ja gaaar nicht!“ verkündet Ilona Meister, die Leiterin, bei der Teambesprechung, und Sarah verspricht sofort: „Morgen oder spätestens übermorgen rede ich Klartext mit den Kindern, ein richtiges Donnerwetter. Danach holen wir die Schildkrötengruppe rüber, feiern ein Jeder-ist-hier-willkommen-Fest und überreichen allen Schildkröten selbstgemachte Freundschaftsbändchen.“

„Realistisch bleiben, Sarah“, mahnt die Leiterin. „Ein kleines Dönnerchen tut es auch. Und um den Druck aus der Sache zu nehmen, sollten wir die offenen Zeiten etwas verkürzen. Wir könnten zum Beispiel festlegen, dass die Gruppen während des Angebots und des Morgenkreises unter sich sind. Mittags und beim Ruhen sind sie es ja ohnehin. Früh- und Spätdienst lassen sich auch gruppenweise gut organisieren. Während der Freispielzeit bleibt zwar alles offen wie gehabt, aber es gibt die glasklare Regel, dass man vor Betreten des Raums fragen muss, ob die Nachbargruppe besucht werden will. Und natürlich müssen die Besucher, also zum Beispiel die Schildkröten, bei den Bären nachfragen, ob sie das Spielzeug benutzen dürfen – und welches. Denn die Braunbären haben in ihrem Heimatraum natürlich glasklar Vorrang. Wär das was?“

Sarah nickt erleichtert, und Ilona spricht das Schlusswort: „Wir schaffen das.“

 

Foto: Julia Kuzenkov/Unsplash

Michael Fink ist Autor und Fortbildner.

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