Verhaltens­auffällig

Gerlinde Lill versenkt pädagogische Begriffe.

Aha, da haben wir wieder ein verhaltensauffälliges Kind. Wodurch fällt es auf?

Es rennt und hampelt, sitzt nie still, ist hyperaktiv. Es haut andere Kinder, schubst und beißt, ist aggressiv. Es will immer Bestimmer sein. Es kann sich nicht konzentrieren. Es will beim Morgenkreis nicht mitmachen, sondern immer nur bauen, Fußball spielen oder… Es fordert ständige Beachtung, ist distanzlos. Es spielt den Kasper, will

immer im Mittelpunkt stehen.

Zunächst einmal: Der Begriff „verhaltensauffällig“ trifft zu. Das Kind fällt durch sein Verhalten auf. Es fällt in irgendeiner Weise aus dem Rahmen, verhält sich anders als gewohnt oder üblich.

Für sich genommen wäre das ja kein Makel. Anders zu sein als andere, etwas Besonderes zu tun oder aufzufallen, das könnte ja auch zur Konsequenz haben, besonders beachtet und anerkannt zu werden. Doch diesen Klang hat der Begriff „verhaltensauffällig“ eher nicht. Wenn ein Kind als „auffällig“ bezeichnet wird, dann meint das fast immer: Es ist „gestört“.

Ob es wirklich gestört ist oder eher gestört wird – dieser Frage wird selten weiter nachgegangen. Abweichendes Verhalten stört und soll abgestellt werden. Deshalb sucht man schnell nach Ursachen. Am Liebsten in der Familie.

Typische Erklärungsmuster:

• Die Eltern setzen keine Grenzen.

• Die Eltern erwarten zu viel und setzen ihr Kind unter Leistungsdruck.

• Die Eltern sind extrem ängstlich.

• Die Eltern trennen sich gerade.

• Die Eltern kümmern sich vorwiegend um das jüngere Geschwisterkind.

• Die Eltern haben kein Interesse an ihrem Kind und parken es vorm Fernseher. Es bleibt zu lange in der Kita, ist morgens das erste und abends das letzte Kind. Es wird mit Konsum überschüttet, aber Zuwendung ist Mangelware.

• Die Mutter ist völlig überfordert.

• Die Mutter ist alleinerziehend.

• Die häuslichen Verhältnisse sind beengt, von Gewalt geprägt oder…

• Kein Wunder, wenn das Kind verhaltensauffällig ist.

Der Druck nimmt zu

Solchen Aussagen liegen häufig Vorstellungen über Familie und „richtiges“ Elternverhalten zugrunde, die sich am idyllischen Bild der traditionellen mittelständischen Kleinfamilie orientieren. Diesem Bild entsprechen immer weniger Familien.

Die Frage nach der Lebenssituation des Kindes in seiner Familie, nach der Situation der Familie überhaupt ist zweifellos wichtig. Doch reicht es, die häuslichen Bedingungen unter die Lupe zu nehmen, um das Verhalten von Kindern zu entschlüsseln? Wohl kaum.

Übliche Konsequenzen:

Das Kind wird ermahnt, reglementiert, manipuliert, „sanft“ gezwungen, ruhig gestellt, bestraft, abgesondert … Dauerkonflikte und Dauerbelastungen bleiben in aller Regel erhalten.

Eltern werden zum Gespräch gebeten. Es wird ihnen ein Besuch beim Therapeuten, beim Kinderarzt oder bei der Familienberatung empfohlen. Sie bekommen ein schlechtes Gewissen, weil ihr Kind nicht so funktioniert, wie es soll. Sie machen sich Sorgen, geraten unter Druck und erhöhen den Druck auf das Kind.

Häufige Vermutung:

ADHS. Erleichterung, wenn das bestätigt und mit Pillen behandelt wird. Jetzt weiß man endlich, was mit dem Kind ist. Es ist krank.

Akzeptanz von Differenz? Fehlanzeige

Auffallend bei den üblichen Beschreibungen und Interpretationen: Vor allem Jungen bekommen den Stempel „verhaltensauffällig“. Ihre ausladenden Spiele, ihre lautstarke Präsenz, ihr Übermut, ihre Lust am Kräfte-Messen und ihre überhaupt schwer zu bändigenden Kräfte sind für viele Frauen befremdlich. Männern hingegen fällt das weniger unangenehm auf, denn sie erinnern sich…

Auffallend ist auch: Lautstärke und Bewegungsfreude sind eher ein Grund für pädagogische Besorgnis als leises Elend. Das fällt weniger auf.

Und daran fällt auf: Nicht die Not eines Kindes steht im Zentrum der Aufmerksamkeit. Nicht das Problem, das es hat, führt zu weiteren Überlegungen, sondern das Problem, das es macht. Erwachsene machen sich vor allem dann Sorgen, wenn ein Kind von der Norm abweicht, wenn womöglich „etwas nicht stimmt“ und deshalb besondere Förderung notwendig wird.

Übrigens: Auch Erwachsene, die aus dem Rahmen fallen, bekommen schnell einen Stempel verpasst. Die Bereitschaft zur Akzeptanz von Differenz ist trotz wachsender Individualisierung und Vielfalt von Lebensformen noch immer nicht sehr ausgeprägt. Warum sollte das in der Kita anders sein? Sollte es? Es sollte.

Was ist unser Part?

Professionelle Pädagoginnen und Berater sind sich meistens einig. Selten kommen Zweifel auf. Doch vermeintliche Gewissheiten in Frage zu stellen ist ein Schlüssel zum Verstehen. Ein weiterer Schlüssel liegt darin, in Beziehung zum Kind zu gehen und ein dritter in der kritischen Frage nach der eigenen Wahrnehmung und Interpretation.

Wenn wir Kinder wirklich in ihrer Entwicklung unterstützen wollen, müssen wir uns auf sie einlassen, genau hinschauen, zuhören und nachfragen. Wir müssen ihre Verhaltensweisen als das sehen, was sie sind: ihre individuellen Antworten auf die Umstände ihres Lebens. Wir müssen ihre Signale zu verstehen suchen, um angemessen reagieren zu können.

Wir dürfen den Blick dabei nicht allein auf das Kind und sein familiäres Umfeld richten, sondern auch und vor allem auf seine Situation und die Bedingungen in der Kita:

• Wo ist die Not des Kindes? Was bewegt das Kind? Welche Gefühle können wir erkennen?

• Fühlt es sich eventuell in seinem Tun gestört? Kann es seine Spiele oder Forschungen in Ruhe zu Ende führen? Findet es die Dinge vor, die es interessieren? Findet es genügend Herausforderungen in der Kita, die seine Neugier befriedigen oder wecken?

• Anders geschaut: Was ist an diesem Kind besonders liebenswert? Durch welche Fähigkeiten und Interessen fällt es besonders auf? Und: Was ist mein Anteil daran, dass die Beziehung zu diesem Kind schwierig ist? Was stört mich? Zugespitzt: Wo liegen meine, unsere Verhaltensalternativen?

Die meisten Kinder verbringen einen großen Teil ihres wachen Lebens in der Kita. Hier machen sie Erfahrungen mit Beziehungen und Strukturen. Hier erleben sie Achtung und Beachtung ihrer Besonderheit – oder auch nicht. Hier machen sie prägende Erfahrungen, die für ihr Selbstbild von Bedeutung sind.

Die Frage ist also vor allem: Was ist unser Part? Was können wir dazu beitragen, dass sich jedes Kind gesehen und geachtet fühlt – so, wie es ist, und nicht so, wie es sein soll, aber leider, leider noch immer nicht ist. Was können wir tun, um bedenkliche Entwicklungen zu erkennen? Wir müssen uns ernsthaft damit auseinandersetzen, wie Kindern geholfen werden kann, die unglücklich sind, desinteressiert wirken, ständig in Konflikte geraten, ausgegrenzt werden oder deren Entwicklung stagniert. Und was ist noch bedenklich? Wenn ein Kind den Stempel „verhaltensauffällig“ bekommt. Das hilft ihm nicht, es schadet nur. Deshalb lassen Sie uns den Begriff mitsamt der daran hängenden Scheingewissheit an einen dicken Stein binden und über Bord werfen. Platsch.

 

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In unserer pädagogischen Alltagssprache benutzen wir häufig Begriffe, die nicht mehr auf der Höhe der Zeit sind. Oft sind sie auch nicht auf der Höhe dessen, was wir tatsächlich tun. Lassen wir uns auf den Gedanken ein, die Gewohnheitswörter der pädagogischen Szene auf ihren Gehalt zu überprüfen, kommen wir gar nicht mehr aus dem Versenken und Waschen heraus. Denn in den meisten Begriffen steckt ein längst überholtes Rollen- und Berufsbild. Kein Wunder, Sprache verändert sich. Aber nur allmählich. Der erste Schritt ist, das Unsichtbare sichtbar zu machen. Dazu sollen die in diesem Buch gesammelten Beispiele dienen. Gespielt wird mit 37 pädagogischen Unwörtern von A wie Abholen über E wie Elternarbeit, H wie Haltungsänderung bis Z wie Zielvereinbarungen.

„Ich ging
den Worten auf
den Leim.“

Peter Maiwald

 

war jahrzehntelang als freiberufliche Bildungsreferentin unterwegs. Sie ist Mitbegründerin des NOA Berlin-­Brandenburg. Inzwischen hat sie ihre beruflichen Aktivitäten und die Pädagogik an den Nagel gehängt. Nur hin und wieder schreibt sie noch biografische Geschichten.

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