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Neulich musste ich an den Tag denken, an dem ich als Neu-Brandenburgerin das erste Mal in einem Supermarkt stand und mir schlagartig klar wurde, dass ich hier fremd bin. „Was die Leute wohl denken, woher ich komme“, schoss es mir durch den Kopf. Ich habe nämlich einen asiatischen Großvater, den man mir spätestens auf den…
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„Eine Flüchtlingsfamilie mit acht Kindern wohnt jetzt hier im Dorf. Und wir sollen Sachen für die Schule mitbringen, zum Spenden. Das hat Frau Voss gesagt.“ Mit diesen Worten kommt mein Enkel aus der Schule. „Acht Kinder!“ betont er noch einmal.
„Hier in Groß Nemerow?“ frage ich zurück. Diese Nachricht ist mir neu. Doch das wundert mich nicht. Vor Jahrzehnten – ich wohne seit 35 Jahren in diesem Ort – wäre die Ankunft einer solch großen Familie, noch dazu aus unbekannter Ferne, keinen Tag lang verborgen geblieben. Der Dorfkonsum, die Kneipe und die Bänke am Dorfteich waren zuverlässige Informationsquellen. Doch Konsum, Kneipe und Bänke gibt es längst nicht mehr. Somit haben Neuigkeiten es schwer, sich im Dorf zu verbreiten.
Allerdings kommen die Kinder nicht in die hiesige Schule. Die hat einen privaten Träger. Deshalb müssen die Kinder jener Einwohner, die kein Schulgeld aufbringen können, zur Regionalschule in Burg Stargard gefahren werden.
„Die Sachen sollen wir beim Bürgermeister abgeben. Kann ich meine Filzstifte hinbringen? Ich male doch am liebsten mit den Buntstiften“, sagt mein Enkel. Ich indessen frage mich, wo denn die Flüchtlingsfamilie untergebracht sein könnte. Acht fremden Kindern bin ich im Dorf noch nicht begegnet. Also die Nachbarin fragen. Sie ist hier Kindergärtnerin. „Keine Ahnung“, sagt sie, „hab auch nur so was läuten hören.“ Also den Bürgermeister ansprechen. Bei Gelegenheit. Der muss ja etwas wissen. Aber er ist im Urlaub.
Doch die Neuigkeit lässt mir keine Ruhe. Es sind insgesamt elf Leute, höre ich. Zwei Frauen, ein Mann und die acht Kinder. Vielleicht brauchen sie Hilfe? Schließlich entdecke ich die Fremden zufällig beim Vorbeifahren. Sie bewohnen ein bislang leerstehendes Einfamilienhaus am Dorfrand. Im Garten, unter den alten Kirschbäumen, spielen zwei Jungen Fußball.
Am nächsten Tag packe ich die große Einkaufstasche und fülle sie mit Reis, einer Büchse geschälter Tomaten, Zucker, Mehl, Salz und Nudeln. Zwei Pappbilderbücher und ein Polizeiauto mit Schwungrad, Heftpflaster, Waschmittel, eine Rolle Kekse und den Türkischen Honig, der als Mitbringsel aus Istanbul noch verpackt im Küchenregal steht, kommen dazu. Wenn die Familie aus Syrien stammen sollte, denke ich, mag sie so etwas bestimmt. Ich hänge die schwere Tasche an das Fahrrad und mache mich auf den Weg.
Als ich vor dem Haus anhalte, sind wieder die beiden Jungen im Garten, außerdem zwei Mädchen und eine junge Frau. Sie trägt ein schwarzes Kopftuch, die Mädchen haben Pudelmützen auf. Es ist nasskalt, und ein hässlicher Wind bläst aus Nordost.
Zögernd trete ich an den Gartenzaun. Eines der Mädchen kommt auf mich zu. Offener Blick, leichtes Lächeln. Die Mütze lässt die hohe Stirn und den schwarz glänzenden Haaransatz frei. Dicke Zöpfe hängen über die Schultern hinab.
„Hallo“, sage ich. Und: „Ich bin Wera.“ Über die Gartentür reiche ich dem Mädchen die Hand entgegen. „Ich biiin Kainat“, antwortet es mit belegter Stimme und gibt mir die Hand. Da lassen die Jungen den Ball liegen und kommen angelaufen. Ich begrüße sie und stelle mich auch ihnen vor. „Challowiegehts“, sagt der kleinere, vielleicht sechs oder sieben Jahre alt. Sein Bruder, etwas älter, bleibt schüchtern hinter ihm. Von Kainat erfahre ich, dass sie Yasin und Abubakar heißen.
Ich reiche meine Tasche über den Gartenzaun und sage zu Kainat: „Vielleicht könnt ihr noch etwas gebrauchen.“ Doch sie wehrt ab. Da zeige ich ihr die Nudeln, die Tomaten, den Reis… Sie schüttelt den Kopf. „We do not need“, sagt sie, „nein, nix brauch.“
Ratlos sehe ich mich nach der jungen Frau um und nicke ihr zu. Lächelnd kommt sie näher und öffnet die Gartentür. Ich reiche ihr die Tasche, sie nimmt sie entgegen und sagt: „Come in. Bitte.“ Zusammen gehen wir ins Haus. Die Jungen holen Latschen für mich. Ich ziehe meine Schuhe aus und schlüpfe hinein.
Diva, die junge Frau, bedeutet mir, Platz auf der Eckbank in der Veranda zu nehmen. „Trinken? Juice?“ fragt sie. „Gern“, sage ich, „vielen Dank.“ Kainat huscht in die Küche, kommt mit einem Tablett zurück und reicht mir ein Glas Orangensaft.
„Ich wollte euch kennenlernen“, erkläre ich und nehme einen Schluck vom dem süßen Getränk. „Ich wohne hier im Ort. Vielleicht kann ich euch was helfen.“
„English, english“, sagt Kainat hastig und setzt sich neben mich. Da zischelt Zakia, die ältere Frau, etwas, und Kainat springt auf. Ich soll allein auf der Bank sitzen. Alle stehen nun um mich herum. „Woher kommt ihr?“ frage ich und stelle das Glas auf das Fensterbrett hinter mir. Einen Tisch gibt es nicht. „Aus Syrien?“ „Afghanistan“, sagt Diva.
Wir versuchen, miteinander zu sprechen. Doch schnell zeigt sich: Ihr Englisch ist noch schlechter als meins. Trotzdem gelingt es mir, ihnen mitzuteilen, dass ich helfen könnte, die deutsche Sprache zu erlernen. Ich lasse meine Telefonnummer und meine Adresse da, verabschiede mich, hänge die leere Einkaufstasche an den Fahrradlenker und fahre nach Hause.
Am Abend sehe ich: Der Bürgermeister ist wieder da. Ich rufe ihn an und erfahre, dass die Familie – seit Dezember 2015 in Deutschland – vor zwei Wochen nach Groß Nemerow kam. Es handle sich um einen Mann, dessen zwei Frauen und ihre Kinder. „Da musst du dich jetzt nicht groß drüber wundern, Wera. Das ist bei denen so üblich. Ich sag mal, hier ist es ja auch oft nicht anders. Bloß, dass es nicht legal ist“, sagt der Bürgermeister und berichtet, dass er schon etliche Sachen für die Familie eingesammelt habe. Aber drei Schultaschen fehlen noch, dazu Sportzeug, Turnschuhe vor allem. Das müsse er bis nächste Woche noch irgendwie besorgen.
Am Abend krame ich im Internet nach. Wie bringt man jemandem eine fremde Sprache bei? Ich habe keine Ahnung von Methodik und Didaktik, finde jedoch einen Onlinekurs für ehrenamtliche Helfer: „Deutsch für Flüchtlinge“. Ich müsste 6 bis 8 Stunden investieren und bekomme sogar ein Zertifikat, wenn ich den Test bestehe. Im Netz finde ich auch, welche Sprachen man in Afghanistan spricht, und ein Grundwörterbuch Paschtun-Deutsch mit Bildern, zum Ausdrucken. Ich kopiere zwei Exemplare. Die bringe ich der Familie am nächsten Tag, will sie bloß schnell über den Zaun reichen, doch der Vater ist da, und ich werde ins Haus gebeten. Husna serviert mir grünen Tee mit Sahnebonbons.
Auch Omar, der Familienvater, spricht nur wenig Englisch, und ich verstehe ihn kaum. Die Kinder reißen mir das Lehrmaterial förmlich aus den Händen. Sie umringen mich, setzen sich neben mich auf die Eckbank, streiten dabei um die Reihenfolge und beginnen sofort, die deutschen Wörter zu buchstabieren. Immer wieder sprechen sie mir nach – das Alphabet, Wörter, Zahlen. Pausenlos wiederholt Yasin die Zahlenreihe bis 50. Nach beinahe zwei Stunden schwirrt mir der Kopf vom Feuereifer der wissensdurstigen Kinder. Mit Omar vereinbare ich, dass wir uns zweimal in der Woche treffen könnten: am Dienstag und Sonnabend, jeweils um 10.00 Uhr. Seine Frauen stehen im Türrahmen, scheu lächelnd. Zwischen ihren Beinen krabbelt der Jüngste, Abdulsamad, 15 Monate alt. Wer von den beiden Frauen ist seine Mutter? Später zeigt es sich, denn er wird noch gestillt.
Zwei Tage danach beginne ich mit dem Unterricht. Vom Bürgermeister bekam ich ein Flipchart und den Schlüssel für den Sitzungsraum der Gemeindevertretung. Eine Freundin brachte mir einen zweiten Tafelaufsteller, was sich als sehr nützlich herausstellen sollte, etliches Schreibzeug, Schulsachen für die Kinder, einen Sack voller Plüschtiere und schöne Anziehsachen. Den Onlinekurs habe ich inzwischen absolviert und das Zertifikat heruntergeladen.
Marlies anrufen! Das fällt mir gerade noch rechtzeitig ein. Sie gibt seit 25 Jahren Deutsch für Ausländer an der Volkshochschule in Neubrandenburg. Noch am gleichen Tag bringt sie mir Lehrmaterial und spart nicht mit Tipps: „Besorge dir einen großen Wandkalender und hänge ihn im Gemeinderaum auf. Sonst klappen die Verabredungen nicht.“
Ich beginne mit dem Alphabet. Vorher hatte ich überlegt, wie ich möglichst alle Sinne bei der Erfassung der fremden Laute und Lautverbindungen nutzen kann:
· A – Apfel: Ich lasse einen duftenden, kühlen Apfel die Runde machen und zerteile ihn dann in gleich große Stücke, so dass alle davon kosten können.
· B – Bus: Ich zeige einen Fahrschein herum und schreibe den Ticketpreis an die Tafel.
· Q – quietschen: Ich reibe zwei Stückchen Styropor aneinander, und die Versammelten verziehen die Gesichter.
· O und U: Ich bitte Yasin zu mir und bedeute ihm, auf einen Stuhl zu steigen. „Yasin steht OBEN“, sage ich. Dann soll er wieder herunterkommen. „Yasin steht UNTEN.“
Ich wiederhole das ein paarmal, steige schließlich selbst auf den Stuhl und wieder herunter. Das amüsiert die Versammelten. Meinen Spaß habe ich bei den Umlauten. Den Kindern gelingen sie am besten, dem Familienoberhaupt kaum, und Abubakar kichert unverhohlen, als sein Vater mit schiefem Mund versucht, ein Ü zu sprechen.
Nach den Winterferien fahren die Kinder das erste Mal mit dem Schulbus nach Burg Stargard. So bleiben mir an den Dienstagen nur die Erwachsenen. Omar, der bis zur 12. Klasse eine Schule besuchte und danach an einer Hochschule studierte, macht sich eifrig Notizen in Paschtun. Er schreibt sie von rechts nach links zwischen die Zeilen der Übungsblätter. Diva, die älteste Tochter, freut sich, wenn ich sie an die Tafel bitte, um erste deutsche Wörter zu schreiben. Ich habe das Gefühl, sie zeigt dem Vater gern, wie sie vorankommt.
Als es ein paar Wochen später – die Verständigung ist immer noch schwierig und voller Missverständnisse – darum geht, sich um einen Deutschkurs an der Volkshochschule zu bemühen, zögert Omar. Mir scheint, er hält es nicht für nötig, auch die achtzehnjährige Diva dort anzumelden. Ich wende ein, sie müsse gut Deutsch können, damit sie eines Tages eine Ausbildung beginnen kann. Diesen Gedanken nachzuvollziehen fällt ihm schwer, aber schließlich nickt er. Stumm verfolgt seine älteste Tochter unseren geradebrechten Disput, und ich merke, dass sich ihre Augen mit Tränen füllen… Wir werden allesamt voneinander zu lernen haben, wenn wir gemeinsam hier leben wollen, finde ich.
Die beiden Mütter hingegen scheinen Analphabetinnen zu sein. Ihnen gebe ich Übungsblätter für Erstklässler, auf denen sie die Linienführung der lateinischen Buchstaben trainieren können, und helfe ich ihnen, die Stifte richtig zu halten. In ihren schwarzen Kleidern und mit den Kopftüchern wirken sie beinahe düster auf mich. Selten sehe ich ein Lächeln. Ich weiß nicht, ob sie sich vorstellen können, sich in diesem fremden Land mit den fremden Sitten, Gewohnheiten und Normalitäten irgendwann heimisch zu fühlen.
Allerdings überraschen sie mich, als ich zum Essen bei ihnen eingeladen bin. Ihre strengen Kopftücher, die kein Haar hervorschauen lassen, tragen sie im Haus nicht, sondern bestickte Seidenschals und lange Kleider: Zakia ein bordeauxrotes mit bronzener Stickerei, Asmat ein dunkelgrünes mit weißem, filigranem Muster an den langen Ärmeln. Ich werde in die Küche gebeten und bekomme einen Teller duftenden Reis mit Rosinen und Karotten, dazu Auberginen-Tomaten-Gemüse mit Linsen und selbstgebackenes Fladenbrot. Die beiden Frauen setzen sich zu mir. Der Kleine quengelt auf dem Schoß der Mutter. Als ich mich ihm nähere, schlägt er nach mir. Ist es Eifersucht, oder was hat ihn so verstört?
Das Haus – ein typisches DDR-Neubauernhaus aus den 1960ern – ist zu klein für diese große Familie. In jedem Zimmer stehen Betten, Stühle und Schrankmöbel. Es gibt nur einen runden Tisch, an dem jedoch schwerlich alle gemeinsam Platz finden. Die Möblierung stammt aus dem Landkreis-Kontingent für die Flüchtlingsunterbringung, einiges wohl auch von der Besitzerin, die das Haus als Unterkunft vermietet. Es gibt weder Radio noch Fernseher. Später erfahre ich, dass die Familie bewusst darauf verzichtet.
„Omar“, frage ich, „erzählst du mir, wie ihr nach Deutschland gekommen seid?“„Mit Schiff“, antwortet er einsilbig. Als ich nachfrage, skizziert er den Fluchtweg auf einem Zettel: Afghanistan – Iran – Türkei – Kos – Athen – Mazedonien – Serbien – Kroatien – Österreich – Passau – Horst – Neubrandenburg – Groß Nemerow. 35 bis 45 Tage war die Familie unterwegs. Omar weiß es nicht mehr genau…
Zu Fuß durch Wüste. Dann in ein Schlauchboot. Die Kindern müssen in der Mitte sitzen. Das Wasser reicht ihnen bis zur Brust. Es ist November. „Afghanistan sehr schwer“, sagt Omar. Bomben jeden Tag, Taliban, die Mädchen ohne Zukunft. Er möchte etwas geben und fragt mich, ob er arbeiten kann: „Nix Geld, nur arbeiten.“
Der Bürgermeister ist einverstanden, dass Omar mit dem neuen Vater meines Enkels die Toilette des Gemeindehauses malert. Nach einigen Tagen – der Bürgermeister braucht erst das Okay der Behörde – machen die Männer sich ans Werk: knallig Grün. Eigentlich sollten sie weiße Farbe verwenden. Ein Missverständnis…
Seit sechs Wochen kommen wir nun zum Deutschlernen zusammen. Die Fortschritte sind zwar spärlich, doch gut helfen können wir bei den Hausaufgaben der Kinder. Manchmal unterstützen mich meine Tochter, mein Enkel, der ob des Lerneifers der Flüchtlingskinder ein bisschen beschämt ist, und mein Mann. Außerdem steht der Familie eine Sozialarbeiterin zur Seite, vor allem bei Behördengängen.
Mitunter sprechen mich Leute aus dem Dorf an, wie es mir denn so ginge mit „meinen“ Flüchtlingen. Von wo die überhaupt kämen und wieso sie hier seien. Bereitwillig erzähle ich dann. „Na, da haben sie ja Glück mit Groß Nemerow gehabt“, sagt Gerda, eine Ureinwohnerin. „Hier, wo denen doch keiner was tut, oder?“
Die Bedeutung der Namen
Der Vater
Omar: lang Lebender, der Erstgeborene, Name eines der vier Kalifen im sunnitischen Islam
Die Mütter
Zakia: die Gebildete, die Intelligente
Asmat: die Reine
Die Kinder
Abuabkar: junges Kamel, Name eines der Gefährten des Propheten
Seit die politische Parole „Inklusion“ ausgegeben wurde, hat sich viel geändert: Ein Wort wurde durch ein anderes ersetzt. Wie praktisch, dass beide mit I beginnen. Der Unterschied zwischen dem einen und dem anderen I-Wort verschwindet ohnehin im Nirwana. Zumindest in vielen Kitas. Weiter lesen
„Um die hier kümmert sich niemand. Ich will das tun. Natürlich ist das vollkommen unrealistisch und verrückt. Natürlich.“ so sagt es Marina Naprushkina.
Jeden Tag neue Schlagzeilen über Menschen mit Fluchterfahrung. Da, wo die Medien im schnelllebigen Tagesgeschäft darüber berichten, aber letztlich das Thema nicht analytisch angehen können, setzt die Performance-Künstlerin, Autorin und Aktivistin Marina Naprushkina mit Engagement und einem hochaktuellen Buch neue Akzente. Weiter lesen