Grundrechte für Mittelschichtkinder

„Ich wär auch gern aus so ´ner interessanten Familie“, klagt des Satireautors Tochter, „in der die Kinder Haue kriegen.“ Ein Satz, der das Dilemma auf den Punkt bringt: Unsere Mittelschichtkinder haben von all den Kinderrechten, die ihnen immer bei „logo“ vorgestellt werden, gar nix. Weil sie das entsprechende Unrecht nicht erleben können.

Little Pädagogien

Man denke nur an das Recht, nicht in Armut aufzuwachsen: Ist bei den Mittelschicht-Eltern eh nicht die Frage. Oder das Recht auf gesunde Umweltbedingungen: Wie viel Biokram sollen sie denn noch aus ihrer Brotbüchse klauben? Und das Recht auf Chancengleichheit in der Bildung? Davon profitieren Lennart, Maria-Luise und Esmeralda sowieso nicht, wenn auf einmal jeder Hanswurst gleiche Chancen… Egal.

Es ist also höchste Zeit, spezielle Kinderrechte für diese Klientel zu erfinden, zugeschnitten auf ihre Lebenssituation. Voila – hier sind sie:

  1. Jedes Kind hat das Recht auf nicht per Smartphone dokumentiertes Spiel. Jedes Kind – auch der putzige Lennart und die im Mini-Oma-Mantel sooo niiiedliche Marie-Antoinette – genießt das Recht, süß auszusehen, ohne dabei gefilmt zu werden. Ausnahmen entfallen, selbst beim Ponyreiten oder Kuscheln mit Kätzchen. Entstehen solche Bilder dennoch, sind sie spätestens kurz vor der Pubertät umgehend zu löschen.
  1. Alle Kinder haben das gleiche Recht, bei Großveranstaltungen ungesunde, fettige und aus den schäbigsten Teilen unglücklicher Tiere hergestellte Bratwürste essen zu dürfen, falls deren Geruch ihre Nasen stimuliert. Ferner steht ihnen das Recht zu, jede verlangte Wurst nach Verzehr eines oder zweier Häppchen nicht aufzuessen – „Mir tun auf einmal die Tiere so leid!“ – und knorpelige Teilchen umständlich aus dem Mund zu pulen: „Willst du das weiteressen, Papa?“
  1. Alle Kinder genießen das Recht auf unpassende Freunde. Jeder Victoria, jedem Tizian und Tadeus steht es zu, sich mit Jackquelinen, Ceyennen und Capricen, Jere- und Dscherremys, Domminicks oder Dschihads anzufreunden. Damit einher geht das Recht auf freies Sich-beeinflussen-Lassen durch deren „Geschmack“ – oder wie immer wir das unter uns nennen mögen.

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  1. Alle Kinder haben das Recht auf verwohnte, missgestaltete Kinderzimmer. Ihnen steht es frei, die von Eltern zur Verfügung gestellten Designer-Kindermöbel mit Aufklebern aller Art zu bekleben: „McDonalds – ich liebe es“, „Bibi und Tina – Teil 3“. Sie haben das Recht, wenn nicht gar die Pflicht, den reinweißen Wandanstrich mit Handabdrücken unter Verwendung von Nutella oder Marmelade aufzulockern. Und es steht ihnen zu, neben Kästner, Funke und Lindgren auch anerkannten Schund – „Aufruhr im Reiterhof 2“, „Die Rückkehr der Kackwurstbande“ – in ihre Bücherregale zu stellen.
  1. Alle Kinder haben das Recht, auf Kultur zu pfeifen. Sie sollen auch als entschiedene Verachter von Geige, Klarinette oder Ballett ernst genommen werden. Entsprechende Kurse dürfen sie schon während der ersten Probestunde abbrechen, wenn ihnen das Gehampel, Gequietsche oder Gepuste keinen Spaß macht. Im Museum dürfen sie gähnen, popeln und pupsen, den Wärter nachmachen, der Alarmanlage des Original-Dürer-Drucks gefährlich nahekommen und ständig nach dem Cafébesuch fragen.
  1. Kein Kind darf in der Öffentlichkeit durch das Tragen affiger Mäntelchen, herziger Mützchen und „Omas Liebling“-T-Shirts diskriminiert werden. Zudem ist allen Kindern das Recht zu gewähren, mit bekleckerten Lieblingspullovern auszugehen und braun-graue Kleidungsstücke mit Grün und Pink zu kombinieren – auch wenn das nicht zu Muttis Stil passt.

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  1. Alle Kinder haben das Recht auf unterlassene Hilfeleistung, etwa in Bezug auf Hausaufgaben oder bei Ausflügen mit Freunden. Weder darf Mutti die Hand halten noch Vati im Sicherheitsabstand von 100 Metern mit anderen Eltern, ausgestattet mit modernster GPS-Technik und einer Emergency-Box, die Ausflügler beschatten. Kinder haben das Recht, auf die Schnauze zu fallen, ohne danach mit „Siehst du!“ und „Hab ich´s nicht gesagt?“ behelligt zu werden.
  1. Jedes Kind hat das Recht, seine Meinung bockig, selbstmitleidig, heulend oder brüllend zu verbreiten. Die Zensur von Kraftausdrücken wie „Eierloch“, „Pupskanone“ und „fette Kuh“ hat zu unterbleiben.
  1. Jedes Kind hat das Recht auf Schulversagen. Entsprechend seiner individuellen Neigungen und Interessen ist ihm zu gestatten, Mathearbeiten völlig zu verhauen, beim Hochsprung die Latte bei 65 Zentimetern zu reißen, im Test Konditionalsätze mit Konsekutivsätzen zu verwechseln und im Unterrichtsgespräch die Hand nur zu heben, um im Ohr zu pulen. Nachmittags sind allen Kindern großzügig Zeiträume zur Verfügung zu stellen, um die im Schulalltag bewiesene Nicht-Begabung durch Nichtstun zu trainieren und auszubauen.
  1. Kein Kind ist verpflichtet, die Träume seiner Eltern zu verwirklichen. Umgekehrt ist es das Recht jedes Kindes, seinen bornierten, faulen und unbegabten Eltern immer ähnlicher zu werden. Auch wenn wir Pädagogen das nur schwer ertragen.

Michael Fink ist Autor und Fortbildner.

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