Bilderbuch
50 Jahre ist sie alt, die kleine Raupe Nimmersatt. Wer so alt wie die Raupe ist und im deutschsprachigen Raum wohnt, hat sie im Laufe seines Lebens bestimmt kennengelernt – sei es zu Hause oder im Kindergarten, sei es in der Kindheit, bei den eigenen Kindern oder Kindeskindern.
Das Bilderbuch folgt dem Weg Nimmersatts vom unscheinbar winzigen Ei auf einem Blatt bis zur dicken Raupe, die endlich so satt ist, dass sie nicht mehr weiterfressen will. Sie baut sich einen Kokon, in dem sie verschwindet, nach mehr als zwei Wochen ein Loch nach draußen bohrt und – tata! – ein wunderschöner Schmetterling ist.
Worüber wollen wir reden? Dass jedes Kind lernt, dass eine Raupe ein kleines, wurmähnliches Tier ist, aus dem etwas so Schönes wie ein bunter Schmetterling werden kann? Oder dass jedes Kind schon die Raupe bestaunt und nicht erst den Schmetterling? Dass der Künstler mit den scheinbar einfachen Mitteln der Collage Bilder von großer Strahlkraft erschafft, weil ihm eine unendliche Palette von Farben zur Verfügung steht, weil er buntes Seidenpapier bemalt und so farbliche Nuancen erzielt, mit denen man viel mehr gestalten kann als mit Collagen aus „fertigem Buntpapier“? Weil er so gut in dem ist, was er tut?
Das Buch spielt mit Formaten und Löchern, was bei seiner Entstehung sehr ungewöhnlich war und Buchbinderei wie Verlag vor große Herausforderungen stellte. Auch heutige Kleinkinder fordert es noch heraus, wenn sie der Raupe durch die Löcher in den Seiten folgen.
Eric Carle, am 25. Juni feierte er seinen 90. Geburtstag, erzählte, dass er als Kind und Jugendlicher besonders von Paul Klee, Pablo Picasso und Franz Marc beeindruckt war, die ihm ein einfühlender Kunstlehrer näherbrachte, obwohl sie in der Nazizeit verboten waren. Carle wurde in den USA geboren, aber seine deutschstämmigen Eltern gingen 1935 nach Deutschland zurück – ein Kulturschock für ihn. Da war dieser Kunstlehrer seine Rettung.
Nachdem Carle 1951 in die USA zurückgekehrt war, wurde er Werbedesigner. Als er 1969 mit „Die kleine Raupe Nimmersatt“ Erfolg hatte, war er 40 Jahre alt. In den nächsten 50 Jahren wurde er zu einem weltberühmten Bilderbuchkünstler.
Normalerweise stelle ich jede Woche ein ziemlich neues Bilder- oder Kinderbuch vor. Aber bei der kleinen Raupe mache ich eine Ausnahme, aus Hochachtung vor Eric Carle und seinem Talent, kleinen Kindern eine komplexe Sache so einfach, verspielt, gekonnt und lustvoll nahezubringen. Falls Sie gerade keine „Raupe“ zu Hause haben, sollten Sie die Gelegenheit nutzen, das Buch zu kaufen. Schon um es bei der nächsten Gelegenheit einem zweijährigen Kind zu schenken.
wamiki-Tipp: Eric Carle: Die kleine Raupe Nimmersatt. Aus dem Englischen von Viktor Christen. Geburtstagsedition mit Extra „Wie entstand die Raupe?“. Gerstenberg Verlag 1969/2019, 10,00 Euro, ab 2 Jahren