Wir denken immer, dass wir wissen, wie ein Kind ist. Wir machen uns ein Bild von ihm – in unserer Kita sogar im Team –, und so ist das Kind dann.
Als Thomas, der eine berufsbegleitende Ausbildung bei uns absolvierte und von seiner Schule den Auftrag bekam, eine Lerngeschichte für ein Kind zu schreiben, also genau hinzuschauen, was das Kind macht, was es sagt und wie es wirkt, suchte er sich die zweijährige Noemi aus und beobachtete etwas, das unserem Bild von dem Mädchen überhaupt nicht entsprach.
Wir fanden: Noemi kann zwar sehr gut sprechen und singen, hält die Melodien und merkt sich sogar lange Liedtexte, zum Beispiel „Die Gedanken sind frei“ – mit zwei Jahren! Aber sie hat keine eigenen Spielideen. Es fällt ihr nicht ein, was sie machten könnte. Brachte ihr Vater sie früh, setzte er sie irgendwo hin und empfahl ihr alles Mögliche. Sie tat aber nichts, sondern wartete immer auf Luzie. Kam Luzie, lief Noemi ihr hinterher, schloss sich ihr an, und die beiden hatten Spaß miteinander. Unser Eindruck war: Allein kommt Noemi auf nichts.
In der Lerngeschichte, die Thomas aufgeschrieben hatte, war von Luzie überhaupt keine Rede! Es kam nur Noemi vor, die im Garten ausprobierte, wie man mit dem Roller fährt – ganz selbstbewusst und natürlich singend. Bei ihren Fahrversuchen kam sie auf viele verschiedene Ideen.
Wir freuten uns, als wir lasen, was Thomas geschrieben hatte.
Besser: Wir waren froh zu merken, dass wir uns mitunter irren.
Für uns war das eine neue Wahrheit über dieses Kind.
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