Nö, aber meistens dämlich. Fürs Lügen muss man schlau sein, schlauer als die Schäflein, die brav die Wahrheit sagen. Um sich in Lügengespinsten nicht zu verheddern, braucht man nämlich Strategie und Überblick, findet Gerlinde Lill.
Dürfen Kinder lügen? Unbedingt. Ich plädiere für ihr Recht auf Lüge und List. Wie sonst sollen sie sich gegen die Übermacht der Erwachsenen wehren? Im Übrigen: Egal, ob wir Erwachsene ihnen dieses Recht zugestehen oder nicht – Kinder werden uns belügen, solange wir sie an dem hindern, was ihnen wichtig ist.
Gerade gestern wurde ich wieder mal Zeugin einer Alltags-List: Zwei Jungen tobten auf dem Klettergerüst eines Spielplatzes, beide mit Holzstücken bewaffnet, die nach Schießeisen aussahen. Sie jagten einander und machten Schießgeräusche. Offenbar hatten sie dabei viel Spaß. Als sie mich bemerkten, hielten sie kurz inne und taxierten mich: Müssen wir uns vor der Frau in Acht nehmen? Wohl nicht. Also weiter rauf und runter, peng, peng, peng! Umfallen, aufrappeln, zurückschießen … Dabei behalten die beiden Jungen ihre Erzieherinnen im Blick. Sobald sie in ihre Richtung schauen oder gar näher kommen, werden die Geräusche leiser, und die Holzstücke verwandeln sich flugs in Bauteile. Sehr geschickt, finde ich. Vermutlich ein Resultat langer Übung. Vielleicht hatten die Knaben einst ganz unbedarft „Räuber und Gendarm“ gespielt, so hieß das in meiner Kindheit. Irgendwann merkten sie, dass ihr Tun sich zum Provozieren eignet, denn es löste Reaktionen aus: Ermahnungen, Erklärungen, Predigten und moralische Vorwürfe. Kurze Zeit macht das Spaß, bald nervt es, und da greift man als schlaues Kerlchen zur List, gibt sich harmlos und spielt „Baumeister Ben“.
Erinnern Sie sich, warum Sie als Kind oder im jugendlichen Alter gelogen hatten? Und was passierte, wenn Sie erwischt wurden? Meine Mutter fand die Sache selbst meist nicht so schlimm wie die Tatsache, dass ich nicht die Wahrheit gesagt hatte. Huh! Gelogen habe ich trotzdem weiter. Das ist wohl der springende Punkt: Für das, was ich unbedingt will, streite ich – und lüge, wenn’s sein muss. Ich log, um mich mit einer Freundin zu treffen, mit der mir der Umgang verboten war. Ich log, wenn ich von meiner Banknachbarin abgeguckt hatte und im Gegenzug ihren Aufsatz schrieb. Ich log, wenn ich das gesunde Vollkornbrot gegen ein ungesundes Brötchen getauscht hatte. Ich log, wenn ich, kaum hatte ich das Haus verlassen, die „lange Hanna“ unter meinem Rock auszog. Später log ich, wenn ich woanders übernachtete als angegeben.
Schon früh fiel mir auf, dass die Erwachsenen „zweierlei Maß“ haben: Sie lügen drauflos, mal im Kleinen, die liebe Notlüge, und mal im Großen: Wir sind’s nicht gewesen, Adolf Hitler war’s. Sie dürfen, Kinder nicht. Es kommt also drauf an, wer lügt.
Na? Wie steht’s? Ist Lügen böse? Kinder reagieren anders auf diese Frage als Erwachsene. Fragen Sie sie doch mal. Vielleicht wird dann sichtbar, warum sie lügen. Vielleicht wird sichtbar, dass wir wahrheitsliebende Erwachsene etwas ändern müssen: weniger Zwänge, Verbote, Druck, mehr Vertrauen und Entscheidungsfreiheit können Lügen auf jeden Fall vermindern. Frei nach dem Motto: „Wer Nein sagen kann, muss weniger lügen.“
Foto: beimer/photocase.de