Liebes pädagogisches Tagebuch,
entschuldige meine Direktheit, aber: Wir sollten mal von Liebe reden! Nicht über die Liebe zwischen uns, Tagebuchi. Marmor, Stein und Eisen bricht, aber unsre Liebe nicht – bis ich irgendwann deine letzte Seite gefüllt habe und dich verlassen werde. Für ein neues, frischeres Buch.
Nein, es geht mir um die Liebe zum Kind. Antwortete doch neulich eine junge Erzieherin auf die Frage, was denn die Grundvoraussetzung des Erzieherberufs sei, kurz und bündig: „Liebe zum Kind.“ Muss man als Pädagoge tatsächlich Kinder lieben? Die Antworten fallen unterschiedlich aus, je nachdem, wen man fragt: eine rotwangige ältere Dame, die nach schlimmen Jahren im Drogeriegewerbe im Kindergarten gelandet ist, oder den Hortpraktikanten Armando, der schon wieder die Toberaum-Aufsicht übernehmen will. Und der Chor der ungewollt Kinderlosen jauchzt:
„Man muss Kinder einfach liebhaben! Man hat sie automatisch lieb, weil sie ja selbst so voller Liebe sind.“
Sind sie das wirklich? Eine Zeitlang wurden in der Zeitung, die ich abonniere, Leserfragen beantwortet. Auf „Warum ist eigentlich …?“ folgte: „Vermutlich ist es so, weil …“ Also ganz sachlich. Auch Kindern stellten ab und zu Leserfragen: „Warum ist das so und so?“ Darauf antworteten die Redakteure immer voller Wärme und Zuneigung: „Liebe Felizitas, bestimmt bist du jetzt traurig, doch es ist nun einmal so. Lass dir erklären …“ Während ich mir die Kinder beim Fragen schlau und manchmal sogar etwas naseweis vorstellte, bekamen sie für mich beim Lesen der Antworten plötzlich große, immer leicht feuchte Kulleraugen.
Vielleicht, liebes Tagebuch, antworten die Großen so wahnsinnig lieb, weil der unengagiert-sachliche Kindertonfall sie dazu anstachelt: Da fragen die Gören uns mal was, und dann kommen sie noch nicht mal niedlich rüber! Halten die mich etwa für einen Stein? Ich bin doch ein Mensch mit Gefühlen! Jawohl, und deswegen zeige ich mich jetzt mal von meiner allerliebsten Seite. Damit sie mich lieb haben. Denn was ist typisch Kind? Das Wenn-dann-Denken: Wenn du das nicht machst, mache ich das auch nicht. Wenn du mich nicht magst, mag ich dich auch nicht.
Kluge Pädagogen beherzigen das: Auch wenn die Kinder uns vielleicht nicht so toll finden, ist es sinnvoll, sie zu lieben – rein prophylaktisch. Genau wie es Erich Mielke tat, der auf all die schlimmen Stasi-Vorwürfe bravourös konterte: „Ich liebe – Ich liebe doch alle – alle Menschen – Na, ich liebe doch …!“(Originalzitat nach Mitschnitten) Der Trick ist gut: Wenn man Kinder ganz lieb hat, müssen sie einen zum Dank auch lieb haben – oder sie sind doofe, undankbare, gemeine Monster, die man zur Strafe noch mehr liebt. Ätsch!
Keine Sorge, liebes Tagebuch, denk nicht: Darf denn jetzt etwa keiner mehr wen lieb haben? Ich bin sehr dafür, Kinder zu lieben, und nicht nur sie. Lieben soll man auch Kolleginnen und Eltern, selbst die Meckerziegen und Dummbeutel, lieben soll man das ganze Kindergarten-Gebäude trotz oder gerade wegen seiner Fehler und Baumängel, die Grundschule trotz Hort und Sport, lieben soll man den gesamten Bildungsbereich mit all seinen öden Diskussionen und eitlen Pfauen. Und sogar den vermuffelten Hausmeister in seiner versifften Milchschleuse sollte man bei aller Liebe nicht übersehen. Nicht, weil man Dank erwartet, oh nein. Sondern – um mit dem Kabarettisten Horst Evers zu sprechen, der den Berliner Problembezirk Neukölln einst so besang: „Man muss es lieben, sonst hält man´s hier nicht aus!“
Das ist doch mal ein versöhnlicher Schluss, liebes Tagebuch: In allen Berufen lieben die Leute, womit sie tagtäglich hantieren. Der Bäcker bäckt sein Brot mit Liebe. Der Banker liebt das Geld. Saturn liebt die Technik, und die Imbissbude um die Ecke macht alles „Aus Liebe zur Wurst“. Nehmen wir uns ein Beispiel dran: Uns Pädagogen sind die Kinder Wurst – und deshalb lieben wir sie.