„Wir protestieren / auf allen Vieren!“ Schon unser erster Demospruch enthält, was dieses Genre ausmacht: das einigende „Wir“ und der Reimzwang, dem zuliebe auch eine eher unsinnige Körperhaltung heraufbeschworen wird. Der Nachsatz konkretisiert, was den Protest rechtfertigt: „Denn wir wissen, / die Schule ist beschissen!“ Der dritte Satz hingegen schildert anschaulich, zu welchen Methoden wir Protestierende zu greifen beabsichtigen: „Die Schule wird gesprengt, / die Lehrer wer´n erhängt!“ Nach diesem wüsten Gewaltszenario scheint die eigentliche Forderung fast zu kleinteilig, denn nach der Feststellung „Die Schule ist ne Schweinerei!“ folgt: „Wir wollen hitzefrei!“
Die kulturelle Praxis, für Protestaktionen Inhalte in twitterhaft verkürzte Reimform zu bringen, um sie im Chor lauthals skandieren zu können, ist wahrscheinlich nicht sehr alt. Konkret und ohne Reim erschallte die erste Losung der französischen Revolution: „Brot und die Verfassung von 1793!“ Das Backwerk tauchte auch in der Parole der deutschen Novemberrevolution auf: „Frieden und Brot!“ Als man sich nach erfolgter Revolution nicht über den weiteren Weg einigen konnte, erfand der Rotfrontkämpferbund den ersten überlieferten Demo-Reim: „Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!“ Der Reimspruch kam an – auch auf der anderen Seite, die ihn folgendermaßen abwandelte: „Wer macht uns frei? Die Hitlerpartei!“ Dieser „Befreiung“ folgten zwölf Jahre ungereimter Losungen auf Zwangs-Demos.
Auch nach Kriegsende reimte sich zunächst wenig: „Ohne mich!“ riefen Gegner der Wiederbewaffnung im Westen. „Weg mit Ulbricht!“ skandierte man 1953 im Osten, und offizielle Demonstranten antworteten mit dem wohl ödesten Demo-Spruch aller Zeiten: „Wir unterstützen unsere Regierung!“ Lange nahm man sich Zeit zum Nachdenken. Erst 1989 wagte man den Slogan „Wir sind das Volk!“, der sich im November 89 unter den Fingern der Springer-Zeitung zügig in „Wir sind ein Volk!“ verwandelte.
Das große Reimfieber brach 1968 im Westen aus, als Teile der studentischen Jugend „unter den Talaren den Mief von tausend Jahren“ ausmachten und schnell feststellten, wie gut „Springer“ zu „auf die Finger“ klingt. In den Siebzigern widerstand das Atomkraftwerk zwar jedem Reim, umso besser aber passte „Widerstand“ zum „ganzen Land“. Noch besser eignete sich der Staat: „BRD, Bullenstaat, / wir haben dich zum Kotzen satt!“ Ein Spruch, der so eingängig war, dass auch er Gefahr lief, von der falschen Seite gecovert zu werden: „Israel, Schurkenstaat…“ oder „BRD, Judenstaat…“, brüllen Nazis heute. Überhaupt zeigt sich: Was mit -at auslautet, kann leicht als Brechmittel verunglimpft werden, etwa „Göttingen, Bullenstadt“, „Bad Salzuflen, deutsche Stadt“, „Vatikan, Gottesstaat“ oder Irans Ex-Regierungschef Ahmadinedschad – alle hatte der Demonstrant „zum Kotzen satt“. Davon inspiriert, besinnt sich heute der Ostsachse auf seine Dichtkunst, um sich als satt von etwas zu bezeichnen, das er, wenn überhaupt, gerade erst kennen lernt: „Die Bürgor diesor Stadt / hoben Asylonden satt!“
In der gleichen dunklen Ecke tritt eine weitere Formulierung ihren Siegeszug an. Die „Lügenpresse“, der unter Vermeidung eines Verbs „auf die Fresse“ gehört, wurde jedoch schon vor Pegida von Neonazis immer dann auf ostdeutsche Zeitungshäuser geschmiert, wenn deren Produkte über rechte Gewalttaten berichteten. Und schon 1968 hieß es, wenn auch deutlich weniger gewaltbejahend: „Springerpresse, / halt die Fresse!“ Allerdings gelingt es links nicht immer, Gewalt als Mittel der Auseinandersetzung aus dem Demo-Spruch herauszuhalten. Man denke nur an zwei Hausbesetzer-Idole, die in einem beliebten Demo-Hit der Achtzigerjahre nach der Melodie des Pippi-Langstrumpf-Liedes gefeiert wurden: „Wir haben ein Haus, instandbesetztes Haus, der Peter und den Pit, der jeder Bullensau mal kräftig in die Fresse tritt.“ Hm.
Der zoologisch nicht ganz einwandfreie Begriff „Bullen-Sau“ weist auf ein Problem vieler moderner Demosprüche hin: Merkwürdigerweise wird der eigentliche Adressat verschwiegen, wenn so unpersönliche Gegner wie „das Kapital“, TTIP und CETA bekämpft werden. Die volle Wucht bekommen dagegen oft diejenigen ab, die den Demonstrierenden live gegenüberstehen – die „platt wie Stullen“ zu hauenden „Bullen“ –, obwohl sie keinerlei politische Entscheidungen trafen. Auch andere real Anwesende wie Anwohner oder Zufallspassanten werden gern mal herausgefordert, gefälligst Stellung zu beziehen: „Leute, lasst das Glotzen sein, / kommt herunter, reiht euch ein!“ Das Problem dabei: Würden alle mitmarschieren und niemand glotzen, fehlte der Demonstration jedwede Resonanz.
Gut, dass die „Bullen“ als Feindbild nicht ganz allein bleiben. Auch die natürlichen Gegner des tierischen Namens-Vorbilds bekommen aus ernährungsbewussten Kreisen klar artikulierte Kritik ab: „Feuer und Flamme jeder Metzgerei – Arbeitsamt statt Tierquälerei!“ Im Spruch „Ob Ost, ob West – nieder mit der Kürschnerpest!“ wird ein uraltes Handwerk gebrandmarkt, und Fachkenntnis verrät die Losung: „Ob Pelz oder Leder – Mord bleibt Mord! Kampf der Häutemafia an jedem Ort!“
Manche Sprüche hinterlassen vor lauter universitärer Beflissenheit Fremdschämgefühle: „Wer bricht den Nazis das Genick? Antideutsche Staatskritik!“ Ob es so einfach ist?
Zum Glück gibt es immer wieder Ausnahmen, weil die Freude am Reimen zu Nonsens-Losungen verlockt: „Deutsche Polizisten, Gärtner und Floristen!“ oder „Macht aus dem Staat / Gurkensalat / und aus der Polizei / Kartoffelbrei!“ Wahrscheinlich ließen sich die Reimeschmiede von der Forderung aller Schlitten-Piloten inspirieren: „Bahne frei – Kartoffelbrei!“
Längst haben auch wir Pädagogen erkannt, wie wertvoll gut gereimte Losungen für unsere Demonstrationen sind. Damit poetisch Unqualifizierte nicht verzagen, werden Bildungsdemo-Sprüche per Internet zur Verfügung gestellt: „In einem Land ohne Lehrer / wird Bildung immer schwerer!“ Das holpert zwar, bringt die Sache aber auf den Punkt. Lust am Versmaß verrät hingegen folgender Spruch: „Früh-Auslese ist nicht cool, für ALLE eine GUTE Schul!“
Andererseits sollten wir Pädagogen es mit dem Demo-Dichten nicht übertreiben, denn was reimt sich besonders gut auf den Slogan der alten Sozialdemokratie: „Wer hat uns belogen? … !“
Foto: Tom Bäcker