Das Kinderbuch der Woche: Ein Comic zur Wohnungsnot

Bücher für Kinder von null bis zu zwölf Jahren und für ihre Erwachsenen – von Gabriela Wenke empfohlen. Jeden Donnerstag bis zur Frankfurter Buchmesse 2019!

 

Wohnen in Zeiten der Verdrängung

„Bergstraße 68“ ist eine Comic-Geschichte über Menschen in Berlin, denen es so geht wie sehr vielen Leuten in größeren Städten. Der Platz zum Wohnen wird immer knapper. Bäume und grüne Hinterhöfe müssen Tiefgaragen weichen.

In der Bergstraße 68 lebt das Mädchen Tilda, das uns freundlich in sein Haus einlädt. Eine bunte Mischung aus Erwachsenen und Kindern wohnt in diesem alten Haus. Abends, wenn die Kinder im Bett sein sollten, grillen die Erwachsenen im Garten hinter dem Haus, und die Kinder beobachten sie von den Balkonen aus.

Aber eines Tages kommt der neue Besitzer und will das Haus sanieren – angeblich zum Wohle der Bewohner. Doch die merken, dass er sie loswerden will, um mit den nach der Sanierung viel teureren Wohnungen mehr Geld zu verdienen. Sandiert statt saniert hat Tilda verstanden und stellt sich die Sandmassen plastisch vor.

Als erstes wird der Zugang zum Garten verrammelt, und die alte Kastanie soll gefällt werden. Da erzählt der Vater dem Mädchen, dass er das Baum-Amt eingeschaltet hat. Mit dessen Arbeitern wollen die Bewohner den Baum ausgraben und ihn an einem anderen Ort einpflanzen. Doch der Vater hat diese Geschichte nur erfunden. Es gibt kein Happyend. Am nächsten Morgen ist die Kastanie gefällt und abtransportiert.

Im Nachwort erfahren wir, dass es die Mietergemeinschaft im alten Haus nicht mehr gibt. Alle mussten ausziehen. Obwohl Tilda das neue Zuhause gefällt, bleibt es doch bitter, dass sie die Freunde aus dem alten Haus verloren hat.

Das kleine Comic-Buch fällt aus dem Rahmen. Zum einem gibt es Szenen, die zeigen, wie die Erwachsenen feiern und danach verkatert in den Betten liegen. Zum anderen versteht Tilda vieles von dem, was sie belauscht und beobachtet, falsch oder gar nicht. Das lässt fantastische Bilder in ihrem Kopf entstehen.

Zwar ist es ein ungeschriebenes Kinderbuch-Gesetz, dass Unklarheiten und Missverständnisse – wie Sandierung statt Sanierung – aufgelöst werden und dass die Geschichte gut ausgeht. Aber hier muss der vorlesende Erwachsene das übernehmen. Oder das lesende Kind muss nachfragen. Und wirklich gut geht die Geschichte auch nicht aus, obwohl Tilda ihr neues Zuhause mag.

Veronica Solomon und Tina Brenneisen, zwei neue Künstlerinnen, und ein bisher unbekannter kleiner Verlag – parallelallee Verlag – haben diesen Kinder-Comic auf den Markt gebracht. Veronica Solomons Zeichnungen muten auf den ersten Blick klassisch realistisch an. Auf den zweiten Blick entdeckt man fantastische Elemente, ironische Seitenhiebe und Szenen, die auf den erwachsenen Leser zielen. Man kann finden, dass das nichts für Kinder ist, oder ihnen die differenzierte Geschichte zumuten und vielleicht miteinander ins Gespräch kommen.

Ich empfehle dieses Buch besonders Eltern und Kindern, die von der städtischen Wohnungsnot betroffen sind oder sie aus ihrem Umfeld kennen.

 

 

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