Gedanken zu einem unbeliebten Phänomen
Der Begriff Macht ist oft negativ besetzt.
Macht will in der Kita niemand haben, denn Machthaber sind per se die Bösen. Stimmt das?
Definiert man Macht, könnte man sagen: Macht ist die Fähigkeit, die jemand aufgrund einer institutionellen Position oder kraft seiner Persönlichkeit hat, Einfluss auf das Handeln anderer Menschen zu nehmen – unter Umständen auch gegen deren Widerstreben.
Jede Erzieherin hat Macht
Viele Erwachsene in der Kita halten Macht wahrscheinlich für etwas, das sie lieber nicht hätten. Das scheint mir so, weil sie häufig dazu neigen, die Machtverhältnisse, die es nun einmal gibt, zu negieren, und sich selbst nicht als Machthabende zu sehen. Vielleicht ist das so, weil der Begriff „Macht“ negativ besetzt ist. Sich selbst als mächtig zu sehen, das kann ja unangenehm sein. Das Autoritätsgefälle in der Kita, also die Macht, die Erzieherinnen de facto über die Kinder haben, weil sie Erzieherinnen sind, blenden manche Frauen aus und sagen gern: „Wir agieren auf Augenhöhe mit den Kindern, wir sind Partnerinnen.“ Aber: Selbst wenn sie ständig auf den Knien herumrutschen würden, könnten sie nicht auf „Macht“-Augenhöhe mit Kindern kommen, und der Begriff „Partnerin“ ist so vieldeutig, dass man ihn schwammig nennen kann.
Was tun? Die Erzieherinnen könnten akzeptieren, dass sie in einem Machtverhältnis stehen, und dieses Verhältnis so klar wie möglich herausarbeiten. Zum einen für sich selbst: Wenn ich weiß, dass ich Macht über andere Menschen habe, kann ich deren Verhalten vor diesem Hintergrund manchmal besser interpretieren. Und ich kann mir überlegen, ob ich Macht in einem bestimmten Zusammenhang abgeben möchte oder nicht. Erst wenn ich mir darüber im Klaren bin, kann ich zu überlegen beginnen, wo ich den Tagesablauf partizipativer mit Kindern gestalten kann, über welche ihrer alltäglichen Belange sie selbst aus meiner Sicht Macht ausüben sollten.
Für die Kinder ist wichtig: Sie müssen wissen, wer die Macht hat, um sich dazu verhalten, sich daran abarbeiten zu können – und zwar jenseits vorgegaukelter Partizipation. Manchmal erlebe ich, dass Kindern Quasi-Mitbestimmung eingeräumt wird. Sie dürfen Regeln selbst erarbeiten, deren Geltung für uns Erwachsene im Prinzip schon feststeht: aus ethischen – Niemand wird getreten! – oder naturwissenschaftlich herleitbaren Gründen: Wie viele Kinder hält das kleine, instabile Podest in der Ecke aus? Sie dürfen wählen, ob sie am Donnerstag oder am Dienstag Spaghetti essen. Kleine oder Schein-Wahlfreiheiten innerhalb eines ganz klar gegliederten, generationalen Ordnungssystems, das durch Einfluss-Unterschiede und Machtgefälle etabliert ist, dürfen sie wahrnehmen.
Machen Erzieherinnen sich klar, dass sie Macht – in meiner Diktion: die Möglichkeit, Einfluss auf Menschen zu nehmen – haben, können sie – Erzieherinnen und Kinder – davon ausgehen, dass diese Macht da ist und immer wirkt. Egal, ob sie sich dessen bewusst sind oder nicht. Idealerweise heißt das, sie sollten sich überlegen, wie sie ihre Machtposition gestalten wollen.
Die Macht, Regeln durchzusetzen, und Regelverstöße verstehen
Was ist die Anforderung an eine gute Pädagogin – Machtperson, moralisches Modell und Beziehungsperson zugleich – in einer Situation, in der Kinder die etablierten Regeln überschreiten und dabei andere Kinder beschädigen, beschämen und ausgrenzen? Die Pädagogin hat zunächst die Regelgeltung zu sichern und klar erkennbar zu machen. Dazu verpflichtet sie ihre Machtposition. Sie sagt – und das ist ein normativer Akt: „Hauen darf man hier nicht.“ Oder: „Das geht gar nicht.“ Sie unterbindet, dass ein Kind weiter schlägt und jemanden beschädigt. Idealerweise begründet sie ihre Handlung, indem sie sagt, warum sie sie die Norm durchsetzt: „Das tut weh, du verletzt dieses Kind!“
Die Begründung hat in diesem Fall nicht die Funktion, die sie üblicherweise hat: Sie soll nicht überzeugen und Einsicht herstellen. Das heißt: Die Pädagogin wartet nicht darauf, ob das Kind der angegebenen Gründe wegen einsieht, dass es besser ist, einen anderen Menschen nicht zu verletzen. Bei fehlender Einsicht redet sie nicht etwa weiter auf das Kind ein, in der Hoffnung, dass eins der nun folgenden Argumente wirkt. Sie setzt qua Macht die Norm durch und steht für sie. Die Norm wird in ihrem Handeln sichtbar. Man könnte auch sagen: Die Norm gilt nur „durch ihr Handeln“. Die Begründung, die sie liefert, dient in dieser Situation ausschließlich dazu, deutlich zu machen, dass sie selbst als denkende Person handelt, Gründe für ihre Handlung hat und nicht nur einem Reflex folgt.
Unmittelbar nach der Wiederherstellung der Norm beginnt eine lange zweite Phase. Nun geht es darum – natürlich nachdem das geschädigte Kind getröstet wurde – zu verstehen, welche Gründe oder Motive das Kind hatte, die Norm zu übertreten. Denn: Niemand überschreitet eine Norm ohne Grund. Außerdem ist solch eine Überschreitung anstrengend.
Machtpersonen in Kitas können ihre Macht nutzen, um dafür zu sorgen, dass Kindern Aufmerksamkeit, aktives Zuhören, Empathie und Feinfühligkeit zuteil werden.
Aber: Das funktioniert nur, wenn die Norm zuvor wieder zur Geltung gebracht wurde – und zwar bei jedem erneuten Verstoß. Regeln, die nicht durchgesetzt werden, gelten nicht. Das belegen viele Studien zur moralischen Entwicklung von Kindern.
Plakativ könnte man sagen: Die mächtige Erzieherin muss den normativen Diskurs, in dem sie Regeln etabliert und durchsetzt, vom nachvollziehenden/verstehenden Diskurs trennen, in dem es darum geht, die Ursache der Regelüberschreitung zu erkennen. Doch der nachvollziehende/verstehende Diskurs darf den normativen Diskurs nicht ersetzen. Das würde nämlich dazu führen, dass die geltende Regel – vor lauter verständnisvollem Nachfragen zu den Hintergründen der Handlung eines Kindes – nicht durchgesetzt wird, was andere Kinder und das gesamte Miteinander nachhaltig schädigen kann.
Die Sonderrolle der Machthaberin
Hat ein Mensch Macht, kommt er – ob er will oder nicht – in eine Sonderrolle. Darin kann er sich so wohl fühlen, dass er sich in Amt und Würden aufbläht. Oder er kann sich bewusst machen, dass seine Macht, ist sie institutionell begründet, mit seiner Rolle verknüpft ist, nicht mit seiner Person. Das kann er transparent machen, indem er immer wieder markiert, dass er diese Rolle als Person hat. Ein Beispiel: Neulich saß ich in einem Seminar und fragte die Studierenden: „Wer beginnt mit der Präsentation seiner Arbeit?“ Alle schauten zu Boden. Ich fand das merkwürdig, erinnerte mich aber, dass ich als Schülerin auch oft dem Blick des Lehrers zu entgehen suchte, damit er mich nicht anspricht. Das erzählte ich den jungen Leuten, in der Hoffnung: Dadurch wird klar, dass ich eine Person bin, die gerade die Rolle der Dozentin hat und das reflektiert. Schon verliert Macht das Autoritätsgehabe, und die Verpflichtungs- oder Verantwortungsdimension von Macht wird deutlich.
Wie kann man das erlebbar machen? Zum Beispiel, indem man Macht auf Wissen bezieht. Wer mehr über Gartenlaub weiß, hat im Diskurs über Gartenlaub mehr Macht, denn Wissen ist wirklich Macht. Wer besser Bescheid weiß, hat einen Vorsprung. Aber wie kann ich, die Dozentin, ein Wissensgefälle, das sich als Machtgefälle manifestiert, behandeln? Ich kann es ja nicht aufheben. Doch ich kann immer wieder deutlich machen, dass auf der Ebene, auf der ich mich bewege, nahezu genauso viel unklar und offen ist wie auf der Ebene der Studierenden. Dadurch wird der Diskurs anschlussfähig.
In der Kita ist es ähnlich. Ob es um Gartenlaub oder den Mond geht – die Erzieherin kann zu einem Kind sagen: „Ich glaube, das könnte soundso sein. Was meinst du?“ Oder sie stellt in Frage, warum sie bestimmte Dinge tut, und zieht die Kinder in den Diskurs. Das hilft, den Umgang mit Macht zu üben.
Beim gemeinsamen Nachdenken über eine Sache, in das jeder Mensch seine Sicht einbringen kann, kann jeder den Umgang mit Macht tatsächlich üben. Auch in einem Machtgefälle, das auf Wissen basiert, gibt es nichts, das in Stein gemeißelt ist. In einem solchen Diskurs – oder auf einem solchen Übungsfeld – verliert die Macht ihren Schrecken, und die Angst kann verschwinden, wenn die Machthaberin – die Erzieherin, ich oder jeder Mensch in bestimmten Rollen und Situationen – als Person sichtbar wird. Und als Modell.
Verhalten wir, die Erzieherin und ich, uns kooperativ und übernehmen die Verantwortung, die aus unseren Machtpositionen resultiert, dann gehen wir auf angenehme Weise mit Macht um. Das müssen wir beide übrigens auch erst lernen. Aber in dem Moment, in dem Kinder ihre Ideen einbringen und Studierende den Blick heben, stellt sich dieses angenehme Gefühl ein. Und zwar auf beiden Seiten.
Hinzu kommt: Ein Kind oder eine Studentin lernt, dass es immer möglich ist, in den Diskurs mit situativ Mächtigeren zu gehen, wenn der Angstpfropfen herausgeplatzt ist. Dieses Erlebnis kann Kinder und alle Menschen so stabilisieren, dass sie die Erfahrung auf andere Kontexte übertragen und nachfragen, wenn jemand seine Machtposition nicht diskursiv und kooperativ ausspielt. Wer das erlebt hat, wird sich auf dieses Modell immer wieder beziehen. Sein Leben lang. Wer intransparente und also schlecht angreifbare Machtstrukturen erlebt hat, allerdings auch.
Foto: photocase