Fünf Organisationen – die Bundesarbeitsgemeinschaft Elterninitiativen, die Bundeselternvertretung, die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, das Institut für den Situationsansatz in der INA gGmbH und der Pestalozzi-Fröbel-Verband – verfassten im April 2016 eine Stellungnahme zum Vorhaben der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), mit der internationalen Studie „Early Learning Assessment“ Lernergebnisse in frühkindlichen Bildungsprozessen zu erfassen, zu vergleichen und zu bewerten. Dr. Christa Preissing erklärt, welche Gründe es gab, vor der Beteiligung Deutschlands an dem OECD-Vorhaben zu warnen.
Dr. Christa Preissing: Mit den Stellungnahmen wollten wir Einfluss auf die Entscheidung der Ministerin Manuela Schwesig nehmen. Wir wollten verhindern, dass Deutschland sich an dieser Studie beteiligt. Das ist gelungen.
Welche Länder sich an der ersten Phase der Studie beteiligen, wissen wir noch nicht. Wenn die Ergebnisse veröffentlicht werden, rechnen wir damit, dass ein ähnlicher Prozess einsetzt wie nach der PISA-Studie. Auch an dieser Studie beteiligte sich Deutschland anfangs nicht. Nachdem die ersten Ergebnisse veröffentlicht wurden, trat Deutschland bei und beteiligte sich an den Folge-Phasen. Deshalb befürchten wir, dass mit „Kindergarten-PISA“ Ähnliches passieren wird.
Weshalb bezweifeln Sie den Sinn dieser Studie?
Dr. Christa Preissing: Ich habe grundsätzliche Bedenken, die Leistungen von Kindern zum Gegenstand internationaler Vergleichsstudien zu machen. Das hat mehrere Gründe.
Der Hauptgrund: Ich bin der Auffassung, dass man Kinder nicht miteinander vergleichen sollte, denn das setzt ja voraus, dass man eine Norm hat, an der die Kinder gemessen werden. Solch eine Norm enthält eine Vorstellung von Normalität, die ich grundsätzlich in Frage stelle, wenn wir davon ausgehen, dass jedes Kind unendlich viele Potenziale in sich trägt. Die pädagogischen Fachkräfte, aber auch die Familien haben die Aufgabe, Kinder zu stärken, damit sie möglichst viele dieser Potenziale entfalten können. Bei Messungen von Leistungen nach einer bestimmten Norm wird immer nur ein sehr reduzierter Ausschnitt in den Blick genommen. Das geht aus methodischen Gründen auch gar nicht anders. Man greift immer auf Kompetenzen zurück, die von außen definiert sind und Kindern mit ungewöhnlichen Potenzialen nicht gerecht werden. Solche Potenziale kommen gar nicht in den Blick. Aus methodischen Gründen wird zudem von oben herab definiert, was Kinder in einem gewissen Alter können oder welche Kompetenzen sie aufweisen sollen. Verräterisch ist für mich in diesem Zusammenhang der Begriff der „Vorläuferfähigkeiten“.
Was ist damit gemeint?
Dr. Christa Preissing: Damit sind Fähigkeiten gemeint, die Kinder in der Schule oder im Beruf brauchen. Es wird also immer von oben herab definiert, was Kinder in einem bestimmten Alter können sollten, damit sie in späteren Lebensphasen erfolgreich sind. Der Erfolg wird an den Leistungen in der Schule gemessen. Also nicht daran, wie viel kritisches Potenzial Kinder haben, welche eigenwilligen Vorstellungen oder Alternativen zu gängigen Regeln sie entwickeln, wie fantasievoll sie sind. Die Norm presst die Kinder in eine Form, die ihnen nicht gerecht wird. Und meinem Bild vom Kind – vom Menschen überhaupt– auch nicht.
Mein zweiter grundsätzlicher Einwand: Es handelt sich um eine internationale Vergleichsstudie. In solchen Studien dominieren immer nord-westlich gesetzte Normen. Von vornherein kann man prognostizieren, dass Kinder aus süd-östlichen Regionen dieser Welt schlechter abschneiden werden, denn soziokulturelle Komponenten werden nicht berücksichtigt. Es wird ein universales Bild vom Kind konstruiert – über Entwicklungspsychologie und Testapparate –, das Kindern, die nicht in nord-westlich geprägten Mittelschichtkulturen aufwachsen, in keiner Weise gerecht wird.
Diese Debatte um die sogenannte kompensatorische Erziehung führen wir im Westen der Republik schon seit den 1960er Jahren und fragen: Geht es darum, alle Kinder mittelständischen Normen anzupassen? Das war und ist eine fachpolitische Debatte. Inwiefern widerspricht die OECD-Studie auch fachpolitischen Positionen, die sich mittlerweile hierzulande herausbildeten und seitdem Gegenstand der hiesigen Bildungspläne und -programme sind?
Dr. Christa Preissing: In unserer Stellungnahme verweisen wir darauf, dass unser Bildungsverständnis – es variiert zwar regional, besitzt aber eine große Schnittmenge – besagt: Bildung ist mehr als die Ausprägung bestimmter kognitiver Fähigkeiten, umfasst die Entwicklung der Persönlichkeit und ihr Vermögen, soziale Gemeinschaften zu bilden und die Welt eigenverantwortlich umzugestalten.
Das Vorhaben, die Messung kindlicher Kompetenzen ins Zentrum einer Vergleichsstudie zu stellen, ignoriert dieses umfassende Bildungsverständnis. Zwar wird es nicht generell in Frage gestellt, aber es wird ausgeblendet, wenn es um die Auswahl der Messmethoden geht, die Literacy, frühe mathematische Grunderfahrungen und die Fähigkeiten der Kinder, sich selbst zu regulieren und sich in ein formales Bildungssystem einzupassen, erfassen sollen.
Es geht also letztlich um die Fähigkeit der Kinder, sich in die Systeme einzupassen, die in den jeweiligen Teilnehmerländern herrschen?
Dr. Christa Preissing: Ja. In unserer Stellungnahme kritisieren wir auch unser formales Bildungssystem Schule, denn wir sehen, dass die soziale Herkunft immer noch der Hauptvoraussagefaktor für den Bildungserfolg in der Schule ist. Die Schule ist eben nicht in der Lage, soziale Benachteiligung aufzugreifen und auszugleichen. Unser formales Bildungssystem setzt immer noch darauf, dass Eltern viel tun, um ihre Kinder in der Schule zu unterstützen. Mütter und Väter, die diese Möglichkeit nicht haben, weil sie keine hohen Bildungsabschlüsse und keine Partizipationsmöglichkeiten haben, sind dazu nicht in der Lage. Ihre Kinder werden deshalb immer schlechter abschneiden als andere Kinder. Deshalb finde ich es diskriminierend, solche Normen zu setzen.
Ist ein Untersuchungsansatz denkbar, der diese Art der Diskriminierung ausschließt?
Dr. Christa Preissing: In Berlin, aber auch andernorts haben wir den Weg eingeschlagen, nicht die Kompetenzen der Kinder zu messen, sondern die Qualität des pädagogischen Handelns derer, die Verantwortung dafür tragen, dass Kinder ihre Potenziale entfalten können. Man darf nicht verschleiern, wer diese Verantwortung trägt. Nämlich wir – als Vertreter der Mehrheitsgesellschaft, die in der Lage sind, sich an der Definition von Normen zu beteiligen. Dafür haben wir Qualitätsansprüche und -kriterien entwickelt.
Was müsste dem Entwurf eines Forschungsdesigns vorausgehen, das solche Ansprüche erfüllt?
Dr. Christa Preissing: Eine Debatte, die Fragen der Inklusion und Partizipation beinhaltet, wurde in Ansätzen geführt – auch vor dem Start dieser OECD-Studie. 2015 gab es ein halbes Jahr lang die Möglichkeit, sich an der Entwicklung des Forschungsdesigns zu beteiligen, und Deutschland machte mit. Aber es war klar, dass das aus forschungsökonomischen Gesichtspunkten scheitern musste, denn in sechs Monaten lassen sich keine Forschungsmethoden entwickeln, die geeignet sind, Unvorhergesehenes bei Kindern einzubeziehen. Von vornherein war klar: Man wird auf Forschungsmethoden zurückgreifen, die bereits erprobt und validiert sind. Interessanterweise sind das Tests aus den späten 1960er bis 1970er Jahren, die in den USA, in Kanada und Großbritannien entwickelt wurden. Schon während meiner Studienzeit wurden sie kritisiert.
Kontakt
Dr. Christa Preissing ist Direktorin
des Berliner Kita-Instituts in der
Internationalen Akademie Berlin.
Wortlaut der Stellungnahme des Instituts für den Situationsansatz, der Bundeselternvertretung, des Pestalozzi-Fröbelverbands, der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft und der Bundesarbeitsgemeinschaft Elterninitiativen vom 16. 4. 2016