Architektur Projektwoche "Meine Traumschule"
Architektur Projektwoche "Meine Traumschule"
Architektur Projektwoche "Meine Traumschule"
Architektur Projektwoche "Meine Traumschule"
Architektur Projektwoche "Meine Traumschule"
Architektur Projektwoche "Meine Traumschule"

Kartons verboten!

Grundschulkinder entwerfen Modelle für ein Schulgebäude: praktische, regelgerechte und bequem zu bauende. Martina Nadansky beschreibt, was nötig ist, damit neue Modelle entstehen: inspirierende und individuelle.

Architektur Projektwoche

„Oh Mann, das ist gemein!“ Tobias schmeißt seine Tasche in die Ecke. Was ist passiert? Die Schuhkartons sind weg! Und sie sind sogar VERBOTEN! So steht es auf der Tafel. Große Aufregung im Klassenzimmer. Und zunächst mal Ratlosigkeit- was nun? Große, kleine, dicke, dünne, schmale, breite, flache, hohe, rote, blaue, weiße, schwarze, mit und ohne Beschriftung, Logos oder Bilder, mit und ohne Deckel, gefaltet oder geklebt- aber immer eckige- Schuhkartons sind einfach nicht mehr da. Dafür liegen andere Objekte und Materialien auf dem großen Ateliertisch, den wir für den unseren Workshop aus vielen einzelnen Schülertischen zusammengerückt haben: Plastikschalen aus dem Verpackungsbereich in verschiedenen Größen, Formen und Farben, Obstnetze, Stoffreste, Nylonstrümpfe, Luftballons, Mikadostäbe, Schaschlikspieße, Zahnstocher, Styroporreste aus Verpackungen in unterschiedlichen Größen und Formen, Wolle, Draht, Papier- und Pappstücke…. nur die Schuhkartons fehlen.

Also dann mal langsam- was ist denn eigentlich passiert?

Die Architektur- Projektwoche mit 30 Grundschülern der 4.-6. Klasse stand unter dem Thema „Meine Traumschule“. Hintergrund war der (reale) Ansatz, für den vorhandenen Schulbau einen neuen Standort zu finden und einen Neubau zu entwickeln. Der Workshop war als Teil eines Partizipationsprojektes gedacht, der dann öffentlich präsentiert werden und in den aktuellen Planungsprozess einfließen sollte.

Am ersten Tag wurde der große Ateliertisch zusammengerückt und das komplette Materialangebot im Raum bereitgestellt. Kurz zuvor war dazu von der betreuenden Architektin ein Materialaushang vorbereitet worden-

Eltern, Großeltern und Kindern konnten so das Material selbst sammeln. Schuhkartons waren in der Liste EIN kleiner Teil des Materialangebotes. Aber am ersten Tag stürzten sich fast alle Kinder ausschließlich auf diese Kartons. Und am nächsten Tag war die Enttäuschung dann groß, als genau dieses Material nicht mehr zu Verfügung stand. Warum aber genau diese Aufregung? Ein Erklärungsversuch.

 

Sehr bequem!

Das Volumen eines Kartons ist im Prinzip bereits ein Raum oder ein komplettes Gebäude mit sechs Raumbegrenzungen: einem Boden, vier Wänden und mit Deckel sogar einer Decke. Man muss sich also keine Gedanken mehr zu Größe, Proportion und Konstruktion machen- das ist sehr bequem! Ein Karton ist einfach schon DA- er muss nicht bewusst gebaut werden. Entzieht man also diese Bequemlichkeit, wird es schwieriger und anstrengender- Oh Mann, das ist wirklich gemein!

Architektur Projektwoche "Meine Traumschule"  Architektur Projektwoche "Meine Traumschule"Architektur Projektwoche "Meine Traumschule"

 

Sehr praktisch!

Eine fertige Schachtel ist schon ganz fix und fertig konstruiert. Genau das kann aber dann ganz schön langweilig sein! Die größte Herausforderung- an dieser Stelle könnte man auch „Lerneffekt“ sagen- besteht ja gerade darin, sich die Konstruktion selbst zu überlegen und auszudenken und erst dadurch zu ungeahnten Konzepten zu kommen. Und was verpassen wir nicht alles, wenn wir uns auf Kartons als einzige Bauart beschränken! Aber es ist ja auch irgendwie verständlich. Denn die Seitenwände sind durch Knicken, Kleben und Falten fest zusammengefügt. Die Ecken und Kanten sind dadurch so stabil, dass sie aufeinander gestapelt werden können- vor allem, wenn man den Deckel mit verwendet.

In der realen Architektur sind solche Kistenräume ebenso praktisch- Geschosse lassen sich gut stapeln, Räume lassen sich gut reihen- es ist eine wirtschaftliche, direkte Bauweise.

Architektur Projektwoche "Meine Traumschule"Architektur Projektwoche "Meine Traumschule"

 

Sehr fertig!

Der fertige Kartonraum gibt auch bereits den Maßstab für die Weiterbearbeitung vor. Fast automatisch wird der Karton von den Kindern als komplettes Haus wahrgenommen, dem eigentlich nur die Fenster und die Eingangstür fehlen. Genau die werden dann sofort hineingeschnitten, und da man die Ecken des Kartons nicht zerstören will (denn es könnten ja statische Probleme an der offenen Ecke auftreten), gibt es fast ebenso automatisch regelmäßige, gleich große Öffnungen in den Wandflächen. Hochformate sind dabei einfacher zu realisieren als Querformate. Denn große breite Öffnungen könnten mittig knicken oder ausbeulen, und man müsste sich eine statische Verstärkung überlegen. Also geht der Trend zur regelmäßigen Reihe an Hochformaten. Das ist praktisch, sieht aber doch ziemlich langweilig aus. Diese Baukörper sind das pure Abbild praktischer Statik.

In der Architektur nennt man solche Fassaden mit regelmäßigen Fensterreihen „Lochfassaden“. Der Begriff deutet auf die statische Wirksamkeit hin: aus einem geschlossenen massiven Wandelement (z.B. aus Lehm, Ziegeln, Beton) werden „Löcher“ gewissermaßen herausgeschnitten. Somit ist die Statik der gesamten Wand nicht gefährdet. Eine regelmäßige Lochung gewährleistet dabei die gleichmäßige Verteilung der Kräfte, denn diese müssen ja im massiven Material um die „Löcher“ herum gelenkt werden. Je größer die Löcher sind, desto labiler wird die Wandstatik. Und je ungleichmäßiger sie verteilt sind, desto unterschiedlicher sind die Spannungen im Material und es könnte zu Rissbildung, Verformung und Setzung kommen. Dieser kleine Exkurs in die Baukonstruktion zeigt, dass die Kinder intuitiv auf der „sicheren“ Seite gearbeitet haben. Der Modellbau hat unbemerkt die Realität simuliert. Der Modellbau hat aber auch ebenso unbemerkt diejenige Architektur simuliert, die weitgehend phantasielos, wenig experimentell und gänzlich ohne Überraschungen unsere Städte dominiert.

 

Kreativer Umgang mit einer strengen Regel

Im Modellbau wie in der realen Architektur kann die strenge Regel „Schuhkarton“ natürlich auch kreativ interpretiert werden und somit ihre einengende Wirkung relativieren. Zum Beispiel durch die Komposition mit anderen Bauelementen oder Materialien. Dafür gibt es sogar weltberühmte Beispiele.

 

Architektur Projektwoche "Meine Traumschule"

Architektur Projektwoche "Meine Traumschule"

 

Sehr geregelt!

Die spontane Abwehrreaktion der Kinder am zweiten Tag erklärt sich also durch den Wegfall einer bequemen, stabilen, in sich bereits fertigen Konstruktion, die starke Regeln bietet und Sicherheit schafft. Diese dominante Vorgabe verführte zu schnellen und praktischen Bauergebnissen. Kreative Weiterbearbeitung der fertigen Volumen blieb die Ausnahme. Es ist eigentlich wie in der Architektur: ein abgegrenztes, kompaktes Bauvolumen, eine regelmäßige, unkomplizierte Fensterreihe sind verlässliche Lösungen für eine unkomplizierte und bequeme Planung, eine einfache Statik, überraschungsfreie Bau-und Ausstattungskosten und eine konfliktfreie Raumaufteilung. Bequemlichkeit pur also auf ganzer Linie, in allen Phasen, für alle Beteiligten. Im Workshop hat sich nach den ersten schnellen Bauergebnissen mit den Kartons tatsächlich auch Langeweile ausgebreitet. Fertig- und jetzt?

 

Sehr inspirierend!

Am zweiten Tag haben wir Betreuer daher die Schuhkartons weggeräumt. Wir haben uns sogar getraut, an die Tafel zu schreiben: Kartons verboten! Wir haben außerdem die Funktionsregel „Schulgebäude“ gelockert. Ab sofort konnten auch alle Funktionen, die irgendwie mit Schule zu tun haben, also z.B. Pausenraum, Kiosk, Sportplatz umgesetzt werden.

Neue, offenere Regeln lösten somit die alten ab und eröffnete neue Freiheiten. Freiheit für Materialien und Konstruktionen, die unbequem und auf den ersten Blick nicht unbedingt naheliegend für Architekturmodelle sind! Die aber genau dadurch die inspirierende und anregende Wirkung hatten, die wir beabsichtigt haben. Es ist kein Zufall, dass dabei so viele organische, gekrümmte, gebogene, amorphe und „windschiefe“ Gebilde entstanden sind. Der perfekte RECHTE WINKEL ist ja nur die intellektuelle Idealvorstellung des Prinzips Schwerkraft- und keine natürliche Erscheinungsform. Ganz nebenbei wurde dadurch ein weiteres Prinzip aus der Evolution des Bauens- bis Globalisierung und Technik diese Prinzipien durcheinandergebracht haben- sichtbar. Gebaut wurde immer nur mit Materialien, die als Rohstoff ausreichend in unmittelbarer Nähe vorhanden waren, die sich gut verarbeiten ließen und die den Lebensumständen angepasst waren. Die unterschiedlichen Ansprüche an eine Behausung erforderten außerdem die Kombination unterschiedlicher Materialien. Dies gilt übrigens für die menschlichen Behausungen ebenso wie für die Behausungen von Tieren- aber das ist ein anderes (schönes) Thema.

 

Sehr regulär!

Konstruktionen verraten also durch sich selbst und ihre Erscheinung, wofür, wie und auch von wem sie gebaut sind. Dabei gibt es grundsätzlich starke gemeinsame Regeln, die bei aller individuellen Ausprägung für alle gelten:

  • Alle Konstruktionen unterliegen der Schwerkraft! Die Statik des Bauens wird bestimmt durch diese selbstverständliche, alle und alles umfassende Grundregel. In der Baugeschichte gibt es daher unendliche Versuche und Entwicklungen, die Schwerkraft zu überwinden. Es wird gewölbt, abgehängt, ausgekragt, gestapelt, verdreht, gespannt, angelehnt, gezogen, gedrückt usw…….
  • Die Konstruktionsart steht in unmittelbarem Zusammenhang mit den Materialien, aus denen sie gebaut ist! Bestimmte Materialien haben bestimmte Materialeigenschaften. Stein kann keine Zugkräfte aufnehmen, ein Stahlseil kein Druckkräfte. Glas kann durchsichtig sein, Metall nicht. Die Wärmeaufnahme ist sehr unterschiedlich usw…..
  • Konstruktionen sind in der Regel für eine oder mehrere Funktionen gebaut! Sie bedienen sich dabei unterschiedlicher Konstruktionsarten und Materialien. So wie ein Vogelnest: Die Grundform wird aus Stöckchen zusammengesteckt, die transportabel sind und als Baumaterial in der Umgebung vorkommen (s.o.). Das Nest verschmilzt durch die Materialwahl mit seiner Umgebung und ist somit gut getarnt. Das Innere soll aber weich sein und warm halten. Es wird ausgepolstert mit Moos, Gras, Flaumfedern und anderen weichen organischen Materialien.

Architektur Projektwoche "Meine Traumschule"

 

Sehr individuell!

Die Individualität innerhalb der Regeln kommt zum großen Teil durch die Schwerpunkte in der Interpretation derer, die diese Konstruktion konzipieren, planen und bauen. Und jetzt wird es interessant! Im Workshop haben die Kinder gemerkt, dass genau dieser Aspekt die Langeweile vertreibt. Die unterschiedlichen Materialien und ihre Eigenschaften haben ihre Kreativität erfordert und somit gefordert (und gefördert). Aber sie haben auch gemerkt, dass individuelle Lösungen unbequem sein können. Individualität macht nervös und erfordert Mut- Mut zur ganz eigenen Lösung. Mut zu den Problemen, die dadurch entstehen könnten und die wir in diesem Moment bewältigen müssen. Es kann auch passieren, dass uns diese Freiheit überfordert- darauf kann man ganz unterschiedlich reagieren und so seine eigenen Spielräume ausdehnen. Und wenn mal etwas schiefgeht, na und?- dann ist genau das der berühmte „Lerneffekt“.

Architektur Projektwoche "Meine Traumschule"

Das weltberühmte Olympiadach für die Olympiade in München 1972 zum Beispiel galt auch lange als „unbaubar“ und musste sich gegen viele Widerstände mit eigenen Regeln an die Umsetzung herantasten. Im Wettbewerb war es mit der Vision der „Freien Spiele“ als Gegenkonzept zu geschlossenen Raumkonzepten als offene Raumstruktur ausgewählt worden. Zitat Spiegel 31/ 1969: „Im Oktober 1967 hatte das Preisgericht unter 102 Einsendungen den kühnsten Olympia-Entwurf ausgewählt: das größte freitragende Dach der Welt, von dem Stuttgarter Architektenteam Günter Behnisch aus Damenstrümpfen modelliert.“

Architektur Projektwoche "Meine Traumschule"Architektur Projektwoche "Meine Traumschule"

Im Workshop hatte sich die Aufregung am zweiten Tag nach der ersten Überraschung schnell gelegt, nachdem klar wurde, was auch und gerade ohne Schuhkartons möglich war. Die Kinder haben mit den unterschiedlichen Materialien frei experimentiert und Räume geschaffen, die mit Schuhkartons undenkbar gewesen wären.

Fotos: Martina Nadansky

ist Architektin. Sie arbeitet auch mit Kindern und Jugendlichen, ist Fachbuchautorin, hält Tagungsvorträge zur Weiterbildung und Kinderuni-Vorlesungen.

Einen Kommentar schreiben

Deine Email-Adresse wird nicht veröffentlicht. Pflichtfelder sind mit einem * markiert.