Alle zählen

Wimmelbuch

Nominiert für den Deutschen Jugend- Literaturpreis 2022

Schon das knallbunte Cover macht neugierig: dicht gedrängt jede Menge Menschen, die Plakate mit den Großbuchstaben des doppeldeutigen Titels halten. Innen kontrastreich Leere, eine fein gestrichelte Waldszene, dazu eine blaue Null. Auf der nächsten Seite mit der Zahl Eins die erste Person, ein Junge, der den Nachthimmel betrachtet und sich fragt, wie viele andere in genau diesem Moment dieselben Sterne sehen. Aufsteigend folgen immer höhere Zahlen und größere Personengruppen, die sich am Ende zur gesamten Menschheit auf dem Planeten Erde addieren.

Bei diesem außergewöhnlichen Wimmelbuch geht es um weit mehr als um Zahlen und ums Zählen. Die plakativen Figuren, die bei genauer Betrachtung individuelle, wiedererkennbare Züge tragen und aufs Schönste Diversität feiern, agieren miteinander an den unterschiedlichsten Schauplätzen. Von Seite zu Seite entwickelt sich ein zunehmend vielfältiger verknüpftes Beziehungsnetz. Ergänzt wird das Abgebildete am unteren Rand der (Doppel)Seiten durch eine schmale Textleiste mit prägnant von Maike Dörries ins Deutsche übersetzten Informationen. Die kurzen Texte ziehen komplexe Fragen nach sich und regen an zum Blättern, Suchen, Ausdenken immer neuer Geschichten sowie zum Philosophieren über Zufälle, Zusammenhänge und unser aller Miteinander. Ab 5.

 

Ich bin wie der Fluss

Bilderbuch

Nominiert für den Deutschen Jugend- Literaturpreis 2022

 

Der Dreiklang von Text, Bild und Typografie in diesem berührenden Bilderbuch gibt tiefen Einblick in das Innenleben eines stotternden Kindes.

Bereits morgens nach dem Aufwachen stellen sich die Worte im Mund des Ich-Erzählers kreuz und quer. Das steigert sich in der Schule, bis ihn sein Vater abholt und zum Fluss mitnimmt. Der Anblick des sprudelnden, gischtenden und tosenden Flusses hilft dem Kind, sich und sein Sprechen besser zu verstehen. Es fühlt sich getröstet und bestärkt, indem es sich selbst sagen kann: „Ich bin wie der Fluss.“

Jordan Scott hat für die traumatischen Erfahrungen des Stotterns eine authentische und zugleich poetische Sprache gefunden. Sydney Smith wechselt von pigmentierten zerlaufenden Bildern, die uns die Qualen des Jungen spüren lassen, zu kräftigen Sequenzen, in denen er die Schönheit und Wildheit des Wassers mit den sich verändernden Gefühlen des Jungen kombiniert, bis sie in einem gigantischen Panoramabild kulminieren, in dem sich der Junge ins funkelnde Wasser begibt.

Bernadette Ott macht mit ihrer bildhaften, klanglichen Übersetzung den Gefühlsraum des Kindes physisch wahrnehmbar. Große Bilderbuchkunst ab 5.

 

Vom Leben in Schwarz-Weiß und in Farbe

Hier gibt es den Artikel als PDF:

Adrian lebt einsam und verspielt in einer Welt in Schwarz-Weiß. Fast jeden Tag geht er mit einem Knoten im Magen zur Schule. Wenn er dort ist, fühlt er sich allein und anders als die anderen. Am schlimmsten ist es, wenn die Lehrer ihn bitten, laut vorzulesen: Dann vermischen sich die Buchstaben, die anderen Kinder beginnen zu lachen und zu sticheln. Die ganze graue Welt scheint plötzlich einzufrieren und Adrian flieht in seine eigene Welt.

Diese ist warm und voller Farben, denn in seiner Phantasie wachsen Adrian Flügel: Als Akrobat der Lüfte fliegt er durch das Zirkuszelt und begeistert das Publikum.

Doch als er die Hündin Niebla trifft, ändert sich alles. Jemand glaubt an ihn, und plötzlich wird Adrians Leben in Schwarz-Weiß farbig.

In dem facettenreichen Comic von Kristin Lidström und Helena Öberg spielt Farbe eine entscheidende Rolle. Der Übergang von Schwarz-Weiß-Comics zu vollfarbigen Seiten spiegelt Adrians Gefühle wider und betont die Kraft der Vorstellungskraft.

 

Das Buch verwendet zwei Sprachen – Comics und Illustrationen – um die Welt eines Kindes auszudrücken, dessen oft einsames Leben im Kontrast zu seiner starken Vorstellungskraft steht, die ihm hilft, seine Schwierigkeiten zu überwinden.

Eine fesselnde Graphic Novel über Verletzlichkeit, Wut, Trauer, Sehnsucht und die transformative Kraft der Vorstellungskraft. Die fast wortlose Erzählung öffnet das Buch für alle Leser*innen ab 8.

 

Nicky & Vera

Nicky & Vera
Ein stiller Held des Holocaust und die Kinder, die er rettete

Ein Bilderbuch von Peter Sís

Text: Kirsten Winderlich
Fotos: Elisa Bauer

Die Geschichte von Nicky und Vera wäre fast nicht erzählt worden! Der Engländer Nicky, mit vollständigem Namen Nicholas Winton, hat 669 jüdische Kinder vor dem Holocaust gerettet. So auch Vera Gissing, die 1939 ihre Familie verlässt und mit Hilfe von Winton nach England flieht. Ihren beiden Lebensgeschichten widmet sich Peter Sís in seinem feinsinnigen Bilderbuch und erzählt diese, miteinander verwoben, in Anlehnung an historisches Bild- und Kartenmaterial bei gleichzeitiger Fokussierung des jeweils individuellen Erlebens, Denkens und Handelns. Dabei gelingt es ihm das Leid, das Menschen jüdischer Herkunft im Nationalsozialismus widerfahren ist, zum Erscheinen, und gleichzeitig den Mut von Einzelpersonen, sich den Nazis entgegen zu stellen, zum Ausdruck zu bringen. Als »Stille Helden« würdigt Peter Sís diese Personen und beschreibt Nicholas Winton als einen Menschen, der »sah, dass etwas falsch lief, und etwas tat, um es zu korrigieren, aber nie für sich in Anspruch nahm, ein Held zu sein«. (Peter Sís) Wie in einer zeichnerisch-kartografischen Forschungsarbeit geht der Künstler den Folgen des Nationalsozialismus über Mappings, Bildschichtungen wie Bildsequenzen nach. Er tut dabei im Grunde genau das, was Grete Djelstrup von Nicky, ihrem Ehemann, einforderte, nachdem sie 1988 die Sammlung der Unterlagen der geretteten Kinder gefunden hatte – nämlich die individuellen Geschichten zu erzählen, die Geschichte (auch) ausmachen. Das Bilderbuch beginnt mit einem Blick auf Nickys frühen Jahre, die einen eklatanten Kontrast zu den Kindheiten in Europa nur 30 Jahre später darstellen. In Nickys Schule wurden »die Kinder ermutigt, ihren Interessen nachzugehen«. Und es war dabei ganz »egal, wofür die Schüler sich interessierten«. Dagegen war das Leben der Kinder, die Nicky vor dem Holocaust rettete, von ständiger Bedrohung, Ängsten und Verzweiflung geprägt. Adolf Hitler stellte zunehmend eine Gefahr dar und im Dezember 1938 war es dann soweit. Nicky brach auf Bitten eines Freundes seinen geplanten Skiurlaub ab und ging nach Prag. Er erkannte, dass Krieg nahte und etwas getan werden müsse. Das Mapping zeigt sowohl Nicky mit seiner Skiausrüstung als auch Massen von Kindern, unter Zeltdächern Schutz suchend, im Zentrum des Bildes. Positioniert vor der Silhouette der Tschechoslowakai verweisen die auf das Land gerichteten Panzer wie die vier rahmenden Bildeinblicke auf die kommenden Gewalttaten: die Inszenierung der Reichsparteitage in Nürnberg, die Annexion Österreichs, dargestellt über die bildnerische Ausgestaltung des Umrisses des Deutschen Reiches einschließlich Österreichs zu einem Profilbild Hitlers, das Münchner Abkommen, die Novemberpogrome. Vera, zu diesem Zeitpunkt zehn Jahre alt, war in einer kleinen Stadt in der Nähe von Prag zu Hause. Ihr Alltag war bis zum Einmarsch der deutschen Armee von Idylle und Geborgenheit geprägt, wie uns der Blick von oben in ihre Lebenswelt zeigt. Doppelt eingefriedet von Wald und Fluss ging das Leben verlässlich seinen Gang. Auch Vera hatte eine glückliche Kindheit und konnte wie Nicky ihren Interessen nachgehen. Sie liebte Katzen und nahm jede Streunende in Obhut und ihr Herz. Mit dem Einmarsch der deutschen Soldaten in die Tschechoslowakai änderte sich alles. Im Zentrum der Kartografie stehen nicht mehr die Idylle des Landlebens und keine Bilder unbeschwerter Stunden, wie beim Pilze-Sammeln, Lesen unter einem Baum oder Herumtollen mit den Katzen. Ein nicht endender Strom von Menschen, die aus Angst vor den Deutschen das Land verlassen wollen, durchzieht das Bild. Ein lauernder wölfischer Blick, einsame Babykörbe sowie ein Kompass an den Bildrändern verweisen auf die existentielle Bedrohung, die Ungewissheit für Kinder und Zukunft. Veras Eltern beschlossen, Nicky ihre Tochter Vera anzuvertrauen und mit einem Zug nach England zu schicken. Mit 67 Kindern bewegte sich Vera in das Ungewisse. »Sie und die anderen Kinder wussten nicht, was ihnen die Zukunft bringen würde. Und so erzählten sie sich Geschichten über das Leben, das sie zurückließen.« Diesen Schwebezustand der Kinder vermittelt Sís meisterhaft über ein königsblaues Universum, durch das sich der Zug, flankiert von sternenbildartigen zarten Zeichnungen, von Prag nach London wie durch einen Tagtraum schlängelt. Dass die Kinder die Hoffnung nicht aufgeben, zeigt das hellblau gehaltene Fenster im Waggon. Als Vera in London ankommt, hält sie nicht nur ihren Koffer in der Hand, sondern ist gedanklich ganz bei ihrem Zuhause, ihren Eltern und Tieren. Ihre Erinnerungen, wie das Schreiben ihres Tagebuches, dessen Seiten den Hintergrund der folgenden Bildseiten zunehmend verdichten, helfen ihr sich ohne ihre Familie in der neuen Welt zurechtzufinden. Dass man die Vergangenheit nicht ablegen kann, zeigt die letzte Episode von »Nicky und Vera« eindrücklich. Ende der 80er Jahre trifft Nicky im Rahmen einer britischen Fernsehsendung auf viele der Kinder, denen er das Leben gerettet hat. Mittlerweile erwachsen, sind ihnen ihre Kindheiten immer noch präsent. So zeigen die schwarz-weiß gehaltenen Silhouetten der erwachsenen Anwesenden eindrucksvoll mittels einer farbigen Zeichnung jeweils das »Kind in ihnen«.

Peter Sís
Nicky & Vera
Ein stiller Held des Holocaust und die Kinder, die er rettete
Aus dem Englischen übersetzt von Brigitte Jakobeit
Gerstenberg 2022
64 Seiten, durchgehend farbig illustriert, Hardcover / 31 x 23 cm
ISBN: 978-3-8369-6151-6
€ (D): 18 / € (A): 18,50 / CHF: 28,90

Anregungen für eine erweiterte ästhetische Rezeption des Bilderbuches

Die Bilder sind sehr detailreich und vielschichtig. Ein wichtiges ästhetisches Merkmal sind Kartierung und Mapping, die zu Erkundung und Erforschung anregen. Aufgrund der Dichte der Bilder bietet es sich an, das Bilderbuch zu projizieren. In der Folge könnten ausgewählte Doppelseiten ausgedruckt auf einen auf dem Boden ausgerollten Fotohintergrund gelegt werden. Ähnlich wie bei den Bildern von Peter Sís könnten die Kinder ihre Entdeckungen in der Anlage eines Rahmens um die Bilder herum skizzieren und beschreiben. Folgende Fragen initiieren und unterstützen dabei eine forschende Auseinandersetzung mit Bildern und Geschichte: Du findest in dem Bilderbuch ganz unterschiedliche Karten, die miteinander kombiniert werden und die Geschichte(n) von Nicky und Vera erzählen: Landkarten, Karten, die Dinge, Bilder, Text- und Bildseiten aus Dokumenten und Büchern, Häuser, Landschaften, Wege und Menschen verknüpfen, Karten, die unseren Blick von oben oder von der Seite ins Bild holen, Karten, die mit Bildern im Bild von parallelen Ereignissen erzählen. Und dann gibt es auch versteckte Karten, die einem vielleicht nicht so schnell auffallen: Bildsequenzen oder -reihen auf den Silhouetten von Menschen. Was haben sie zu bedeuten? Was entdeckst Du in den Bildern? Was erzählen die Bilder? Und wie erzählt Peter Sís durch seine Bilder? Lege eigene Karten Deiner Entdeckungen an, schreibe und skizziere.

Die Bilderbuchwerkstatt für die vorliegende Rezension wurde von Elisa Bauer und Helen Naujoks begleitet. Lucie (10), Lore (10) und Vicco (8) waren dabei und haben sich forschend mit Bildern und Geschichte auseinandergesetzt.

 

Kirsten Winderlichs Rezensionen, Anregungen für die ästhetische Rezeption und Impulse aus Forschungen zu Kind, Kunst und Bildung erscheinen regelmäßig auf bilderbuchkunst.de
Bilderbuchkunst.de ist ein Gemeinschaftsprojekt  der UdK Berlin, grund_schule der künste und wamiki.

Was wird aus uns?

Bilderbuch

Die Welt, wie wir sie kennen, wird untergehen. Sie ist schon dabei. Und was kommt dann? Dieses Buch entwirft in knappen Texten und auf spektakulären Bildtafeln ganz verschiedene Szenarien für unsere Zukunft. Werden wir nur in Raumschiffen überleben können? Kommt eine große Dürre oder doch eher eine Flut? Könnte es vielleicht auch schön werden, zum Beispiel ohne Kriege und Grenzen? Wie wäre das Leben ohne Autos oder mit freien Tieren? In zwölf kühnen Visionen beschreibt Andrea Paluch die möglichen Unter- und Weitergänge unserer jetzigen Welt, immer mit Blick auf den konkreten Alltag einer Familie. Die leuchtenden, großformatigen Bilder, die Annabelle von Sperber dazu geschaffen hat, sind bedrückend und berückend und lösen eine Flut von weiteren Fantasien aus.

Wunderschön, schaurig und inspirierend – ein Bilderbuch voller Stoff für Visionen, Diskussionen und Träume. Ab 8 Jahre und für alle, die diese Welt lieben!

Das Stundenbuch des Jacominus Gainsborough

Ein Stundenbuch, was mag das sein? Nun ja, ein ganzes Leben… Das von Jacominus Gainsborough, einem kaninchenartigen Wesen. Das Laub im Park, der Regen, die Ebbe. Ein Purzelbaum, ein Abschied am Hafen, ein Wiedersehen in einem Garten voller Steine.Ein Picknick, ein paar Rennen und ein neuer Schatten unter dem Mandelbaum. All das. Ein Leben. Jacominus…

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Bilderbuchkunst: Das Z zerplatzt!

Kaum zu glauben, aber es gibt sie wirklich!
Es gibt Bilderbücher, die sich ausgesprochen redlich um die Vermittlung des Alphabets bemühen und trotzdem spannende Geschichten erzählen — bis zur letzten Seite. »Das Z zerplatzt« von Chris van Allsburg ist so ein Bilderbuch, das jeden einzelnen Buchstaben aufführt, aber auf keiner Seite Spannung, Überraschung und Witz einbüßt.

Wir haben Prof. Dr. Kirsten Winderlich in der grund_schule der künste der UdK besucht. Sie stellt uns das Buch vor: