Wird gegessen, was auf den Tisch kommt?

Wie viel Partizipation ermöglichen pädagogische Fachkräfte, wenn sie in Krippen Essenssituationen gestalten? Prof. Dr. Frauke Hildebrandt, oft in Brandenburger Kitas unterwegs, erlebt immer wieder auch Essenssituationen, für die sie sich besonders interessiert, weil sie so aussagekräftig sind, was Partizipation anbelangt. wamiki-Redakteurin Erika Berthold hat mit ihr gesprochen.

Hier gibts den Artikel als PDF: Interview Hildebrandt_#5_2020

Nach welchen Maßstäben beurteilten Sie Ihre Beobachtungen?

Erlebe ich Mahlzeiten in Kitas mit, achte ich immer auf das, was für mich Partizipation ausmacht: Hat ein Kind die Wahl, was es isst? Wird ihm eine Alternative angeboten, wenn es das, was es gibt, nicht mag? Kann es trinken, wenn es das möchte? Hat es freie Platzwahl? Beteiligt es sich am Tisch-Decken und Abräumen? Kann es, wenn es in die Krippe geht, die Speisen selbst erreichen? Kann es das Besteck wählen, ein Lätzchen nehmen oder nicht? Kann es sich die Speisen selbst auftun? Erkennt die Erzieherin, dass ein Kind Assistenz braucht, und hilft ihm, ohne seinen Arm zu führen? Oder füllt sie von vornherein alle Speisen auf? Und wie geht sie mit Widerstand von Kindern um? Was tut sie, wenn ein Kind etwas nicht will?

Außerdem interessierte mich, wie am Tisch kommuniziert wird: Wie redet die Erzieherin mit den Kindern? Versucht sie, die Kinder in Tischgespräche einzubeziehen? Gibt es Kommunikation unter den Kindern? Wenn ja – worüber? In Krippen achtete ich darauf, ob die Erzieherin am Tisch etwas thematisiert und die Kinder so einbezieht, dass sie Unterschiede wahrnehmen. Macht die Erzieherin deutlich: Uns allen schmeckt etwas besonders gut, aber jedem etwas Anderes.

Lassen sich Tendenzen beschreiben?

Grundsätzlich bestätigte sich meine Annahme, dass es große Unterschiede in der Art gibt, wie Essenssituationen strukturiert werden. Wenn ich in eine Kita kam, wirkte völlig selbstverständlich, was geschah – als ob man es nur so und nicht anders machen könnte. Egal, ob die Kinder die freie Wahl beim Essen hatten, selbst den Tisch deckten und beim Essen kommunizierten oder ob sie an den Tisch geschoben wurden, mit unter den Tellern fixierten Lätzchen, und kosten mussten, was auf den Tisch kam. Es ist ein Phänomen, dass so ein Mikrokosmos „Kita“ Regeln etabliert, die unumstößlich erscheinen – in der einen Einrichtung diese Regeln und in der anderen, vielleicht am gleichen Ort, andere Regeln.

Zwar ist die Essenssituation eine ritualisierte Situation, aber selbst in der gleichen Einrichtung kann sie unterschiedlich gestaltet sein, während Schlaf-Situationen häufig abgestimmt sind: Gibt es drei Schlafgruppen? Müssen alle Vorschulkinder schlafen? Oder können sie frei wählen? Beim Essen hingegen gestaltet die zuständige Erzieherin die Situation.

Was beobachteten Sie?

In den meisten Krippengruppen deckten die Erzieher­innen den Tisch. Die Kindere waren nicht beteiligt und wählten ihre Plätze am Tisch auch nicht selbst aus.

Sie wurden also oft platziert?

Ja, und meist taten sie sich das Essen nicht selbst auf. Manchmal nahmen sie sich eine Speise selbst, andere Speisen nicht. Nur selten bekamen die Krippenkinder beim Essen verlässlich etwas zu trinken, nur wenige gossen sich selbst etwas ein. Ob sie ein Lätzchen haben wollen oder nicht, das durften nur wenige Kinder entscheiden.

Erstaunlich fand ich, dass Kinder in manchen Gruppen mit den Händen essen und bestimmen durften, wie viel sie essen und trinken möchten. Die Mehrzahl hatte dabei allerdings gar nichts zu melden. Die meisten Kinder durften auch nicht aufstehen, wenn sie mit dem Essen fertig waren. Und nur ganz wenige Kinder banden sich ihre Lätzchen selbst um, was sowieso nicht bei allen Lätzchen möglich ist.

Wurde bei Tisch gesprochen?

Dieses Thema interessierte mich besonders, und ich stellte fest: In der Krippe fanden so gut wie keine Tischgespräch statt. Da passierte fast immer sehr wenig beim Essen, nichts wurde initiiert. Ich kenne das Phänomen zwar aus der Literatur, aber es ist doch merkwürdig, dass ich das so oft erlebte. In manchen Gruppen hieß es sogar, dass Sprechen am Tisch nicht gewünscht ist, weil man sich dann leicht verschluckt. Mich wundert dass, weil ja die Essenssituation für uns DIE soziale Situation überhaupt ist. Fallen gemeinsame Mahlzeiten weg, fallen die wichtigsten strukturierenden sozialen Austauschsituationen weg. Wenn wir jemanden kennenlernen, also Kontakt aufnehmen wollen, verabreden wir uns nicht einfach so, sondern zum Essen oder auf ein Glas Wein…

In den Krippen war bei Tisch höchstens mal eine Anweisung der Erzieherin zu hören: „Stell das bitte hin.“ Oft sitzt die Erzieherin auch nicht dabei, sondern organisiert Abläufe, wischt den Tisch ab und schiebt Geschirr an die „richtige“ Stelle.

Was passierte, wenn Kinder miteinander kommunizierten?

Da habe ich auch sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht. In einigen Situationen waren die Kinder durch Blicke oder mit Wörtern durchaus in Kontakt. In anderen war jedes Kind auf sich fixiert, weil die Kinder so weit auseinander gesetzt wurden, dass sie sich nicht in die Quere kommen konnten. Wahrscheinlich ging es den Erzieher­innen darum, Zusammenstöße von Gegenständen mit Folgen, die Handlungen erfordern, zu vermeiden. Überhaupt hatte ich oft den Eindruck, dass die Essenssituation, obwohl sie hochgradig prägend ist, eher als organisatorische und weniger als pädagogische Situation wahrgenommen wird.

Worüber sprachen die Erzieherinnen bei Tisch?

Jedenfalls selten über etwas, das an die Erfahrungen der Kinder anknüpfte. Sie könnten ja fragen: „Hast du schon mal Reis gegessen? Gibt es bei dir zu Hause auch Kartoffelbrei?“ Oder: „Erinnert ihr euch? Gestern gab es Kartoffeln, heute gibt es Kartoffelbrei. Wie fühlt der sich an?“ Das fand nicht statt. Dabei ist es so wichtig, dass sie darüber sprechen, gerade in der Krippe, und sagen: „Guck mal, dem Peter schmeckt Brokkoli! Ich mag den ja nicht. Mir schmeckt Blumenkohl besser.“ Oder: „Du möchtest bestimmt noch mehr Tomatensoße. Das sehe ich dir an.“

Warum ist das so wichtig?

Eine Erzieherin muss die Emotionen, Absichten und Wünsche junger Kinder zum Ausdruck bringen, damit alle Kinder merken: Jeder Mensch hat ein Innenleben und wird mit seinen Wünschen oder Vorlieben erfahrbar. Dem muss sie Worte geben, muss beschreiben, was in einem Kind vorgeht oder vorgehen könnte. Es kommt aber nur äußerst selten vor, dass über die Innenwelt der Kinder gesprochen wird. Das fand ich schlimm.

Immerhin sprachen die meisten Erzieherinnen grammatisch korrekt.

Erlebten Sie auch Übergriffe, die Sie gar nicht billigen?

Ich erlebte Szenen mit, von denen ich dachte: Das kann nicht wahr sein! Ich sah in Stühlen fixierte Kinder, die sich nicht selbst herausbewegen konnten. Ich sah auch oft, dass Kinder ohne Vorankündigung nach dem Essen gereinigt wurden: Von hinten kam eine Hand mit dem Waschlappen und wischte ein Kindergesicht ab. Die Reinigung wurde also nur als Hygiene-Maßnahme betrachtet und nicht als eine Form der Interaktion mit einem Menschen. Ich erlebte, dass Kinder gefüttert wurden, obwohl sie keinen Hunger mehr hatten, und immer wieder zum Essen gedrängt wurden.

Wehrten sich Kinder gegen derlei?

Ja. Und es gab viele Erzieherinnen, die Widerstand wahrnahmen. Andere nicht. Dann schrie ein Kind schon mal eine Weile, und das wurde ertragen, während die anderen Kinder scheinbar ruhig weiteraßen. Daraus lässt sich folgern, dass solche Situationen nicht als für Kinder entwicklungshemmend angesehen werden.

Andererseits erlebte ich Gruppen, in denen eine offene, eigentlich normale Atmosphäre herrschte: Die Kinder und Erwachsenen setzten sich miteinander hin, achteten aufeinander, reichten sich etwas zu. Trotzdem habe ich den Eindruck: Das ist nicht die Mehrzahl. Die Kontraste sind groß.

Woran mag das liegen?

Da bin ich unsicher. Zum einen gibt es den Personalmangel. Der wird natürlich gerade in stark ritualisierten Situationen, die in relativ kurzer Zeit „über die Bühne gebracht“ werden müssen, besonders deutlich. Zum anderen glaube ich, dass man vor dem Hintergrund der DDR-Erziehung zum Kollektiv noch immer eine Form von Pragmatik pflegt: Wir essen gemeinsam, fangen zusammen an, hören gemeinsam auf, und jeder isst, was auf den Tisch kommt. Schließlich müssen wir nicht auf jeden individuelle Pups Rücksichtig nehmen. Besser man lernt früh, die eigenen Bedürfnisse zurückzustellen. Sonst kommt diese egoistische Ellenbogengesellschaft heraus, die wir jetzt haben. Das wollen wir für unsere Kinder aber nicht.

In den DDR-Krippen wurde viel Wert auf Selbstständigkeit gelegt: Ich kann meine Schuhe schon allein zubinden! Und aufs Helfen, zum Beispiel beim Tischdecken oder Abräumen.

Ja, das stimmt. Beim Tischdecken sah ich das manchmal. Bei der Entscheidung, wie viel die Kinder essen wollen, eher nicht. Und zum Kosten wurden sie oft aufgefordert. Ich glaube aber, dass es Fachkräften nicht bewusst ist, warum und wie sie etwas in Essenssituationen gestalten. Wahrscheinlich gibt es so einen ideologischen Unterbau, wie ich ihn spüre, gar nicht so häufig. Sondern: Etwas wird einfach so gemacht, und die Regeln wirken oft wirklich sehr fest, obwohl es in der einen Einrichtung völlig andere sind als in der anderen. In einer Kita sollten die Kinder vor dem Essen trinken, „damit es besser rutscht“, in der anderen war das ein absolutes No-Go: „Dann trinkt man sich doch satt.“ Übrigens sind diese Regelkontraste, wenn man von außen guckt, eine lehrreiche Erfahrung. Man merkt, dass ziemlich viel dessen, was hart gilt, auf Sand gebaut ist.

Warum ist das mit dem Kosten eigentlich so etwas Sensibles?

Diese Idee, dass man alles kosten, also in den Mund nehmen soll, finde ich unsäglich. Es ist eine Autonomie angreifende und grenzverletzende Angelegenheit. Man nimmt doch Lebensmittel nicht nur mit dem Mund wahr! Man sieht und riecht sie doch! Man hat eine Vorstellung davon! Demzufolge kann man selbst entscheiden, ob man sie in sich aufnehmen möchte.

Natürlich können die Fachkräfte Speisen attraktiv präsentieren, eine angenehme Atmosphäre schaffen – dann sind Kinder eher bereit, etwas zu probieren. Aber manches schmeckt ihnen jetzt einfach noch nicht, sondern erst später.

Auch der Fokus auf gesundes Essen nervt mich. Natürlich ist es gut, Wert auf Gesundes zu legen, wenn man Ernährung thematisiert. Aber aus meiner Sicht sind Essenssituationen soziale Situationen. Will man einander kennen lernen, dann verabredet man sich zum Essen oder Trinken, möchte mit den Bedürfnissen, die man hat, respektiert werden, geht davon aus, dass Grenzen, die man setzt, gewahrt werden, und dass man das Recht hat zu bestimmen, was man aufnimmt. Beim Essen finden grundlegende Lernprozesse für die gesamte Entwicklung statt. Ein Kollege sagte mal: „Wenn du wissen willst, was in den Familien los ist, dann setz dich an ihren Tisch.“

Gilt das für die Krippe auch?

Na, klar! Und dann merkt man, dass die Kinder nicht als gleichberechtigt angesehen werden.

Was Erwachsene beim Essen zelebrieren, scheint für die Kinder nicht zu gelten.

Genau. Sicher ist das nicht überall so, aber viel zu häufig. Kleine Kinder werden abgefüttert, und zwar möglichst mit etwas Gesundem. Doch die Hauptproblematik für die Gestaltung der Essenssituation ist nicht Gesundheit, sondern Mangel an Respekt. Das finde ich merkwürdig, weil Kinder mit ihren Bedürfnissen, Interessen, Fragen und Kompetenzen in anderen Situationen schon viel stärker in den Blick genommen werden. Aber beim Essen – besonders bei den jüngeren Kindern, wie mir scheint – klappt da etwas zu. Als ob sich irgendwelche alten Denkmuster konserviert haben, von denen wir annehmen, es gibt sie nicht mehr. Mit autonomen Wesen würde man jedenfalls anders umgehen.

Im BMFSFJ-Projekt „Beteiligung im Kita-Alltag“ (BiKA) gucken wir uns jetzt Partizipationssituationen an, und zwar in mehr als 80 Krippen deutschlandweit. Neben Spielen und Buch-Anschauen auch die Essenssituation. Ich bin gespannt, was wir für Ergebnisse bekommen.

Erika Berthold ist freie Journalistin und Redakteurin bei wamiki.

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