Vom Recycling-Fasching zum Tante Emma-Laden

Wer Mathematik kreativ und handlungsorientiert unterrichten möchte, dem kann die Verknüpfung mit dem Fach Kunst interessante Perspektiven eröffnen. Besonders fruchtbar ist ein Tandem aus Lehrern beider Fächer, die zusammen ein Thema erarbeiten und ihre Ressourcen dabei optimal für die gemeinsame Sache nutzen können. Bleiben sie während des Lernprozesses offen für die Ideen und kreativen Potenziale der Kinder, offenbaren sich ganz neue Lernwelten. Ein Bericht aus der Grundschule der bundtStift-Schulen in Strausberg.

20 Schülerinnen und Schüler sitzen an einem Berg Müll und sortieren Joghurtbecher, Plastiktüten, Tetrapacks und PET-Flaschen. „Ich habe noch drei Joghurtbecher gefunden“, sagt die sechsjährige Hanna und bringt sie ihrer Mitschülerin Meike, die in einer Ecke des Raums bereits riesige Stapel unterschiedlicher Formen und Größen zusammengetragen hat. Meike fügt ihrer Liste drei Striche hinzu.

Hanna fragt den neunjährigen Tom: „Wie viele Becher haben wir jetzt?“ Gemeinsam beugen sie sich über die Liste. Der Junge erklärt: „Schau mal, vier Striche werden immer vom fünften gebündelt, wie ein Päckchen.“ Hanna zählt die 5er-Päckchen.

„5 plus 5 = 10, das ist viel einfacher“, wirft die achtjährige Meike ein, nimmt einen farbigen Stift und bündelt 10er-Päckchen. „So, jetzt können wir zählen“, sagt sie.

Paul rechnet laut: „Es sind acht 10er-Päckchen, also 8 mal 10 = 80.  Kommt noch 1 mal 5 dazu, plus 3.“ „88“, platzt Meike dazwischen. „Prima“, lobt Paul.

Ella ist noch nicht zufrieden, ihr sind die 5er-Päckchen lieber. Darum zählt sie sie in aller Ruhe nach: „… 16, 17 plus 3.“ Zufrieden legt sie den Stift beiseite. Das genaue Ergebnis ist ihr gar nicht so wichtig. „Ganz schön viele…“, findet sie.

Allerdings! Viel, viel Müll. Recycling, darum geht es in dieser Projektwoche, und täglich kommt mehr Müll dazu – Material für einen Fasching der besonderen Art, auf den sich die Schülerinnen und Schüler aller Jahrgangsstufen vorbereiten: Recycling-Fasching. Vorgeschlagen von den Kunst- und Theaterpädagogen, eingebettet in einen Ausflug in sachkundliche Themen.

Bei den Kindern stößt der Vorschlag zunächst auf Skepsis. Zu gern hätten die Jüngeren ihre Prinzessinnen- und Cowboykostüme getragen. Die Älteren finden Verkleiden ohnehin albern.

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Mittlerweile sind aber alle voll bei der Sache. Die ersten Kostümideen werden schon umgesetzt, vor allem die älteren Kinder sind kaum zu bremsen. Ihre Kreationen erinnern an futuristische Visionen aus den 1980er Jahren. Auf einem Laufsteg sollen die Kostüme präsentiert werden, wünschen sich die Kinder. Viel mehr als das Verkleiden beschäftigt sie jedoch der Müll. Die Mengen, die sich in nur einer Woche angesammelt haben, lösen wilde Spekulationen aus. „Wenn wir so weitermachen, können wir bald im Müll baden“, sagt die achtjährige Nina. „Dann ist die ganze Schule voll, und der Müll quillt aus den Fenstern“, mutmaßt der neunjährige Tim. „Außerdem sterben die Fische wegen der Plastiktüten.“ Da schießen der kleinen Hanna Tränen in die Augen. Sie findet das nicht lustig und sagt, dass ihr die anderen Kinder Angst machen.

Im Sitzkreis wird Hannas Reaktion aufgegriffen. Die Kinder stellen ihre Fragen und benennen ihre Ängste. So unvorstellbar groß sind die Mengen an Müll, die wir Menschen produzieren, dass auch mir ganz komisch zumute wird. Ich erzähle den Kindern, wie es früher war, als es noch nicht so viel Müll gab. Als noch alle Menschen mit ihren Einkaufskörben losgezogen und es noch keine Plastiktüten gab. Das weckt ihr Interesse, und alle Trübsal ist wie weggeblasen. Ganz genau wollen sie wissen, was ein Tante Emma-Laden ist. Sie sind begeistert vom Wiegen und Messen, von Milchkanne und Bonbonglas. Schon kurz vor der Pause steht fest: Der nächste Mathematik-Unterricht soll im Tante Emma-Laden stattfinden.

5 er P_ckchen

 

Tatsächlich stehen Gewichte und Geld als nächstes in der Schuljahresplanung. Wir schreiben einen Brief an die Eltern, in dem wir sie bitten, mit den Kindern Grundnahrungsmittel einzukaufen und die Kassenzettel in die Schule mitzugeben. Was schließlich daraus wurde, überraschte auch mich und löste Stürme der Begeisterung bei Kindern, Eltern und Kollegen aus. Von wenigen gezielten Einführungen abgesehen, lernten die Kinder selbstständig, spielend und voller Fantasie in ihrem Laden.

Gerade die abstrakten Begriffe aus der Mathematik, die wir in unserem Alltag so beiläufig verwenden, sind für Kinder schwer zu begreifen. Als der neunjährige Max das 1 Kilogramm-Gewicht an Nina weiterreicht, ruft sie erstaunt: „Das ist aber schwer!“ Dieses Staunen gehört in den Mathematik-Unterricht, denn: Was nutzt es, wenn die Schülerinnen und Schüler aus der 3. Klasse wissen, dass 1 Kilogramm 1000 Gramm entspricht, aber  keine Vorstellung davon haben, wie schwer es sich anfühlt? Sie müssen erleben, wie viele Äpfel die Balkenwaage bewegen und schließlich dieses wunderbare Gleichgewicht herstellen. Die Kinder als Handelnde in den Lernprozess einzubeziehen – das ist an dieser Stelle besonders wichtig.

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Der Tante Emma-Laden funktioniert aber vor allem als Spielort, als Bühne für improvisiertes Rollenspiel. „Was darf  es denn noch sein?“ fragt der neunjährige Tom freundlich. „Ich hätte gern 1 Kilogramm Kartoffeln“, antwortet die achtjährige Anne. Tom legt das 1 kg-Gewicht auf die Waage. Danach stapelt er behutsam Kartoffel für Kartoffel auf die zweite Waagschale. Gespannt beobachten die beiden Kinder, wie langsam ein Gleichgewicht entsteht. „Darf es etwas mehr sein?“ ahmt Tom die Verkäuferin aus dem Gemüseladen nach. „Aber sicher“, antwortet Anne. Nachdem sie mit Spielgeld bezahlt hat, packt sie die Kartoffeln in ihren Einkaufskorb. Den hat sie sich natürlich mitgebracht!

Schlagwörter wie Handlungskompetenz und anregende Lernumgebung haben seitdem eine neue Dimension bei uns. Den Tante Emma-Laden gibt es nun schon seit sechs Jahren als feste Größe in der Schuljahresplanung. Von Jahr zu Jahr entwickelt er sich weiter. Nur eins ist er nie geworden: langweilig.

Foto: Raimar Fritsch

bringt in ihre Arbeit als Pädagogin an einer Schule mit reformpädagogischem Ansatz Erfahrungen aus den Bereichen Theaterplastik, Bühnen- und Szenenbild ein. Besonders durch die Verbindung der Fächer Mathematik und Kunst entstehen spielerische Ideen für ein handlungs- und erlebnisorientiertes Lernen.

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