Mut und Glück (Teil 1)

Zum fünften Mal lud das Netzwerk Offene Arbeit Berlin-Brandenburg (NOA) am 16. Oktober 2015 zum bundesweiten Fachgespräch in die sozialpädagogische Fortbildungsstätte Jagdschloss Glienicke in Berlin-Wannsee ein. 50 Vertreterinnen der Offenen Arbeit aus Nord und Süd, Ost und West setzten sich eineinhalb Tage lang mit zwei Begriffen auseinander, die landläufig nicht im Mittelpunkt der pädagogischen Fachdebatten stehen: Mut und Glück. Zwei Impulsreferate – von Gerhard Regel (Teil 1) und Gerlinde Lill (Teil 2) – boten Diskussionsstoff.

dandelions

Gerhard Regel, ein „Vater“ des Offenen Kindergartens – besser: der Praxisbewegung, in deren Verlauf Kita-Teams sich diesem Lebens- und Arbeitskonzept anschlossen – sprach zum Thema „Glück der Kindheit“. Dieser Beitrag folgt seinem Vortrag.

 

Glück – was ist das? Ein Phänomen aus dem Bereich der positiven Emotionen.

Wir alle wünschen uns Glück. Glück ist das intensivste Wohlbefinden, ergreift die ganze Person, strahlt auf andere Menschen ab und macht uns aufgeschlossen. Wir sind im Einklang mit uns, mit anderen, mit der Natur, mit unserer Religiosität…

Glücklich in der Arbeit mit Kindern zu sein heißt, mit ihnen einen realistischen Weg zu gehen, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und auf diesem Weg Sinn zu finden.

Ich sehe vier Aspekte:

Erstens: Das Glück der Verbundenheit

… entsteht, wenn man sich erwünscht und zugehörig fühlt. Es ist erfreulich, dass das Bewusstsein für die Bedeutung der Beziehung zu jedem Kind gewachsen ist, denn Beziehung und Bindung sind emotionale Lebensmittel. Erinnert sei an die Idee der Eingewöhnung, die aus dem Anliegen erwuchs, Kindern ihre individuelle Zeit zum Ankommen zu lassen, so dass Ängste schwinden und Vertrauen wachsen kann, das sich in Vertrautheit mit den Menschen, Spielmöglichkeiten und Strukturen der Einrichtung zeigt. Ohne Verbundenheit zu einem oder mehreren Erwachsenen, zu Paten und Kindern stellt sich das Glück des Wohlbefindens nicht ein.

Durch die Forschungen des Belgiers Frere Laevers wissen wir, dass Wohlbefinden Voraussetzung für Exploration und Engagiertheit ist. Also ist das Glück des Wohlbefindens der Schlüssel für innere Lebendigkeit und Entwicklung.

Zweitens: Das Glück der Bewegung

… empfindet man, wenn man sich in körperlicher Aktivität lebendig fühlt. Hier möchte ich auf unsere Erfahrungen mit der Psychomotorik seit den 1980er Jahren verweisen, die seitdem belegen: Von Anfang an sind vor allem die einengenden Lebensbedingungen der Kinder ein Thema, auf das wir konzeptionell immer wieder zu antworten haben. Unser Anliegen: Kinder sollen einen Lebensraum vorfinden, der sie so wenig wie möglich beeinträchtigt, beengt und beschränkt.

Darüber hinaus geht es um den Zugang zur eigenen Kindheit und dem Kind in uns, um Erfahrungen von kindlicher Freiheit, die nach und nach verschwinden: Wir konnten noch unbefangen, unbeobachtet und lange draußen sein, mit Kindern allen Alters spielen und hatten ein Hinterland, das wir in vielfältiger Bewegung erkunden konnten. Trotz mancher Einschränkungen durch Erwachsene hatten wir in den 1950er und 1960er Jahren einen großen Raum der Freiheit zur Verfügung. Uns an dieses Glück erinnernd, fanden wir Zugang zu dem, was Kindheit ausmacht: Bewegung mit dem ganzen Körper, Spiel mit unterschiedlichen Kindern, reichlich Platz und eine anregende Umgebung.

Noch etwas ist erwähnenswert: Das Kind in uns war in unseren Fortbildungen in Aktion, durch gemeinsames Bewegen zu Musik, durch Tanzen, Bauen, Spielen und bei Aufgaben, die wir uns selbst stellten und an denen wir wuchsen. Zum Beispiel bauten wir in einer riesigen Halle einen Kletterturm bis unter die Decke. Dieser Selbstbezug ermöglichte uns später den Zugang zu den Kindern und begeisterte uns dafür, mit ihnen mitzuschwingen. Das erleichterte es uns, mutig zu sein, Öffnungsprozesse mit zunehmender Freiheit in Gang zu setzen, beizubehalten und den Sitzkindergarten in einen Bewegungskindergarten zu verwandeln, in einen Spielraum für Bewegung. Emmy Pickler und Elfriede Hengstenberg zeigten uns, wie kompetent Kinder sind und wie sie sich durch ihre Bewegungsfreude unermüdlich selbst hervorbringen. All das begann Mitte der 1960er Jahre.

Drittens: Das Glück, Kind sein zu können

… und hervorzubringen, was in uns steckt.

Heute sprechen wir von konsequenter Kindzentrierung. In der offenen Pädagogik findet eine Neubewertung von  Kindheit statt: Kindheit ist eine vollwertige Weise des Menschseins, eine in sich stimmige Lebensform[1]. Das sollte jedes „Haus der Kinder“ widerspiegeln: einen Lebensraum, in dem Kinder ihr Leben für sich und mit anderen Menschen leben, in dem sie so sein können, wie sie sind, das Ihrige tun, sich frei erproben und einen Sinn darin finden, den wir Erwachsene zwar wahrnehmen können, aber nicht verstehen müssen, wenn wir das Spiel als zweckfreien Lebensausdruck wahrnehmen, ihm Priorität einräumen, den Spuren der Kinder folgen und darauf vertrauen, dass sie ihre Wege finden.

Ein sorgfältig gestaltetes „Haus der Kinder“ ist ein Möglichkeitsraum für Individualität und Entwicklung. In der Regel docken Kinder dort an, wo die Faszination für sie am größten ist. Ihre Erfahrungen versehen sie selbst mit Bedeutungen. Was gut tut, weil es stimmig ist, kommt in den Lebensrucksack und wird weiter verfolgt. Was nicht gut ist, wird – wenn möglich – gelassen. Beides verankert sich emotional und wird nicht vergessen.

Je mehr Glücksmomente Kinder erleben, desto zufriedener werden sie. Und das Glück der Zufriedenheit hält länger als Glücksmomente. Vielleicht sagen Kinder später, dass sie eine glückliche Zeit im Kindergarten hatten.

Viertens: Das Glück der Gemeinschaft

… lässt den einzelnen Menschen im Kindergartenalltag aufblühen.

Damit ist eine sozialpädagogische Tradition angesprochen, die in der offenen Pädagogik Kontinuität hat und heute auch partizipatorisch verstanden wird. Der Kindergartenalltag kann eine faszinierende Ausstrahlung haben, Neugier und die Lust zum Mitmachen wecken. Das Tun anderer Menschen, ob klein oder groß, hat eine ansteckende Wirkung. Ebenso die wiederkehrenden Momente im Verlaufe des Tages. Beim Mitmachen und Helfen fühlen Kinder sich wichtig, zugehörig und nützlich. Schrittweise bauen sie Kompetenzen auf, die schließlich zur Selbst- und Mitverantwortung führen.

Erhält der Alltag im Kindergarten die ihm gebührende Aufmerksamkeit, dann ist diese Zeit überaus wertvoll. Kinder blühen mit ihren Wir-Kräften auf. Der Drang zum Kooperieren wird ein fester Bestandteil mit jeweils individuellem Charakter und ist zugleich ein Ausdruck der Teilhabe an der Kultur des Miteinanders. Voraussetzung ist, dass wir dieses Streben nicht durch übertriebene Fürsorge ersticken.

 

Mein Blick auf die Erziehenden

Ich erinnere mich noch an einen Satz, den ich 2004 im ersten NOA-Fachgespräch hörte: „Alles, was für Kinder gilt, gilt auch für uns.“ Mit anderen Worten: Auch Erwachsene brauchen das Erleben von Glück, wenn sie sich um konsequente Kindzentrierung bemühen. Vertrauen sie den Entwicklungskräften der Kinder, selbst wenn viel Engagement nötig ist und kleine Schritte manchmal schon große Erfolge sind, kann sich Gelassenheit einstellen. Gerade dies tut Kindern besonders gut und lässt gleichzeitig offenes Miteinander zu: mit Achtsamkeit und Resonanz, Interesse und Dialog, Spaß und Spiel.

In einem Beitrag in der Zeitschrift „Psychologie heute“[2] mit dem Titel „Kind im Zentrum, Eltern im Glück“ gaben Eltern mit kindzentrierter Ausrichtung ihr subjektives Wohlbefinden zu Protokoll und waren der Ansicht, ihr Einsatz für die Kinder gebe ihrem Leben Sinn. Da dachte ich mit dem Blick auf den Kindergarten: Geht es den Kindern dort gut, wird es auch den Erzieherinnen gut gehen. Das eigene Geben wirkt zurück, macht zufrieden und manchmal sogar glücklich. Kindergärten können also nicht nur ein Gedeihraum für Kinder sein, sondern auch ein Gedeihraum für Erziehende, wenn alle ihre Stärken entfalten und gut zusammenarbeiten.

Zufriedenheit

In der Reggio-Pädagogik heißt es: „Das Kind erlaubt Erzieherinnen und Erziehern, Erziehende zu sein, aber die Erziehenden erlauben dem Kind nicht, Kind zu sein, denn es ist Kind.“ Das ist ein umwerfender Satz, der die Verbindungen deutlich macht. Wir sind Erziehende, weil Kinder sich auf uns einlassen. Was geben sie uns? Wodurch tragen sie zu unserer Selbstbestätigung bei?

  • Sie kommen gern in den Kindergarten, nachdem sie sich eingelebt hatten.
  • Sie wollen Verlässlichkeit, sich verbunden fühlen und Nähe spüren.
  • Sie lassen sich auf die Spielwelt ein.
  • Sie sind zur Mitwirkung und Mitverantwortung im Zusammenleben bereit.
  • Sie sind neugierig, lernen gern und sind kooperativ.
  • Sie werden zunehmend selbstständig und unabhängig.
  • Sie füllen ihre Zeit in Kooperation mit anderen Kindern und Erwachsenen.
  • Sie bringen ihre Entwicklung voran, haben und finden eigene Interessen.
  • Sie entwickeln ihre Potenziale und Kompetenzen.

Dabei gibt es immer wieder Glücksmomente für alle, und für uns Erwachsene wächst das lang anhaltende Gefühl der Zufriedenheit, weil es sinnvoll ist, Kindern die Entfaltung ihrer Gaben zu ermöglichen und sie bei der Öffnung zu begleiten, auch in die Welt der Abenteuer, die im Sozial- und Naturraum auf sie wartet.

[1] Andreas Flitner: Das 20. Jahrhundert. Pädagogische Impulse und Visionen. 1999 (Quelle: Internet)

[2] Psychologie heute, Heft 4/2014, S. 11

 

 

ist Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut. Lange arbeitete er als Fachberater, unter anderem für Psychomotorik und Offene Arbeit.

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