Wahrheiten über die Wahrheit

Schon in der Bibel steht geschrieben: Du sollst nicht lügen.

Upps, das ist eine Lüge. Im besagten Religions-Fachbuch steht als Gebot nämlich: „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nachbarn.“ Von Lügen und falsch Zeugnis über uns selbst – „Ich bin bekanntlich der Tollste!“, – über weit entfernt wohnende Herrschaften – „Die spinnen, die Römer!“ – oder über Gegenstände – „Dieser Fön hält, was er verspricht!“ – ist nicht die Rede. Experten gehen davon aus, dass die Bibel nur klarstellen wollte: „Vor Gericht sollst du keine falsche Zeugenaussage über deinen Nachbar machen.“

Übrigens: Jeder Mensch lügt! Mindestens zweimal täglich. Das stand in einer amerikanischen Studie. Wahrscheinlich lügt er sogar 200mal, wie unzählige Internetforen und Zeitungen belegen. Dass sich diese Zahlenwerte widersprechen, ist nicht schlimm, denn das stärkt die These, dass viel gelogen wird – auch von Menschen, die die täglichen Lügenfrequenzen messen. Die „Zweimal pro Tag“-Version wurde immerhin durch Befragungen ermittelt, doch das wirft die Frage auf: Haben die Befragten vielleicht bei ihrer Antwort eine ihrer beiden Tageslügen ausgespuckt?

Viel beliebter ist ohnehin die „200-mal-pro-Tag“-Version, die auch mit einer Quelle aufwartet: der amerikanische Psychologe John Frazer. Einziger Makel: Im englischsprachigen Raum ist der Forscher samt seiner These unbekannt.

Gibt es eigentlich objektive Kriterien, um herauszufinden, was wahr ist? Das war zumindest für Aristoteles noch erwiesen: „Zu sagen nämlich, das Seiende sei nicht oder das Nicht-Seiende sei, ist falsch, dagegen zu sagen, das Seiende sei und das Nichtseiende sei nicht, ist wahr.“ Sei oder nicht sei, murrten danach viele Philosophen und behaupteten, dass Wahrheiten eher durch eine zufällige Übereinstimmung der Realität mit einer getroffenen Aussage zustande kommen. Radikale Konstruktivisten folgerten schließlich: Da ja alle Wahrnehmung subjektiv sei, gäbe es nur miteinander konkurrierende subjektive Wahrheiten. Eine Einschätzung, die das Zeug gehabt hätte, zur allgemein gültigen Wahrheit zu werden – wenn nicht genau damit deren Existenz widerlegt worden wäre.

Ob subjektiv oder objektiv: Unter Eid muss man die Wahrheit sagen. Das stimmt, rechtlich gesehen. Heikel erscheint dem Wortklauber jedoch die immer noch beliebte Eidesformel, hier in der besonders herzlichen österreichischen Fassung: „Ich schwöre bei Gott dem Allmächtigen und Allwissenden einen reinen Eid, dass ich über Alles, worüber ich von dem Gerichte befragt werde, die reine und volle Wahrheit und nichts als die Wahrheit sagen werde; so wahr mir Gott helfe!“

Abgesehen davon, dass unklar ist, was eine unreine Wahrheit ist – vielleicht ein schmutziges Geheimnis auszuplaudern –, stellt sich dem Atheisten oder dem von Gottes Hilfe Enttäuschten die Frage: Muss ich, wenn Gott mir nicht hilft, nicht automatisch die Unwahrheit sagen, weil es sonst logisch falsch wäre?

Wahr bleibt auf jeden Fall: Niemand will gern belogen werden. Oder stimmt das etwa auch nicht? Einige Fakten sprechen nämlich dafür, dass Belogen-Werden beliebter ist, als man denkt. Darunter auch der Spruch „Die Welt will belogen werden“, obwohl der mich und meinen Nachbarn ausschließt, denn wir beide sind ja nicht die Welt.

 

 

Michael Fink ist Autor und Fortbildner.

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