Wörter gibt´s, stellt der Wortklauber fest, in denen eigentlich alles steckt. Sie erzählen Geschichten vom nebulösen Beginn der Kultur bis zu den heute erreichten verwirrenden Höhen, drücken das Streben nach Gemeinschaft oder Individualität aus, und man kann mit ihnen man prima über Männer, Frauen und die Zeitläufe schlaumeiern. Vorhang auf für das Power-Wort „Genuss“!
Im ersten Akt ist „genießen“ noch jung. Die Germanen sagen dazu „njotan“ und meinen Rauben und Jagen. Weil das auf diese Weise Angeeignete gleich im Maul landet, wird das Wort fortan auch für „essen“ verwendet. Das klappt selbst heute noch: In dem Satz „Nach dem Genuss mehrerer Toastbrote“ geht es jedoch nicht um sinnliche Freuden, sondern um bloße Nahrungsaufnahme. Tut der Bauch danach weh, war das Wort „Genuss“ fehl am Platze.
Auch der zweite Akt spielt in der fernen Vergangenheit. Gehörten dem zupackenden Germanen die verzehrten Speisen? „Irgendwie schon“, erklärt er, „denn ich mache das seit Olims Zeiten. Ist also Gewohnheitsrecht!“ Das Recht, die Erträge eines Gebietes verwerten zu können, nennt sich bis heute „Nießbrauch“. „Genießen“ ist also „nutzen können“. Schon die Germanen genossen dieses Recht nicht allein, sondern teilten es mit ihren Kumpels, die man deshalb „Genossen“ nennt. Gemeinnutz geht vor Eigennutz – auch das ist ein „Genuss“.
In eine Mittelalterkulisse führt uns der dritte Akt. Ein Bedeutungszuwachs für das damals vor allem als „Genieß“ verwendete Wort bahnt sich an, weil ihm häufig „sehnen nach“ vorangestellt wird. Sehnsüchtiges Warten steigert die Lust auf „Genieß“. Kein Wunder, dass die Minnesänger dieses Erlebnis bald auf andere Sehnsüchte übertrugen, vom Genuss der „vrouwen“ träumten und ihnen zarte Liedlein widmeten: „Herzeliebez vrouwelin…“
Den vierten Akt siedeln wir in der Biedermeierzeit an. Gut, dass sich das Wort „Genuss“ durchgesetzt hat, denkt der poetische Herr Biedermeier, denn das reimt sich schön auf… Überdruss? Oder gar Exitus? „Warum gibt er mir bloß keinen Kuss?“ fragt sich die Biedermeierin indessen. Zum Glück steht das besagte Wort nun auch für all jene Nahrungsmittel, die zwar nicht satt und gesund, dafür aber lustig machen. Das weiß die Biedermeierin und öffnet ihre Absinth-Flasche.
Sollen wir einen Akt im letzten deutschen Unrechtsstaat ansiedeln, als die „Genossen“ bei „Krimsekt“ und „Dresdener Stollen“ ihre Landsleute gen Westen flüchten sahen? „Kein Genuss ohne Reue“ – diese ewige Wahrheit ist schon manchem „Genossen“ bitter aufgestoßen. Prost!
Tataa! Vorhang auf zum Grande Finale, das in der Gegenwart spielt! Der Genießer hat die Oberhand. Er beginnt den Tag mit Kaffee- und Tabak-Genuss, bevor er sich dem Fahrgenuss widmet, zur Arbeit düst, tagsüber an einer Flasche Granini-Trinkgenuss nuckelt und sich schon auf den genussreichen Feierabend freut: erst Dusch-Genuss, dann Wein- und Feinkostgenuss, schlussendlich der Genuss von Zärtlichkeiten, bevor der Genießer genüsslich entschlummert und von seinem Urlaub in der „Genuss-Region Oberfranken“ träumt. In das „Genussland Russland“ traut er sich nämlich nicht.
Applaus, der Vorhang zu – und alle Fragen offen?