Volk ohne Raumkonzept? Nicht mit uns!

Wir sind Pädagogen. Weil wir das sind, denken wir pädagogisch. Das geht so: Bei allem, was wir denken, denken wir zusätzlich noch über etwas Anderes nach. Über die Kinder, die Eltern, die Lernziele, die Werte, die Zukunft, die Gegenwart. Und dabei planen wir Handlungen, so durchdacht, wie niemand anders das kann. Auch in Bezug auf Raum tun wir das. Wenn andere Leute darüber schmunzeln – bitte sehr. Sie haben die Möbel – wir haben das Raumkonzept! Übrigens gibt es nicht nur eins. Es folgt ein Überblick über die wichtigsten Raum-Konzepte deutscher Kindereinrichtungen.

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Der Raum als anregungsreiche Umgebung

Wenn Praktikantin Ismena morgens den Gruppenraum betritt, versteht sie dieses Konzept ganz automatisch: „Ich würde ja die Hauschuhe anziehen, bevor ich reinkomme“, regt Gudrun, ihre Ausbilderin, an. Außerdem regt sie an, „doch mal den Schneeflockentanz einzuüben, die Lehrer an der Fachschule lieben das“. Nachmittags erhält Ismena die Anregung, sich doch besser eine „ordentlichere“ Frisur zuzulegen, denn: „Was sollen die Eltern denken?“ Jetzt brauche ich mal einen anregenden Kaffee, denkt Ismena.

Der Raum als Wohnzimmer

Kinder brauchen Räume, in denen sie sich zu Hause fühlen, erklärt Irmgard, eine konsequente Verfechterin des Wohnzimmer-Ansatzes: „Und mit zu Hause meine ich: bei mir zu Hause!“

Demzufolge sieht das Konzept Materialien vor, die sich schon im Ur-Raumkonzept des Irmgardismus bewährt hatten: die behagliche Couch, das Bild mit der großen Kinderträne und die Elefantenfiguren-Sammlung. Zuhause-Atmosphäre vermittelt auch Irmgards Raumregel. Sie erklärt: „Ich bin kein Freund riesiger Regelposter, auf denen steht, was die Kinder alles nicht dürfen. Bei mir gibt es nur eine Regel: Irmgard bestimmt!“

Der Raum als Informator

„Liebe Eltern“, begrüßt uns ein Poster in der Eingangshalle, „herzlich willkommen in der Kita Wurzelbaude“.

„Moment mal“, quengelt ein anderes Poster. „Hier begrüße ich, das Ernährungsgrundsatzplakat, die Gäste!“

„Nö, nö! Ich, das Leitbild katholovangelischer Kindertagesstätten begrü…“

„Lassen Sie die Poster doch quatschen“, flüstert uns ein kleiner Aushang zu: „Ich stelle Ihnen die Bildungsziele der Drachengruppe vor. Ganz großgeschrieben wird bei uns psycho-aktive Motorik-Bewusstheit…“

„Kappes!“ brüllt ein Poster dazwischen. „Ich weiß, was Sie wissen wollen! Elias – das ist Ihrer, oder? Der hat sich heute vom Brokkoli sogar was nachgeholt, yeah! Und Stuhlgang zweimal, das zweite Mal übrigens in der drittletzten Windel…“

Der Raum als Lernanlass

„Kinderräume sind Bildungsräume“, erzählt Leiterin Beatrix begeistert. „Deshalb gibt es in unserem Raumkonzept keinerlei Zufälligkeiten. Spiele sind für uns Lernspiele. Die Bilder an der Wand sind für uns Inspirationen zum Nachmachen, Weiterspinnen, Andersmachen. Bälle sind für uns geometrisch klar geformte Bildungskörper mit zahlreichen Möglichkeiten, sie rollend oder springend in Bewegung zu erleben. Stühle sind für uns Bildungsmöbel, die Kinder motorisch herausfordern und zu immer neuen Fragestellungen rund ums Sitzen provozieren. Fenster sind für uns Bildungswandlö…“

„Äh, sorry. Ich muss mal…“

„Kein Ding! Eine Bildungstür weiter, vorbei an der Bildungsgarderobenleiste, die zum An- und Abhängen von Jacken animiert, befindet sich unser Bildungsfunktionsraum ,Welt der Verdauung´. Die Inspirationsbilder dort fordern Sie zu zahlreichen Betätigungen auf, mit denen Sie sich die Bildungssanitärkeramiken zu eigen machen können, klein oder groß!“

Der Natur-Raum

„Kinder haben den Kontakt zur Natur weitgehend verloren“, klagt der dreadlockige Ronny. „Sie halten sich überwiegend in klimatisierten Räumen auf, erleben Kälte oder Regen nicht mehr, kennen keine Insekten…“

„Dann arbeiten Sie wohl in einer Wald-Kita, Ronny?“

„Schön wär´s“, sagt der junge Mann. „Nee, öffentlicher Dienst in Berlin. Aber Natur-Erlebnisse haben wir trotzdem: Wenn der Herbstwind oder der Novemberregen durch die kaputten Fensterrahmen dringt. Wenn die Kinder den Schimmel an der Wand zum Hof abpopeln, am fauligen Bein des Esstischs die Kompostierung von Holz erforschen oder im Schlafraum die Lebensbedingungen des gemeinen Hausschwamms. Und wenn sie an der Fußbodenleiste auf Entdeckungstour… Moment. Hey, Malte! Das ist ein Lebewesen, kein Spielzeug! Wie oft sage ich: Finger weg von den Kakerlaken!“

Der Raum als Architekten-Bühne

„Isch suber gworde“, lobt Bürgermeister Glöckele den Architekten Lars de Gropusier bei der Eröffnung des Kita-Neubaus. Der antwortet: „Die Architektur dieses Hauses soll nicht zuletzt ein gewandeltes Verständnis von Pädagogik vermitteln. Und Respekt vor Kindern, die nicht mehr mit 08-15-Chic abgespeist werden. Mit den bodentiefen Fenstern, den weißen Wänden, dem Fußbodenbelag aus gebürsteter Eiche, den Einbaumöbeln im Bauhausstil und der cappuccino-braun gedimmten Cafeteria in unserer weiträumigen Piazza will ich den Kindern ein völlig neues Lebensgefühl ermöglichen. Apropos Kinder: Ihr Schmutzfinken mit Farbfingern und Drecksohlen, ihr geht jetzt bitte sofort in den Altbau!“

Der allen gerecht werdende Raum

„Diese Einrichtung wird von Kindern aus 44 Kulturen besucht“, berichtet Fachberaterin Dörte. „Das widerspiegelt sich auch in der Einrichtung, so dass sich die Kinder jedweder Hautfarbe, Ethnie, Sprache und Gesellschaftsschicht wiederfinden können. Das sieht man an unserer Spielzeugausstattung: Zur Auswahl stehen ein Vollholz-Bobbycar und ein tiefergelegtes bereit. Eine Babyborn ist gepierct, und wir haben auch eine voll verschleierte Persona Doll. Im Kaufmannsladen haben wir einen Bereich eingerichtet, in dem nur veganes Zubehör liegen darf. Oder die Bauecke: Zur Inspiration haben wir nicht nur ein Kirchen-Foto aufgehängt, sondern auch das einer Moschee, eines Hindu-Tempels und eines Naturreligion-Heiligtums.“

„Und das Foto mit dem Allee-Arkaden-Center?“

„Das ist für alle Kinder aus Familien, die an nix glauben – außer an Konsum.“

Michael Fink ist Autor und Fortbildner.

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