Cosma Hoffmann, Diplom-Psychologin, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Greifswald:
Keine leichte Frage, denn es gibt eine Vielzahl Definitionen, aber keinen Konsens darüber, welche nun die „richtige“ ist. Die wohl bekannteste und oft zitierte stammt von Jon Kabat-Zinn – dem Mann, der Achtsamkeit in unseren westlichen Kulturkreis integrierte wie kaum ein anderer. Er gab der Achtsamkeit einen säkularen Anstrich und ermöglichte so einen weltanschaulich neutralen Zugang.
Ursprünglich entstammt das Konzept der Achtsamkeit dem Buddhismus und bedeutet in Kabat-Zinns Worten: „Auf eine bestimmte Weise aufmerksam zu sein, bewusst, im gegenwärtigen Augenblick und ohne zu urteilen.“ Kabat-Zinn bringt zwei Kernaspekte, die in fast allen Definitionen immer wieder genannt werden, wunderbar auf den Punkt: die absichtsvolle Lenkung der Aufmerksamkeit auf das Hier und Jetzt und eine akzeptierende Haltung gegenüber den Empfindungen, die wir dabei haben.
Doch der gegenwärtige Augenblick – das Hier und Jetzt – ist ein theoretisches Konstrukt, auf das wir unsere Aufmerksamkeit nicht lenken können. Vielmehr lenken wir sie auf Stellvertreter dieses Augenblicks, und das sind unsere Gedanken, Gefühle und Empfindungen, die genau in dem Moment auftreten. Deshalb ist der Körper in Achtsamkeitsübungen so zentral, denn er ist es, der alle Sinneseindrücke des gegenwärtigen Augenblicks wahrnehmen kann.
Vielen von uns fällt es schwer, auf das Hier und Jetzt fokussiert zu bleiben, weil Achtsamkeit flüchtig ist. Die Gedanken stehen nie still, wir fangen an zu planen oder zu grübeln und – zack! Unsere Aufmerksamkeit ist nicht mehr im Moment, sondern mit der Vergangenheit oder Zukunft beschäftigt. Aber wir erleben auch Augenblicke, in denen wir achtsam sind. Besonders gut gelingt uns das in schönen Momenten, wenn wir eine Tasse guten Tee genießen oder ein interessantes Gespräch führen.
Die Aufmerksamkeit im gegenwärtigen Moment aufrechtzuerhalten lässt sich allerdings trainieren. Atemmeditation ist eine der bekanntesten Methoden. Es klingt simpel: Setz dich hin und konzentriere dich auf deinen Atem. Ungeübte merken schon nach wenigen Atemzügen, wie sich ihr unruhiger Geist rührt und Gedanken durch den Kopf kreisen lässt, die wiederum bestimmte Gefühle auslösen. Vielleicht stöhnen sie frustriert: „Was für eine dämliche Übung“ und halten sie für Zeitverschwendung. Oder sie ärgern sich, weil sie etwas vermeintlich so Leichtes wie konzentriert zu atmen nicht schaffen. Solche Gedanken können ganze Kaskaden weiterer Gedanken auslösen, und die Aufmerksamkeit für den Atem ist hin.
Dieses Gedankenkarusell lässt sich nur selten stoppen, aber wir können es verlangsamen. Dafür ist entscheidend, dass wir die Gedanken und Gefühle erstmal registrieren: einfach schauen, was da ist – egal, ob angenehm oder unangenehm –, und diesen Empfindungen offen, neugierig und akzeptierend begegnen. Das gibt uns die Möglichkeit, Gedanken oder Gefühle anzuschauen und sie dann loszulassen, ohne uns in ihnen zu verlieren. So können wir mit der Aufmerksamkeit immer wieder in den gegenwärtigen Moment zurückzukehren, auch wenn wir mal abgeschweift sind.
Die Haltung der Achtsamkeit erschließt sich letztendlich nur in der Praxis. Zwar braucht es viel Übung, die Aufmerksamkeit zu regulieren und eine akzeptierende Haltung zu kultivieren, aber diese beiden Aspekte bergen eine große Kraft für unseren Alltag.
Viele Probleme entstehen, weil wir uns wünschen, Negatives zu vermeiden und Positives festzuhalten. Erfahrungen nicht zu bewerten, scheint ein Ding der Unmöglichkeit zu sein, sichert uns diese Fähigkeit doch das Überleben. Es gehört zur biologischen Grundausstattung, Unangenehmes zu meiden und Angenehmes zu bewahren. Mit einer achtsamen Haltung betrachten wir angenehme und unangenehme Erfahrungen aber gleichwertig. Beide haben ihre Daseinsberechtigung und sind, für sich genommen, weder gut noch schlecht, sondern gehören zum Leben. Wer achtsam ist, nimmt seine Gefühle und Gedanken so an, wie sie sind, und akzeptiert schwierige Situationen ohne den Wunsch, sofort etwas verändern zu wollen.
Unangenehme Gefühle wie Angst, Trauer oder Wut mögen wir ebenso wenig wie unvernünftige Gedanken. Deshalb greifen wir im Alltag häufig zu schnellen Lösungen aus dem Repertoire bekannter Muster, die schon in der Vergangenheit nicht halfen. Taucht ein Problem auf, macht einer sich ein Bier auf, ein anderer zündet sich eine Zigarette an oder erhofft sich Entspannung bei der neuesten Netflix-Serie.
Vermeidende Strategien können sich auch in impulsiven Verhalten äußern: Bin ich wütend, mache ich mir sofort Luft; habe ich Angst, laufe ich weg. Solche Strategien mögen zwar helfen, die eigene Stimmung positiv zu beeinflussen – aber nur kurz. Irgendwann merken wir, dass sie uns davon abhalten, das zu tun, was uns eigentlich wichtig ist. Eine achtsame Haltung kann helfen, diese Strategien als Notlösungen zu erkennen, die in uns angelegten Mechanismen aufzuspüren und zu unterbrechen. Denn oft führen impulsive Reaktionen dazu, dass wir Dinge tun, die wir später bedauern oder die uns von unseren eigentlichen Zielen entfernen.
Empfinde ich Angst, meine Meinung öffentlich zu vertreten, und gebe dem Impuls nach, lieber nichts zu sagen, dann unterdrücke ich den Wunsch, zu meinen Überzeugungen zu stehen. Aus solchen Mechanismen auszusteigen heißt, den Sinnen Aufmerksamkeit zu schenken: Welche Gefühle und Gedanken sind da? Dabei fallen gewohnte Muster irgendwann auf. Erkennen wir sie, können wir uns aus ihrer Umklammerung lösen. Wie Beobachter registrieren wir sie, ohne uns dafür zu verurteilen. Der Effekt: Es entsteht eine Pause, eine Verlangsamung der automatisierten Reaktion – und diese Pause schenkt uns Freiheit. Nämlich die Freiheit zu entscheiden, was wir wirklich tun wollen.
Es scheint paradox, dass Akzeptanz und das Annehmen der Dinge, wie sie sind, zu einer Veränderung führen sollen. Aber das wertfreie Betrachten der Gedanken und Gefühle, die auftauchen, sorgt dafür, dass wir auch wirklich hinschauen. Denn wir können nur das verändern, dem wir uns zuwenden, das wir nicht wegdrücken oder vermeiden. Kabat-Zinn schreibt in seinem Buch „Gesund durch Meditation“, dass wir nur diesen Moment haben. Nur im gegenwärtigen Moment können wir wirken und unser Handeln steuern. Die Vergangenheit ist verstrichen, wir können sie nicht ändern. Die Zukunft ist ungewiss. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Moment lenken und annehmen, was ist, uns nicht in automatisierte Mechanismen verstricken – dann wächst in uns die Gewissheit, Gestalter des eigenen Lebens zu sein.
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