Lerngeschichten

Lerngeschichten haben das Potenzial, ein soziales Netz aus Unterstützung
und positiven Informationen zu erschaffen und zu pflegen.
Sie bieten die Chance, den Kita-Alltag gründlich zu entrümpeln und sich
auf das Wesentliche zu besinnen, dabei mit Lust und Freude
die alten Erziehungs-Muster zu verlernen.

Isolde Kock begeistert sich seit über 20 Jahren für Lerngeschichten und uns
mit neuen Materialien für Praxis und Ausbildung, die neue
Entwicklungen aufgreifen und im Herbst bei wamiki erscheinen.
Anlass für das folgende Gespräch.

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Lerngeschichten

Lerngeschichten gehören zu den innovativsten Verfahren der Bildungsdokumentation in der frühen Bildung. In Deutschland wie auch weltweit. Wie sich diese universelle Methode weiterentwickelt hat und das Schreiben von Lerngeschichten reflektiert und praktisch gelingen kann, zeigen Erfinderin Margaret Carr und Wendy Lee Schritt für Schritt an mehr als 60 Lerngeschichten aus Neuseeland, Australien, Kanada, China und den USA in ihrem neuen wamiki-Buch: Lerngeschichten in der Praxis. Eine Leseprobe:

Diesen Artikel gibt es hier als PDF: Lerngeschichten_#2_2022

Lerngeschichten haben ein internationales Profil als Bewertungspraxis entwickelt. Diese ersetzt das formale Testen und bezieht Gelegenheiten zum Lernen ein. Sie ermöglicht es, pädagogischen Fachkräften, Kindern und Familien, das Lernen über mehrere Jahre hinweg gemeinsam und gründlich zu reflektieren. Und sie zeigt, wie die Bewertung des Lernens und die Lernbegleitung miteinander verwoben werden können, um wirklich Wandel zu erzeugen…

In Zahids Portfolio ist eine andere Variante zu finden, wie eine Geschichte erzählt werden kann. Es dreht sich darin um eine ganz andere Art von Grenze. Die Päda­gog*innen in der Vorschule unterstützen Zahid bei seinem Versuch, die Abwesenheit seines Vaters zu verstehen, der inhaftiert wurde, als er einwandern wollte. Diese Lerngeschichte wurde aus der Muttersprache des Kindes übersetzt.

In seiner ersten Lerngeschichte „Warten auf Papa diesseits der Grenze“ verhalfen die Pädagog*innen Zahid dazu, die von Mexiko ausgehende Reise seines Vaters auf einer Karte zu zeichnen, was ihm ermöglichte, die Grenze zwischen Mexiko und Kalifornien als starke Linie darzustellen. Sie luden ihn ein, seine Ideen und Gefühle mit Farbstrichen und Acrylfarbe auszudrücken, und zwar unter der Überschrift „Was könnten wir tun, um Dich beim Erforschen dieses Themas, das Dich so sehr interessiert, zu unterstützen?“. Dies löste die zweite Geschichte aus.

In der ersten Geschichte baten sie die Familie um einen Kommentar, und die Mutter antwortete: „Zahid schreibt nicht besonders gern, doch er spricht viel und versteht auch ziemlich viel. Er zeichnet nicht gern, doch vielleicht könnte er mit Eurer Unterstützung hier in der Schule Freude an Zeichnen oder Malen finden.“

In Zahids zweiter Lerngeschichte schreibt der Pädagoge einen ermutigenden Kommentar zu dieser neuen Art, seine Gefühle auszudrücken: „Zahid, von den Möglichkeiten, die wir Dir vorgeschlagen hatten, um das Thema der Reise Deines Vaters von Mexiko in die Vereinigten Staaten weiter zu erforschen, wähltest Du die Leinwand, dünne Pinsel und Acrylfarben, um den Begriff frontera (Grenze) darzustellen. Bislang hattest Du kaum Interesse am Malen, Schreiben oder an grafischen Darstellungen Deiner Ideen gezeigt. Deine bevorzugte Ausdrucksform war das Sprechen. Und darin bist Du ziemlich gut!“

 

Warten auf Papa diesseits der Grenze

Lerngeschichte 1

 

Was ist passiert? Um welche Geschichte geht es?

Zahid, Ich bewundere Deine Entschlusskraft, uns die Geschichte von den Reisen zu erzählen, die Dein Vater unternommen hat, um sich mit Dir und Deiner Familie in Kalifornien wieder zu vereinen. Auf einer Karte zeigtest Du uns Mexico City, von wo Dein Vater sich in den Norden aufgemacht hatte, wie Du uns sagtest. Du sprachst über die Grenze (la frontera) und batst uns, Dir zu helfen, Nebraska und Texas auf der Karte zu finden, weil Dein Vater dort, wie Du sagtest, festgehalten wurde. Wir fragten Dich: „Was ist die Grenze?“ Du antwortetest: „Es ist der Ort, wo sie dich einsperren, weil du ein Immigrant bist. Mein Vater wurde festgehalten, weil er zu seiner Familie nach Kalifornien gehen wollte, um mit mir zusammen zu sein.“

Worin liegt die besondere Bedeutung dieser Geschichte?

Zahid, mit dieser Geschichte, in der Du vom fehlgeschlagenen Versuch Deines Vaters, wieder mit der Familie zusammenzukommen, erzählt hast, offenbarst Du ein Verständnis, das weit über Dein Alter von 5;4 Jahren hinausgeht. Am Anfang sprachst Du von der Landkarte als Planet – so verstehst Du wohl Deine Welt: Ein Planet mit Linien, die Städte, Staaten und Länder voneinander trennen. Ein Gebiet, das Deine Aufmerksamkeit fesselte, war die Linie zwischen Mexico und den Vereinigten Staaten, die Du mit blauer Tinte nachgezogen hast, um den Ort hervorzuheben, an dem Dein Vater die Grenze überquerte, wie Du sagtest.
Es ist wirklich bewundernswert, wie selbstbewusst und redegewandt Du vor der Klasse stehst und bereit bist, Deinen Klassenkameraden Deine Gefühle und Gedanken mitzuteilen.

 

Was könnten wir tun, um Dich beim Erforschen dieses Themas, das Dich so sehr interessiert, zu unterstützen?

Zahid, wir könnten Dich einladen, die Geschichte von den Reisen Deines Vaters mit Deinen Klassenkameraden zu teilen, und wir könnten Deine Freunde einladen, auch ihre Geschichten von ihren Familien zu erzählen.

Wir könnten aufnehmen, was es für Dich bedeutet, auf dieser Seite der Grenze auf Deinen Vater zu warten, wenn Du davon sprichst. Wir könnten Dich unterstützen, Dein Interesse am Schreiben so in die Praxis umzusetzen, dass Du Briefe oder Nachrichten an Deinen Vater schicken kannst.

Vielleicht möchtest Du mit Pinsel und Acryl-Farbe ein Bild auf eine Leinwand malen, das Deine Gedanken und Gefühle darstellt.

Was sagt die Familie dazu?

Zahid schreibt nicht besonders gern, doch er spricht viel und versteht auch ziemlich viel. Er zeichnet nicht gern, doch vielleicht könnte er mit Eurer Unterstützung hier in der Schule Freude an Zeichnen oder Malen finden.

Mama, Isauro M. Escamilla

 

Unter derselben Sonne

Lerngeschichte 1

 

Was ist passiert? Um welche Geschichte geht es?

Zahid, von den Möglichkeiten, die wir Dir vorgeschlagen hatten, um das Thema der Reise Deines Vaters von Mexiko in die Vereinigten Staaten weiter zu erforschen, wähltest Du die Leinwand, dünne Pinsel und Acrylfarben, um den Begriff frontera (Grenze) darzustellen. Bislang hattest Du kaum Interesse am Malen, Schreiben oder an grafischen Darstellungen Deiner Ideen gezeigt. Deine bevorzugte Ausdrucksform war das Sprechen. Und darin bist Du ziemlich gut!

Die Tatsache, dass Du Pinsel und Acrylfarben wähltest, belegt, dass jedes Kind das Recht auf aktive Beteiligung haben sollte, wenn es um Entscheidungen über sein individuelles Lernen geht.

Worin liegt die besondere Bedeutung dieser Geschichte?

Zahid, ich freue mich über Deinen Entschluss, den Begriff frontera grafisch darzustellen. Nachdem wir die Anfangslaute jedes Buchstaben des spanischen Alphabets immer wieder gesungen hatten, dachte ich, Du würdest das Wort frontera buchstabieren und auf Papier schreiben. Doch das war nicht der Fall. Stattdessen hast Du Dich für etwas viel Komplexeres entschieden, hast einen Pinsel und Acrylfarben gewählt, um frontera auf eine Art zu „schreiben“, die zu den Erfahrungen mit Deiner Familie und besonders mit Deinem Vater passt.

Welche Möglichkeiten ergeben sich?

Zahid, Du könntest Dich vielleicht mit Deinen Klassenkameraden und Deiner Familie über Deinen kreativen Prozess austauschen. Während des Skizzierens und Malens hast Du bemerkenswerte Geduld bewiesen, denn Du musstest mindestens 24 Stunden warten, bis die erste Farbschicht getrocknet war und Du die nächste auftragen konntest.

Du wähltest die Farbe Braun, um die Mauer zu malen, die Mexiko von den Vereinigten Staaten trennt. Das hattest Du auf den Fotos gesehen, die auf dem Computer-Bildschirm auftauchten, als Du nach Bildern für das Wort frontera suchtest. Du bestandst darauf, eine gelbe Sonne auf unsere Seite der Mauer zu malen, weil Du meintest, das würde Dein Vater sehen, wenn er in Kalifornien ankommt. Daneben maltest Du sehr hohe, farbige Gebäude mit vielen Fenstern.

Ich hoffe, dass Ihr, Du und Dein Vater, eines Tages zusammen unter derselben Sonne spielen könnt.

 

Was sagt die Familie dazu?

Ich denke, es ist gut für meinen Sohn, Unterstützung von seinen Lehrer*innen in der Schule zu bekommen, so dass er ausdrücken kann, was er fühlt oder denkt. Obwohl ich mich manchmal frage, ob es nicht besser ist, das Thema ganz zu vermeiden.

Diese Monate waren sehr schwierig für jede und jeden in der Familie, für Zahid allerdings besonders, weil er der Älteste ist. Er sagt, dass er seinen Vater vermisst, auch wenn er ihn lange Zeit nicht gesehen hat. Und er sagt, dass er nach Mexico gehen will, wenn er älter ist, um mit seinem Vater zusammen zu sein.

Isauro M. Escamilla

Vom Umgang mit einem inneren Widerstand

Es ist immer ein Widerstand zu überwinden, wenn wir uns weiterentwickeln wollen. Manchmal fällt uns das leicht. Wir sind dann intrinsisch motiviert, haben vielleicht tolle Leute um uns, oder die Sterne stehen einfach günstig. Andere Lerngelegenheiten sind für uns schwer als solche wahrzunehmen. Davon handelt die folgende Lerngeschichte. Weiter lesen…

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Geschichten- Schreiberinnen

Mit diesem Beitrag wird die Serie fortgesetzt, in der wir – in Kooperation mit der GEW und um die Kampagne „Für ein besseres EGO“ zu unterstützen – Pädagoginnen porträtieren, über ihre Arbeit, ihre Kompetenzen und ihr Engagement berichten. Mehr über die Kampagne erfahrt ihr hier. Diesmal stellt wamiki die Erzieherinnen Daniela Bördner und Clarissa Körner-Bertele aus dem Münchner Kinderhaus Felicitas-Füss-Straße vor. Weiter lesen