Auf gut Deutsch

Unser Land ist „deutsch“, und wir erkennen einander im Ausland nicht nur an unseren Funktionsjacken und konzentrierten Mienen, sondern vor allem an der Sprache, selbst wenn ein sächsisches oder hessisches Idiom mitmischt. Aber meint das Wort „deutsch“ nur die Sprache oder mehr? Ist man erst richtig deutsch, wenn man auch deutsch spricht?

Fragen, denen dieser Text mit urdeutscher Gründlichkeit nachgeht. Weiter lesen

Das Wesen der Demokratie –

Eine Wort- und Bildklauberei

Hier gibt es den Wortklauber als PDF: Wortklauber_Gedicht_#3_2024

Vom „Wesen der Demokratie“ liest man oft.
Aber wie sieht es eigentlich aus, das „Wesen der Demokratie“?

Ein Blick auf die Google-Bildersuche zu Begriffen wie „Demokratie + Kita“ oder „+ Schule“ liefert interessante Hinweise. Die Fotos zeigen meist Pädagog*innenhände, die kreidestaubig das Wort „Demokratie“ an die Tafel schreiben, oder Schüler­hände, die sich mit ausgestrecktem Zeigefinger in die Höhe recken. Demokratie scheint also zu bedeuten: vor der Tafel stehen, etwas sagen wollen – und darauf warten müssen, bis man dran ist. Wer quatscht, ohne aufgerufen zu sein, hat in dieser „Demokratie“ offenbar schlechte Karten. Demokratie heißt: Es gibt Regeln – und wenn du dich nicht daran hältst, Pech gehabt!

Auch die Cover von Büchern oder PDFs zum Thema Demokratie sprechen Bände. Auf den Titelseiten sieht man Kinder, die mit Modera­tionskarten oder überdimensionalen Puzzleteilen hantieren. Die Farben sind matt – als wolle man betonen: Demokratie ist wichtig, aber auch so spannend wie die Lektüre der GEW-Zeitung oder von Frank-Walter Steinmeiers neuestem Buch im Urlaub.

Sprachlich ist Demokratie oft eine Zumutung. Sie produziert endlose Phrasen. Geh mal in eine Buchhandlung und schau dir die Titel zu „Demokratie & Bildung“ an: „Partizipation in Praxisprojekten“. Das Spannendste daran ist, sich nicht beim Aussprechen dieses Zungenbrechers zu verhaspeln – Praxitipation in Partyprojekten?

In Teamsitzungen versuchen Kita- und Schulteams oft, das nebulöse Thema „Demokratie“ in Wortwolken zu packen. Dann steht das „T“ vom waagerecht geschriebenen „Partizipation“ gerne für „Teilhabe“ – was leider nur die wortwörtliche Übersetzung ist. In Texten reiht man möglichst viele „Mitbestimmungs“-Wörter aneinander, um bedeutungsschwer zu wirken: „Wir sind für Mitwirkung UND Mitbestimmung“, „Wir setzen auf Beteiligung, Mitgestaltung und Partizipation“. Klingt wichtig, aber bleibt bedeutungsleer.

Foto: David-W-, photocase

Apropos Partizipation: Ist unstrittig, dass es ein Nomen ist? Ja. Umso erstaunlicher, dass unzählige Kitas auf ihren Homepages stolz verkünden: „Bei uns wird Partizipation großgeschrieben!“ Kein Bäcker würde sagen: „Brot wird bei uns großgeschrieben.“ Aber in der Pädagogik lieben wir es, alltägliche Handlungen in bedeutungsvolle Akte zu verwandeln.

Und wann erlebt man nun das „Wesen der Demokratie“? Blättert man durch Partizipations-PDFs, fällt auf, dass Kinder oft nur dann befragt werden, wenn es um Verhaltensprobleme geht. Kinderkonferenzen scheinen vor allem dafür da zu sein, dass Kinder ihre Konflikte selbst klären. Immer wieder werden „Regeln gemeinsam festgelegt“ – und dennoch kommen in fast allen Kindergärten dieselben Sätze heraus: „Nicht schubsen.“ Bei Erwachsenen regeln solche Fragen eher Gerichte, nicht Parlamente.

Das „Wesen der Demokratie“ hat offenbar ein Imageproblem: staubig, blass und langwierig zu erreichen. Täglich, so heißt es in den Handreichungen, müsse man Demokratie üben, üben, üben – wie das Geigenspiel. In Sesamstraßen-Kategorien gedacht, ist Demokratie zu 100% Bert. Kein Wunder, dass sich manche dann nach den chaotischen Ernies oder dem Krümelmonster sehnen, die fröhlich ihren eigenen Vorteil im Blick haben.

Gibt es Alternativen? Oh ja! Man muss Demokratie so leben, wie sie eigentlich ist: als das Zusammen­treffen völlig unterschiedlicher Bedürfnisse, verrückter Ideen und sowohl laut geäußerter als auch schüchterner Vorschläge. Was viele der trockenen Bücher über­sehen: Demokratie kann lustig, utopisch und regelrecht spannend sein. Während das Gegenmodell – Autokratie oder „Pädagogokratie“ (Ich bestimme für euch) – sich verdammt langweilig anfühlt, wenn man nicht gerade die Person ist, deren Ideen umgesetzt werden.

„Ich habe eine verrückte Idee, du auch, und du bist total dagegen … Lass uns ausprobieren, was draus wird!“ Demokratie kann richtig spannend sein, wenn man sie nicht nur übt, weil man muss.

Giftige Fragen

Den Artikel gibt es hier als PDF: Wortklauber_#2_2024

Gift ist das Thema des Heftes. Ein Thema mit merkwürdigem Beigeschmack, was wiederum überraschend gut zum Begriff „Gift“ passt. Schmeckt der Tee, den du mir servierst, nicht irgendwie verdächtig? Was verbindet unsere Kultur mit Gift, und was unseren Bildungsbereich? In diesem Text untersuchen wir anhand von sieben Fragen unsere Beziehung zum Gift.

Warum heißt „Gift“ so wie das englische Wort für Geschenk?

„Gift“ ist ein Wort mit harmloser Wurzel. Es entstammt dem Niederdeutschen und ist eine Form von „geben“, die also „Gabe“ bedeutet: Du givst mi wat, un dat is dann Gift. Im Englischen, das sich unter anderem aus Plattdeutsch entwickelt hat, ist diese Form erhalten geblieben, ebenso in der deutschen „Mitgift“. Mit „Gift“ bezeichnete man im Deutschen zunächst jede Form von wohltuender Gabe im Sinne einer Medizin. Weil aber fast jede Arznei bei falscher Dosierung giftig ist, siehe auch den Spruch „Die Dosis macht das Gift“, entwickelte sich die heutige Bedeutung von Gift.

Ist der Giftmord eine Spezialität von Frauen?

Männer morden mit roher Gewalt, Frauen mit Gift: Uralt ist die Vorstellung, dass vor allem Frauen Giftmörderinnen sind. Die Statistik bestätigt diese These nicht. Denn erstens morden Frauen ohnehin viel seltener als Männer, und zweitens gibt es auch keine besonderen statistischen Auffälligkeiten in Bezug auf die Verwendung von Gift.

Aber woher kommt die Vorstellung?

Sie ist ziemlich alt und wurde wohl vor allem durch literarische Giftmörder­innen geprägt. Erinnern wir uns an die Bibel, in der die erste menschliche „Sie“ – Eva – durch unbedachten Genuss eines toxischen Apfels unseren Aufenthalt im Paradies beendet hat. Eines der wenigen als weiblich bezeichneten Tiere – die Schlange – spielte dabei die Hauptrolle.

Die Vorstellung der Giftmörderin passt gut zu einem ungleichen Bild der Geschlechter, bei der Männer unvergleichlich stark sind – und Frauen nur die Möglichkeit haben, mit List statt mit Stärke zu morden. In Krimis lebt das Bild überraschend oft fort, wo immer wieder der Satz fällt: „Also von der Körperkraft her kommt nur ein Mann als Täter in Frage!“

Ist toxisches Verhalten eine Spezialität von Männern?

Etwas modernere Männer morden nicht mehr, sondern beißen Konkurrent*innen weg, lautet eine weitere Vorstellung rund ums Gift: Ein solches Verhalten wird heute oft mit dem Ausdruck „toxische Männlichkeit“ bezeichnet.

Interessant, dass der Begriff ur­­sprünglich eine leicht abweichende Bedeutung hatte und aus einer progressiven Männerbewegung der Siebziger- oder Achtzigerjahre stammt: Mit „Toxische Männlichkeit“ bezeichneten die Erfinder des Begriffes das klassische Selbstkonzept von Männern, bei dem Gefühle verdrängt und Gesundheitsgefahren ignoriert werden. Indem Männer nach dem Motto „Ein Junge weint nicht“ leben und Alkohol, Nikotin sowie Schlägereien als Ausdruck ihrer Rollenerwartung begreifen, vergiften sie sich selbst — voll „toxisch“.

Inzwischen scheint der Fokus mehr auf den Opfern männlichen Dominanzverhaltens zu liegen, was die Frage aufwirft: Gibt es das Ringen um Macht und Einfluss auch in von Frauen geprägten Arbeitsbereichen wie in der frühen Bildung? Verwenden Erzieherinnen und Lehrerinnen die gleichen ­toxischen Sprüche und Ausgrenzungsmechanismen, die an Männern ausgemacht werden, kaschieren sie diese eventuell besser unter dem Deckmantel, es doch einfach nur gut für alle zu meinen oder machen zu wollen?

Ist heute alles giftig?

Sieht man sich im Lebensmittelladen, beim Möbelgeschäft oder der Drogerie um, hat das Thema Gift eine große, wenn auch unterschwellige Präsenz: Was dort angeboten wird, ist oft „frei von“ allerlei als giftig geltenden Stoffen. Was die Frage aufwirft, ob Produkte ohne angegebene Schadstofffreiheit bei unbedachtem Konsum zu Vergiftungserscheinungen führen könnten? Berechtigte Warnungen von Verbrauchermagazinen haben mittlerweile das Bild erzeugt, dass überall irgendeine Form von Gift drinsteckt: PFAS in der Pfanne und der Outdoorjacke, FODMAPS im Roggenbrot, all die E’s im Joghurt, Weichmacher im Sofa, Radioaktivität im Steinpilz … Vielleicht ist es Folge dieser Vielzahl von Gefährdungen, dass zunehmend auch virtuelle Güter als „giftig“ gebrandmarkt werden: Medien „vergiften“ durch einseitige oder falsche Darstellung das Volk, Computerspiele sind „toxisch“ für die Jugendlichen, kesse Sprüche „vergiften“ sachliche Diskussionen, und jedes *innen am Wortende vergiftet mindestens „den Leser“, vielleicht auch „die Leserin“.

Ist überall Gift drin, wo früher reine Natur war?

Nein, wenn überhaupt ist das heutige Gift subtiler unter uns. In der Zeit schlechter Heizungen war die Innenraumluft voller Feinstaub; die Fabriken vergifteten ungestört Fluss und Luft; aus Armut wurden schimmlige Speisen oder gar als potentiell giftig geltende Pilze verzehrt. Die Gefahren durch Gifte in unserer Wohlstandsgesellschaft sind dazu – und im Vergleich zum Alltagsleben in wirklich armen Ländern! – lächerlich gering.

Mögen Kinder Gift?

Wer im Rollenspielraum zuschaut, wie Kinder die Kernszenen aus Schneewittchen nachspielen, könnte den Eindruck bekommen. Es macht großen Spaß, erst mit hämischem Gesichtsausdruck Apfelsaft mit Puderzucker zu verrühren, das Mixgetränk jemand anderen anzubieten, der es dann gierig trinkt, um plötzlich mit weichen Knien und einem Schrei umzukippen: „Ich wurde vergiftet!“

Kinder begegnen dem Thema nicht nur im Märchen, sondern wohl auch in den zahllosen Warnungen heutiger Eltern, irgendetwas könne bei aller Verführungskraft „schädlich“ sein: Ein Eis zu viel, zu lange aufbleiben, drei Minuten das falsche Video sehen … „ist nicht gut für dich“. Ob solche Warnungen bei Kindern das Bild einer giftigen Welt hinterlassen?

Besonders bedenklich könnten sich solche Gift-Warnungen auswirken, wo gerade beim Thema Essen Kindern als Alternative zu „schädlichen“ Leckereien Speisen angeraten werden, die diese intuitiv für schädlich halten: Nach Ansicht vieler Ernährungswissenschaftler *innen verweigern Kinder den Genuss von Brokkoli, Rosenkohl und Co vor allem, weil sie deren Farbe oder Bitterkeit evolutionsbedingt als „giftig“ assoziieren.

Können wir uns „detoxen“?

Gut, dass es Gegengifte aller Art gibt! Das Teeregal in der Drogerie bietet reichhaltige Angebote an „Detox“-Produkten, die genauso wie der Verzicht auf Handys beim „Digital Detox“ Entgiftung versprechen, indem man angeblich aufgenommene Giftstoffe ausschwemmt. Auch die Achtsamkeitswelle der letzten Jahre kann man getrost als Antwort auf das Grundgefühl sehen, dass Gift überall in uns und in unserem Umfeld steckt.

Eigentlich kann man die Sache mit dem Gift auf einen einfachen Nenner bringen: Hinter dem Gift steckt wie einst bei Eva, der Schlange und dem Apfel im Paradies die Verlockung, der man unbedacht auf den Leim gegangen ist. „Gift“ heißt: Etwas sieht gut und lecker aus oder fühlt sich lustbringend an; hinterlässt aber schwere Schäden. Darüber nachzudenken, kann in einer Zeit drohender Klimakatastrophe und wachsenden Rechtsextremismus niemals schlecht sein. Suchen wir das Gegengift!

Geh doch nach drüben!

Übergang ist so ein richtig deutsches Wort – trocken, technisch, nichtssagend. Zumindest, wenn es um den Bahn-Übergang oder den Übergang zur ersten Wagenklasse hinter dem Bordbistro geht. Andere Zusammensetzungen mit dem Wort Übergang
erzählen jedoch viel über menschliche Bedürfnisse nach Stabilität, Sicherheit und Wandel… Weiter lesen

Was merkwürdige Kult-Wörter über Kultur erzählen

„Kultur bezeichnet im weitesten Sinne alle Erscheinungsformen menschlichen Daseins, die auf bestimmten Wertvorstellungen und erlernten Verhaltensweisen beruhen…“, umreißt Wikipedia den Begriff Kultur. „Alle Erscheinungsformen“ – das klingt verdammt schwammig. Deshalb versucht der Wortklauber, Kultur anhand 13 merkwürdiger Wörter mit Kultur-Bezug zu erklären. Weiter lesen…

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Ich muss jetzt mal ´ne Grenze ziehen

Die Grenze ist ein merkwürdiges Wort. Es wird sowohl in der eigentlichen als auch in der übertragenen Bedeutung rege genutzt. Eigentlich bezeichnet Grenze eine sehr konkrete Sache, die dennoch oft unsichtbar ist und ohne Menschen, die an ihre Existenz glauben, verschwinden würde. Schauen wir uns einmal an, woher das Wort Grenze stammt und wie es…

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Wege zur Harmonie

Hier gibt es den Artikel als PDF: Wortklauber_#2_2023

Immer noch Krieg, dauernd hass­erfüllte Auseinandersetzungen statt Einigkeit im Klimaschutz, verbaute Landschaften und hässliche Städte, schlechte Stimmung im Team: Es gibt viele Gründe, sich mehr Harmonie auf der Welt zu wünschen.

Harmonie bedeutet Einklang, Eben­maß, Gleichklang der Gefühle und stammt von dem griechischen Wort „zusammenpassen“ ab. Welche Wege schlug die Menschheit vor, um zu mehr Harmonie zu gelangen? Und was wird heute empfohlen?

Die Sache mit dem Apfel klären

Religionen wie Judentum, Christentum und Islam teilen den Glauben an die Erlösung, die uns zu einem verlorenen Urzustand der Harmonie zurückführt. Demnach verspielten wir die Harmonie, als das erste Pärchen vom Baum der Erkenntnis naschte. Doch durch bestes menschliches Streben könnten wir die Harmonie vielleicht wieder zurückgewinnen.

Bis heute prägt dieser Erlösungsgedanke viele Vorstellungen von „besseren Gesellschaften“. In großen Utopien wie dem Sozialismus und in individuellen Projekten wie dem Zusammenleben in Landkommunen steckt die Idee von einer besseren, harmonischen, konfliktfreien Welt.

Den universellen Zahlen­code finden

„Schläft ein Lied in allen Dingen…“ Was Eichendorff einst dichtete, erinnert an das Harmonie-Verständnis der alten Griechen. Sie gingen davon aus, dass sich eine vollendete Harmonie hinter allen Erscheinungen der Welt verbirgt, die man nur finden muss. Hinter Symmetrie oder besonders angenehmen Klängen und Maßverhältnissen vermuteten sie mathematische Zusammenhänge, die quasi universelle Harmonie herstellen. Auch die Gestirne bewegen sich nach der Theorie klassischer Denker auf mathematisch perfekten Bahnen, wobei sie die leider unhörbare Sphärenmusik erzeugen.

Einklang mit der Natur finden

Lebt die Natur mit sich im Einklang? Die Vorstellung, man müsse nur zu den Gesetzmäßigkeiten der Natur zurückfinden, prägt uns schon seit Urzeiten. Auch die Vertreibung aus dem Paradies kann man so verstehen: Apfel gegessen, schlauer als die Tiere sein, aber den Garten Eden dadurch verloren haben.

Auch der Garten im Wort Kindergarten passt zu dem Bild von wahrer Harmonie in der Natur. Für Friedrich Fröbel war das Ziel der Erziehung, den Einklang der Gegensätze von Natur (dem Inneren) und Geist (dem Äußeren) herzustellen, also die Harmonie des Menschen mit der Welt, der Natur, den anderen Menschen und Gott.

Das optimale Gesellschaftssystem entwickeln

„Der Edle strebt nach Harmonie, nicht nach Gleichheit.“ Für den chinesischen Philosophen Kong Fuzi, bei uns Konfuzius genannt, war Harmonie ein herausgehobener Wert. Das greift die chinesische KP gerne auf, um ihre Vorstellung eines optimalen Gesellschaftssystems zu propagieren. Harmonie entsteht, wenn solch ein System alle Bedürfnisse der Menschen optimal in Einklang bringt – auf der Grundlage einer stabilen politischen Ordnung. Mit anderen Worten: Harmonie und echte Demokratie schließen sich irgendwie aus, denn letztere lebt ja vom Streit.

Alle Entwicklungs­bedürfnisse erkennen

Von Harmonie durch ein perfektes Gesellschaftssystem träumten viele Menschen, auch Maria Montessori: „Der wahre Friede bedeutet Sieg der Gerechtigkeit und der Liebe unter den Menschen, bedeutet eine bessere Welt, in der Harmonie herrscht“, postulierte sie. Ihr Weg zur Harmonie: die Entwicklungsbedürfnisse von Kindern erfüllen.

Im Inneren suchen

Findet man echte Harmonie nur in sich selbst? Je weniger die Menschen an bessere Gesellschaftssysteme glauben, desto mehr scheinen sie die Sache mit der Harmonie bei sich selbst zu verorten. Unter dem Kofferwort „Achtsamkeit“ werden unterschiedlichste Wege empfohlen, um Harmonie zu finden – beim Yoga, mit Atemtechniken oder beim Ausmalen von Mandalas. Inzwischen sehen auch die Kultusminister darin Potenzial: In Bildungsempfehlungen werden Achtsamkeitskurse gegen Lehrermangel angepriesen. Ist ja auch kostengünstig.

Ins Innere aufnehmen

Preiswerter ist nur die orale Einnahme von Harmonie: „Innere Harmonie“, weiß die Firma „Yogi Tea“, „ist ein hohes Gut und dieser Tee dein Wegweiser dorthin. Der Weg beginnt mit einem Moment des Innehaltens, in dem Zitronenmelisse, Lavendelblüten und Zimt dich begleiten und dir eine gute Portion Gelassenheit mitgeben. Hast du zur Harmonie gefunden, kannst du sie teilen.“

Noch besser bringt nur ein Anbieter die Sache auf den Punkt: Wenn bei Kleinkindern das Innere nach außen dringt, bleibt es wohlverwahrt – in der Windel der Pampers-Serie „Harmonie“.

Auf Postern propagieren

Wie sieht es in unserem Bereich aus? Regelposter verraten, was Grundschule und Kindergarten unter Harmonie verstehen. Dort liest man: „Wir streiten achtsam“, „Freundliche Worte finden“, „Wir halten immer zusammen“ und „Ich freue mich, wenn es meinen Freunden gut ergeht“. Oder auch: „Unsere Trinkbecher sind nur zum Trinken da.“ Endlose Diskussionen im Chat oder TV über „Systemsprenger“, „Regelbrecher“ und die „Kleinen Paschas“ von Merz zeigen: Wir gehen immer noch davon aus, dass es Harmonie geben könnte, wenn sich endlich alle an die Regeln halten würden. Auch die, denen das immer so schwerfällt.

 

Abbildung: harmoniumnotes.blogspot.com

Wohlvertrautes Misstrauen

An der Supermarktkasse sagt eine ältere Dame zu einer Mit-Seniorin: „Man kann heute niemandem mehr trauen.“ Weil sie diese Ansicht einer ihr völlig unbekannten Person anvertraut, erleben wir Umstehenden ein zeitgemäßes Paradox zum Thema „Vertrauen“: Überall sehen Leute das Vertrauen in andere Menschen schwinden. Aber am liebsten erzählen sie das möglichst unvertrauten Mitmenschen wie der Frau am Kassenband oder der Telegram-Gruppe.

Wir haben eine Vertrauenskrise, liest man immer wieder. Bürger*innen vertrauen laut mancher Umfragen weniger auf staatliche und gesellschaftliche Institutionen. Sie misstrauen der Politik, Lösungen für ihre Probleme anzugehen. Medien, die ja eigentlich da für da sind, dem Misstrauen an Politik nachzugehen, leiden unter Vertrauensverlust: „Die schreiben doch nur, was sie sollen…“

Zurückzugehen scheint auch das Vertrauen in Lehrer*innen und Erzieher*innen. Werden wir zu einer ängstlichen Gesellschaft, in der jeder jedem misstraut?

Was ist Vertrauen? Egal, ob Gottvertrauen oder Vertrauen in die Mitmenschen: Eigentlich geht es um ein Gefühl, das hinter dem Satz „Alles wird gut!“ steckt. Der Soziologe Niklas Luhmann beschrieb es als „Mechanismus zu Reduktion sozialer Komplexität“: Weil man sich schlecht vor allen Eventualitäten fürchten kann, vertraut man, denn: „Ohne jegliches Vertrauen aber könnte [der Mensch] morgens sein Bett nicht verlassen.“ Vertrauen ist also die Basis, um zu handeln, statt zu grübeln, sich zu fürchten oder gegen alles zu opponieren.

Für den Verlust von Vertrauen sind vor allem Erfahrungen von Gewalt und Ohnmacht verantwortlich. Wer plötzlich schlimme Dinge erlebt, erfährt, dass sein bisheriges Vertrauen in „Alles wird gut!“ unberechtigt war. Wer sein Vertrauen verloren hat, misstraut nun auch dem, dem er bislang „blind“ vertraute. Bei der Corona-Pandemie konnte man den Effekt oft erleben: Menschen mit Brüchen und Verletzungen im Lebenslauf schienen wesentlich anfälliger dafür zu sein, plötzlich Hardcore-Querdenker zu werden. Auch hier weiß die Soziologie: Erst in Ausnahmesituationen erfährt man, wie viel Vertrauen ein Mensch jeweils empfinden kann.

„Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser!“ Dieser Satz, der dem Thema „Misstrauen in historische Zitate“ entsprechend wohl zu Unrecht Lenin zugeschrieben wird, passt gut zu unserem heutigen Verständnis von Vertrauen auf individueller Ebene. Vergleicht man Lebensführung und Kindererziehung heute und früher, fällt auf, dass ein Kontrollbedürfnis an die Stelle von grundsätzlichem Vertrauen getreten ist. Vertraute man früher auf persönliche Empfehlungen und Gefühle („Jacobs Kaffee vertraue ich einfach!“), checkt man heute in Vergleichsportalen oder Google-Bewertungen, welcher Kaffee oder welches Café am besten ist. Gab es früher im Auto-Cockpit Tacho und Benzinuhr, blinkt heute wie im Flugzeug eine Vielzahl von Check-Lichtern auf. Auch über sich selbst kann man heute täglich Daten ermitteln – Blutdruck, Herzfrequenz etc., die früher nur beim jährlichen Arztbesuch erhoben wurden.

Vor allem in Bezug auf Kinder zeigt sich das geänderte Verhältnis zum Vertrauen. „Ich vertraue darauf, dass ihr zum Abendessen wieder zu Hause seid und euch nicht irgendwo rumtreibt“ ist wohl ein Satz von gestern. Kinder von heute erleben mehr Kontrolle, Begleitung und bewusste Auswahl als Vertrauen, wenn Handy oder gar Smartwatch den Eltern ständige Kontaktaufnahme ermöglichen und jede Bildungseinrichtung erst nach gründlicher Kontrolle ausgewählt wird: „Wir haben uns jetzt für die Klasse von Frau Naumann auf der 2. Grundschule entschieden…“ Der Luzerner Philosoph Martin Hartmann sagt dazu: „Es ist, als würden wir uns einreden, dass wir niemandem mehr vertrauen können, damit wir niemandem mehr vertrauen müssen.“

Der Wert des Vertrauens sinkt – und damit steigt die Bedeutung der Transparenz oder wahlweise der Kontrollierbarkeit. Pädagogische Einrichtungen antworten darauf, dokumentieren alles und machen es evaluierbar. An die Stelle des Vertrauensvorschusses tritt quasi der Rechenschaftsbericht. Das verhindert böse Überraschungen, aber vielleicht auch positive. Teams von Einrichtungen, die besonders aufmerksame Eltern haben, kennen das: Es gibt wenig Spielraum, um ungewohnte Raumkonzepte, Ausflüge oder Projektthemen auszuprobieren. Hier geht es den Kindergärten wie den Kindern, die statt der Abenteuer beim unkontrollierbaren Herumtreiben am Nachmittag nun den wohldokumentierten Gitarrenkurs erleben. Vertrauen lässt Raum, Kon­trolle engt ein – das war schon bei Lenin das Problem.

Was ist die Quintessenz? Vertraut dem Vertrauen! Und wenn jemand klagt: „Man kann heute niemandem mehr vertrauen“, dann sagt: „Versuch es, du schaffst es.“

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Eine Grammatik des Auffallens

„Auffällig“ heißt das Thema dieses Heftes. Das Wort hat es in sich, obwohl es doch – Achtung: Wortspiel – so unauffällig daherkommt. Denn „auffällig“ kann mit ganz unterschiedlichen positiven wie negativen Wertungen versehen sein, die sich gut unter der Unauffälligkeit des Wörtchens verstecken lassen.

Begeben wir uns auf eine Reise durch verschiedene Deklinationen des Wortes und ganz unterschiedliche Verwendungsweisen.

Ich falle auf.

Wer diese drei Wörter selbstbewusst ausspricht, merkt: Mit dem Auffallen hat es eine besondere Bewandtnis. Obwohl das Verb im Aktiv steht, ist Auffallen keine aktive Tätigkeit. Ich kann zwar durch besonderes Benehmen oder Bekleidung versuchen, die Aufmerksamkeit anderer Leute auf mich zu ziehen. Aber ob ich auffalle oder nicht, entscheiden letztendlich die anderen. Das wissen besonders die Menschen, die aufgrund von Behinderung, Hautfarbe, Körpergröße, Gewicht oder anderer Dispositionen auffallen, ohne dass sie das möchten. Sie werden ständig betrachtet, während das „Mauerblümchen“ übersehen wird.

Interessant: „Ich falle mir auf“ funktioniert sprachlich, aber nicht inhaltlich.

Du fällst mir auf.

Viele persönliche Beziehungen beginnen mit einem besonderen „Auffallen“. Person A nimmt unter vielen anderen Menschen Person B als etwas Besonderes wahr. Person B fühlt sich entweder geehrt, weil sie Person A aufgefallen ist, oder ihr ist A selbst „aufgefallen“. Ideale Grundlage für einen Flirt? Dazu sagen WissenschaftlerInnen: Offenbar finden Menschen andere Personen besonders dann positiv „auffallend“, wenn sie erstens gängigen Schönheitsklischees entsprechen und zweitens im positiven Sinne durchschnittlich wirken. „Du bist mir gleich aufgefallen“ könnte also heißen: „Du erinnerst mich an einen Mix aus diversen Schönheitsklischees.“

Er fällt auf.

In vielen Märchen, Mythen und Geschichten gibt es einen „besonderen“ Mann oder Jungen. Joseph aus der Bibel sieht mit besonders buntem Rock besser aus als seine Brüder. Mozart ist schon als Kind ein Wunderknabe, Leonardo wird es als Erwachsener. Viele dieser Helden fallen erst auf und dann auf die Fresse: Mozart verarmt, Siegfried wird ausgetrickst, Van Gogh wird verrückt… Zwar scheint die Zeit der Heldenverehrung heute passé. Doch immer noch führen uns Filme und Bücher den „auffallenden“ männlichen Einzelkämpfer vor, der die Dinge auf seine Art regelt – von Wickie im Trickfilm bis zum eigenbrötlerischen Kommissar im Sonntagskrimi.

Sie fällt auf.

Als auffallende Männer noch das Nonplusultra waren, waren auffallende Frauen verdächtig. In den Kinderbüchern der Fünfzigerjahre waren das beispielsweise die „Wildfänge“: Mädchen, die durch burschikoses Verhalten, lautes Lachen und allzu kräftige Stimmen auffielen, bevor sie dann von einem toleranten Jung-Förster gezähmt wurden. Auch heute noch gelten Frauen als auffallend, wenn sie sich in Männerdomänen behaupten wollen. Dann zeigen sie „ungewöhnliche Härte“, „eisernen Willen“ oder „beißen“ gar männliche Rivalen weg, die sich ihnen eigentlich überlegen fühlten.

Es fällt auf…

…dass es immer bestimmte Personen sind, die…

Egal, ob es um Kevins Verhalten im Matheunterricht oder statistisch ermittelte Durchschnittsverhaltensweisen irgendwelcher Bevölkerungsgruppen geht: Die Formulierung „Es fällt auf…“ bietet sich immer an, wenn man Vorurteile und Vorverurteilungen loswerden möchte, ohne allzu konkret zu werden. Zum Beispiel fällt auf, dass viele Maskenverweigerer in der Bahn männlich sind, eine bestimmte Herkunft haben, bis zum Plattenbauviertel fahren… Das Praktische an diesem „Es fällt auf…“ ist: Achtet man mal darauf, ob etwa „alle Kevins verhaltensauffällig sind“, wird jeder Treffer dieses Bild bestätigen.

Ist dir schon aufgefallen, dass unter den Maskenverweigerern wirklich jede Bevölkerungsschicht vertreten ist? Eben.

Wir fallen auf!

Auffallen kann sehr schön sein, wenn man es gemeinsam tut. Fällt der Kirchen­chor aus Bad Sumpfingen durch lautes Gackern in der Berliner S-Bahn auf, steigert das die Stimmung der Beteiligten. Gemeinsames Auffallen hat nämlich nichts mit dem Leid einsamen Auffallens zu tun, sondern verleiht das Gefühl: Jetzt setzen wir die Norm, indem wir gegen die von der Mehrheit gesetzte Norm verstoßen! Viele eher randständige soziale Gruppen genießen es, ihr individuelles Außenseitersein durch gemeinsames Auffallen zu kompensieren.

Ihr fallt auf!

Häufig hören Kinder in Gruppen und erst recht Jugendliche diese streng gemeinte Feststellung – gerne garniert mit dem Adjektiv „unangenehm“. Wer die Formulierung verwendet, macht klar, dass er auf der Seite derjenigen steht, die über richtiges – „unauffälliges“ – und falsches Verhalten entscheiden. Dazu steht im Widerspruch, dass wohl jede pädagogische Einrichtung heute behauptet, „jedes einzelne Kind im Blick zu haben“. Damit das auch wirklich klappt, ist Auffallen aber geradezu nötig. Andererseits suggeriert der Tadel „Ihr wolltet immer auffallen“, dass es nichts Besseres gibt, als von Päda­gogInnen übersehen zu werden.

Sie fallen auf.

So geht „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“: Man ordnet Menschen einer Gruppe zu, um ihnen danach eine gemeinsame Differenz zum angeblich „Normalen“ zu unterstellen. Ein Trick, der fast in jeder Diktatur funktioniert, weil er Gruppen besser stabilisiert als jedes Teambildungs-Seminar. Norbert Elias1 kennt das Rezept: Man bildet aufgrund irgendwelcher simpler Merkmale (Hautfarbe, Religion, Sprache, Körpermerkmale) eine Außenseiter-Gruppe, der man die als negativ wahrgenommenen Eigenschaften innerhalb der eigenen Gruppe unterstellt („gemein zu Frauen“, „geizig“, „fauler als andere Menschen“). Das entlastet die eigene Gruppe („Ich bin nicht so frauenfeindlich wie die…“) und vereinfacht die Rollenfindung auf beiden Seiten. Innerhalb kleinerer Gruppen übernehmen die anfangs irritierten „Außenseiter“ nun teilweise die vorgegebenen Rollen­eigenschaften, um nicht noch mehr „aufzufallen“.

1 Der deutsch-britische Soziologe Norbert Elias (1897-1990) gilt als einer der Begründer der modernen Soziologie.

Foto: Jonathan Schöps/photocase.de

Die Geschichte des ›-in ‹

Seit wann diskutieren Menschen über weibliche Bezeichnungen und verwenden sie? Der Blick in die Sprachforschung zeigt: Schon lange ist es üblich, weibliche von männlichen Bezeichnungen zu trennen. Im Lateinischen allein deshalb, weil es durch die unterschiedlichen Endungen männlicher und weiblicher Nomen leicht möglich ist: Da gab es zum Beispiel neben dem Sklaven (servus) die Sklavin (serva). Endete die männliche Form ausnahmsweise mal auf a, etwa beim Dichter (poeta), hieß die Dichterin eben poetria – Ordnung muss sein.

Wie hielten es die Germanen? Im Gotischen, einem uralten Verwandten der späteren deutschen Sprache, kannte man neun verschiedene Möglichkeiten, weibliche von männlichen Bezeichnungen zu trennen. Das -in war bereits dabei, aber es war die einzige Form, die an etwas angehängt werden musste. Sonst wurden je nach Geschlecht Endungen ausgetauscht.

Das Althochdeutsche kannte noch drei Varianten für weibliche Bezeichnungen: Neben -in, etwa bei kunigin für Königin, gab es zum Beispiel das -a. So hieß die Gastgeberin gastgeba, um sie vom männlichen Gastgeber zu trennen.

Nanu, gab es im „finsteren“ Mittelalter neben Hexen- und Teufelswahn auch noch Genderwahn? Gesetzestexte wie der folgende offenbaren Erstaunliches: „Unser herren meister und rat sint überein komen, daz kein altgewender, gremp oder grempin, noch nieman anders (…) hinnanvür me keinen husrat noch ander gut miteinander sammenthaft koufen üllent“, legte eine strenge Stadtordnung im 14. Jahrhundert fest. Gremp und Grempin sind Krämer und Krämerin.

Schon ein Jahrhundert zuvor verkündete ein Edikt für Tätige im medizinischen Bereich: „Alle, Chirurg oder Chirurgin, Apotheker oder Apothekerin, Kräutersammler oder Kräuterkundige, dürfen die Grenzen ihres Berufes nicht überschreiten.“ Man und frau reibe sich die Augen: Im frühen Mittelalter war das Gendern in offiziellen Texten bisweilen Ehrensache, entsprechend der weit verbreiteten Berufstätigkeit von Frauen in einer Zeit, in der es das Modell „Mutti daheim“ nicht gab.

„Es gibt auch Substantive, die (…) eigene oder singularische Feminina nicht haben: Sondern sie bilden das feminine Genus, indem sie dem Masku­linum in anfügen oder indem sie e in in verwandeln“: Seit der Renaissance sind Sprachforschungen wie die vom hier zitierten Albertus Oelinger aus dem Jahr 1574 bekannt, die belegen: Schon aufgrund grammatikalischer Logik müssen Bezeichnungen für Frauen mit weiblicher Endung versehen werden. Uneins war man sich nur, ob das -in weibliche Berufstätige ebenso wie Gattinnen männlicher Würdenträger bezeichnen sollte, also ob die Königin nur die Gattin des Königs oder eine Herrscherin an sich wäre. Ein Sprachlehrer schlug verschiedene Formen vor: Äbtin für die Gattin des evangelischen Abtes, Äbtissin für die Klostervorsteherin.

Erst mit der Aufklärung und der Romantik, ergaben Forschungen, verzichtete man zunehmend auf die weiblichen Bezeichnungen. Vielleicht auch, weil jetzt die daheim waltende Mutter und Hausfrau zum Ideal wurde? Dennoch war es im 19. Jahrhundert immer noch üblich, neue Berufe für Frauen (Arbeiterinnen) mit -innen zu versehen. Weil das in Zeiten starker Ungleichheit in der Regel Berufe mit schlechtem Status waren, fanden es viele Frauen der ersten Emanzipationsbewegung um die Wende zum 20. Jahrhundert erstrebenswert, männlich benannte Titel zu erreichen: „Ich bin Redakteur“ klang in damaligen Ohren ernstzunehmender als „Ich bin Redakteurin“ – als ob das -in den Wert schmälerte.

Auch wenn manch heutiger Leserbriefschreiber das generische Maskulinum bevorzugt: Erst spät nachweisbar ist die These, die männliche Form sei eine Art Grundwort, dem man für die weibliche Bezeichnung ein unnötiges -in angehängt habe. Und in den Sechzigern, keine goldenen Jahre für Geschlechtergerechtigkeit, schrieb man Sätze wie den folgenden: „Lehrer ist, wer zum Beruf das Lehren gewählt hat; Lehrerin ist dazu die moderne weibliche Variante. Im Verhältnis der beiden Varianten ist das Maskulinum das Grundwort. Es nennt eigentlich nicht eine männliche Person, sondern (…) allein das Subjekt eines Verhaltens.“ Lehrer als Verhaltensweise, die seit kurzem auch Frauen ausüben – coole These.

Könnte man auf das -in wirklich verzichten? In einem Text aus den Neunzigern stellen die Autoren fest: „Der Satz ‚Die Abgeordneten tanzten mit ihren Frauen ‘ klingt bei weitem natürlicher als ‚Die Abgeordneten tanzten mit ihren Männern ‘. Solange man sich Minister als Männer, Putzkräfte hingegen als Frauen vorstellt und die Hebammen sowieso – übrigens die einzige Berufsbezeichnung Deutschlands ohne männliche Form! –, solange geht es wohl nicht ohne -in, mit und ohne _, * und I. Und wem das zu kompliziert ist, der oder die geht zurück zum Althochdeutschen: „Ich bin eine Erzieha.“

 

Foto:  jockelo / photocase.de