Kinderbuch der Woche: Ein starkes Mädchen

Bücher für Kinder von null bis zu zwölf Jahren und für ihre Erwachsenen – von Gabriela Wenke empfohlen. Jeden Donnerstag bis zur Frankfurter Buchmesse.

Billie schaut auf die Welt wie Pippi Langstrumpf. So ähnlich formulierte es eine Rezensentin im Internet. Das irritierte mich, denn Billie ist zwar stark, könnte aber nie ein Pferd mit einer Hand hochheben. Doch ihre emotionalen und seelischen Kräfte sind erstaunlich. Sie schöpft sie aus dem Leben mit ihrer Mutter, die anscheinend wenig geeignet zu sein scheint, einem Kind ein schönes Heim und eine angemessene Erziehung zu geben. Aber sie ist selbstbewusst und lebt mit Billie in einem Kokon aus Zuneigung und Offenheit. Weil sich ihr körperlicher und seelischer Zustand immer stärker verschlechtern, wird Billie vom Jugendamt zu einer Pflegefamilie hoch in den Norden Schwedens geschickt, in einen Ort namens Bokarp.

„Billie alle zusammen“ heißt der dritte Band über ein Ausnahmekind, das ganz ohne „fantastische“ Eigenschaften ein Leben meistert, an dem andere Kinder zerbrochen wäre. Wie ein Naturereignis bricht sie in die Borkarper Familie ein, stellt die richtigen Fragen, kann Wichtiges von Unwichtigem trennen und unbeirrbar beobachten.

Billie ist nicht naiv. Obwohl sie sich an Gemeinsamkeiten, Nähe und Intimität erinnert, sieht sie bei einem Besuch in Stockholm: Die Mutter ist inzwischen so krank, dass Billie nicht mehr bei ihr leben kann. Und: Billie meint, was sie sagt, sagt, was sie sieht, und besteht nicht darauf, immer Recht zu haben. Ihr realistischer, freundlicher Blick auf die Pflegefamilie öffnet den Eltern und den beiden Kindern die Augen: Nach dem Tod eines kleinen Bruders verfiel die Familie in eine Starre, der sie mit der Aufrechterhaltung von Regeln und familiären Ritualen zu begegnen versucht, was niemandem hilft: Die Tochter präsentiert sich im Internet als eine Art Model und gibt anderen Mädchen Schminktipps; der Sohn zieht sich mit seinen Tonarbeiten ins Gartenhaus zurück; der Vater hält sich an Handball und gesunde Ernährung; die Mutter versucht, sich als Pfarrerin mit Ordnungsregeln gegen die Ungerechtigkeit der Welt zu wehren, die ihr das jüngstes Kind nahm.

Im ersten Band der kleinen Reihe entdecken wir mit dem Großstadtmädchen Billie die Szenerien und Inszenierungen dieser im Schock erstarrten Familie. Billie, die mit ihrer Mutter seit Jahren auf Augenhöhe lebt, durchschaut die Rituale der in ihrem Unglück steckengebliebenen Menschen. Ohne Bosheit weigert sie sich, unsinnige Regeln einzuhalten. Den Kopf voller Rasta-Locken und in Secondhand-Klamotten, sieht sie aus wie ein Gegenentwurf zu den Borkapern, die sich jedoch von Buch zu Buch – der zweite Band heißt „Billie – wer sonst?“ – immer mehr aus ihren verkrusteten Strukturen zu lösen beginnen.

Zwar überlebt die Ehe von Petra und Mange diese Lösung nicht, aber sie führt zur Verbesserung der Beziehungen. Das stellt Billie vor ein neues Problem: Obwohl sie nun in der Familie und in der Schule angekommen ist, will das Jugendamt sie – der Trennung der Eheleute wegen – herausholen. Es braucht einen Großeinsatz von Erwachsenen und Mitschülern, damit Billie bleiben kann, wo sie endlich angekommen ist.

Billie ist eine starke Mädchenfigur, deren Geschichte sich den üblichen Zuordnungen entzieht. Sie ist den Menschen zugewandt, sie reagiert auf Unbekanntes mit Neugier und Offenheit. Ihre Frage ist nicht „Was tut ihr mir an?“, sondern „Wie kann ich euch verstehen – und euch vielleicht sogar helfen?“

Um auf den anfänglichen Vergleich mit Pippi Langstrumpf zurückzukommen: Billie hat den Mut, eigene Antworten zu finden, damit es allen ein bisschen besser geht.

Unbedingt lesen und weitergeben. Das empfiehlt

Gabriela Wenke

 

 

 

 

 

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