Zum fünften Mal lud das Netzwerk Offene Arbeit Berlin-Brandenburg (NOA) am 16. Oktober 2015 zum bundesweiten Fachgespräch in die sozialpädagogische Fortbildungsstätte Jagdschloss Glienicke in Berlin-Wannsee ein. 50 Vertreterinnen der Offenen Arbeit aus Nord und Süd, Ost und West setzten sich eineinhalb Tage lang mit zwei Begriffen auseinander, die landläufig nicht im Mittelpunkt der pädagogischen Fachdebatten stehen: Mut und Glück. Zwei Impulsreferate – von Gerhard Regel (Teil 1) und Gerlinde Lill (Teil 2) – boten Diskussionsstoff.
Mut und Glück – was haben die beiden miteinander zu tun? Eine Menge, wenn man sich Sprichwörter oder Märchen anschaut: „Das Glück ist mit den Tapferen“, sagen die Briten.
„Das tapfere Schneiderlein“ haben uns die Gebrüder Grimm ebenso überliefert wie die „Die Bremer Stadtmusikanten“, die tapfer behaupten: „Etwas Besseres als den Tod finden wir überall…“ Man kann sein Glück machen, wenn man sich etwas traut oder listig genug ist, dem Glück auf die Sprünge zu helfen. „Corrigé la Fortune“ heißt es bei den Franzosen und in Lessings „Minna von Barnhelm“.
Wie wir im Berliner Netzwerk Offene Arbeit darauf kamen, beides miteinander zu verbinden, schildere ich im Folgenden.
Am Anfang war der Mut
Besser: eine Idee, die Roger Prott hatte, mit dem ich regelmäßig „ins Offene“ denke. Er erzählte mir von einem Zeitungsbeitrag über Berufe, die man nur ausüben kann, wenn man mutig ist: Polizist, Feuerwehrmann, Soldat… Ich schaute gerade auf das gegenüberliegende Hausdach. Dort turnten Männer herum, just dabei, sich anzuseilen. „Und Dachdecker“, fügte ich hinzu. „Erzieherinnen auch“, sagte Roger Prott.
Erzieherinnen? Darauf wäre ich auf Anhieb nicht gekommen.
Was fällt mir ein, wenn ich Eigenschaften nennen soll, die Erzieherinnen haben? Einfühlungsvermögen, Geduld, Lebensfreude, Offenheit und im besten Fall: Klarheit der eigenen Position und Geradlinigkeit im Handeln. Aber Mut? Nein, denn sie geraten eher selten in lebensbedrohliche Situationen. Wozu brauchen sie Mut?
Ein Feuerwehrmann, der wegrennt, wenn’s brenzlig wird, ist berufsuntauglich. Ein Dachdecker mit Höhenangst auch. Unmutige Erzieherinnen hingegen gibt es zuhauf. Auch mutlose. Manche verkriechen sich im Schonraum Krippe. Fehlender Mut scheint also kein Hindernis zu sein, diesen Beruf auszuüben.
Mut und Freiheit
Mut ist ein elementarer Bestandteil pädagogischer Professionalität. Jedenfalls dann, wenn man die Aufgabe von Pädagoginnen darin sieht, Kinder in ihrem Streben nach Unabhängigkeit und Eigenständigkeit zu unterstützen. Wenn man ihnen Raum verschaffen will, sich auszuprobieren, Grenzen auszutesten, ihren Ideen zu folgen. Wenn man sie ermutigen will, die eigenen Bildungswege zu gehen. Wenn man will, dass die Kita nicht nur ein Ort für Kinder ist, sondern zu einem Ort der Kinder wird.
Klar, in der Offenen Arbeit wollen wir das. Doch die Frage ist: Tun wir es auch?
Wer an unserem NOA-Fachtag 2012 teilnahm, wird sich erinnern, dass der ironische Titel „Das Kreuz mit der Freiheit“ nicht nur die vier Seiten der Freiheit in der Kita meinte, die wir definiert hatten, sondern den Nagel auf den Kopf traf. Ein Fazit war nämlich: Wir Erwachsene müssen die Freiheit der Kinder entschiedener sichern, wenn sie uns wichtig ist. Wir haben es in der Hand. Wir sind verantwortlich.
So gesehen, verband sich das Thema dieses Fachtags mit dem des vergangenen. Der Unterschied: Vor drei Jahren waren wir konsequent von der Freiheit der Kinder ausgegangen. Diesmal wandten wir unser Wissen über kindliche Entwicklung auf uns selbst an: „Alles, was für Kinder gilt, gilt auch für uns.“
Mut und Glück
Kinder sind mutig. Das wissen wir, das sehen wir jeden Tag. Sie wachsen, wenn sie sich etwas zutrauen. Und: Es macht sie glücklich, mutig zu sein.
Gilt das auch für uns Erwachsene? Für unser berufliches Handeln? Im Vorfeld des Fachtags stellten wir uns Fragen. Zum Beispiel: Was ist Mut überhaupt? Und was nicht? Leichter fiel uns zu sagen, was wir nicht mutig finden. Zum Beispiel Leichtsinn.
Es ist kein Zufall, dass gerade Roger Prott, der Spezialist für „Aufsichtspflicht“, unermüdlich darauf hinweist: Diese Pflicht verlangt keineswegs, Gefahren auszuschalten, sondern Kindern Bedingungen zu bieten, in denen sie sich erproben und lernen können, mit Gefahren umzugehen. Das Risiko, eine Beule davonzutragen, wiegt allemal das Risiko auf, ewig unsicher und ungelenk durch die Welt zu tappen. Zugespitzt: Wer Kinder an mutigen Aktionen hindert, macht sie tendenziell zu unsicheren Menschen.
Folglich ist der Mut Erwachsener gefordert, Situationen einzuschätzen, Risiken abzuwägen, Entscheidungen zu treffen und dafür Verantwortung zu übernehmen – gegenüber Kindern, Eltern, den Vorgesetzten und der Öffentlichkeit. Nicht nur im Zusammenhang mit der leidigen Aufsichtspflicht. Wir fragten uns also:
- Welche Art von Mut brauchen Erwachsene in der Offenen Arbeit?
- Muss man mutig sein, um…?
- Wird man mutig, wenn…?
- Kann man Mutig-Sein trainieren?
- Macht Mut auch uns so stolz und glücklich wie die Kinder?
Um uns heranzutasten, tauschten wir uns darüber aus, an welche Glücksmomente wir uns erinnern, privat wie im Beruflichen. Während Musik, Tanz und Bewegung jeder Art, Muße oder Naturerlebnisse im Privatleben dominierten – eine neue Liebe gehörte ebenso in diese Reihe wie die Bekräftigung einer alten –, stand im beruflichen Vordergrund: Herausforderungen annehmen und daran wachsen, geduldig und hartnäckig Veränderungen bewirken, sich gemeinsam etwas trauen, erfolgreich sein und das feiern. Wie die Kinder.
Vielleicht verlieren wir solche Freuden zuweilen aus den Augen, weil wir uns in Routinen erschöpfen oder ständig unter Druck stehen und uns keine Zeit zum Innehalten nehmen. Da ist es dann wahrscheinlich mutig, sich diese Zeit zurückzuerobern. Nicht nur für uns…
Trotzdem halte ich die Forderung „Sei mutig“ für genau so unsinnig wie den Befehl „Sei anders“. Das klappt nicht, kann nicht klappen. Jede und jeder ist, wie sie oder er ist. Manche stürmen voran und holen sich blutige Nasen, manche warten ab, bis sie allein an der Haltestelle stehen. Aber wer mit Kindern zu tun hat, muss mutig handeln. Als Mutter, als Vater und auch als Erzieherin oder Erzieher.
Mutig sein oder mutig handeln?
Mut ist eine persönliche Eigenschaft. Ich bin mutig oder nicht – oder nur manchmal.
Demzufolge klingt die Forderung nach Mut als Teil pädagogischer Professionalität wie ein Aufruf zur Haltungsänderung: „Sei gefälligst mutig!“ Abgesehen davon, dass diese Forderung wenig erfolgversprechend ist – ich frage mich, ob es überhaupt darum geht, wie man ist. Geht es im beruflichen Zusammenhang nicht vielmehr darum, wie man handelt?
Mut als Handlungskompetenz?
Im pädagogischen Berufsfeld mischen sich privat, persönlich und professionell. Das bringt der Beruf nun mal mit sich und unterscheidet ihn von der Profession der Dachdecker. Sie turnen zwar in der Höhe herum, haben aber keine persönliche Beziehung zu den Dachziegeln. Außerdem ist ihr Handeln klar geregelt, einschließlich der Risiken. Wie bei der Feuerwehr. Soll Mut als Handlungskompetenz tatsächlich ein elementarer Bestandteil pädagogischer Professionalität sein, stellt sich die Frage, ob diese Kompetenz so gezielt und systematisch entwickelt werden kann wie andere Handlungskompetenzen auch. Mutig-Sein müsste in der Aus- und Fortbildung ebenso theoretisch begründet und praktisch geübt werden wie der Perspektivenwechsel, wie Einfühlung oder Selbstreflexion, um dermaleinst zum pädagogischen Repertoire zu gehören. Wie soll das gehen?
Offene Arbeit als Übungsfeld
In der Tat. Offene Arbeit ist ein idealer Nährboden für Mut und ein guter Trainingsraum, denn: Es fällt leichter, mutig zu sein, wenn man Klarheit über Sinn und Ziele des eigenen Tuns hat und die Verantwortung teilen kann. Beides schafft Sicherheit. Und Sicherheit braucht man, wenn man seinem Weg nicht leichtsinnig, aber mutig folgen möchte. Was für Dachdecker die Seile und Haken sind, sind für Teams in der Offenen Arbeit konzeptionelle Klarheit und verlässliche Verabredungen. Daher plädiere ich weiterhin für klare Orientierungen und einen gemeinsamen Kompass.
Doch je mehr ich über Mut als Handlungskompetenz nachdenke, desto wichtiger erscheint es mir, genau zu benennen, was das konkret bedeutet. Meine Seile und Haken sind Prüfsteine, die wir über Jahre hinweg im NOA definiert und immer wieder kritisch unter die Lupe genommen haben. Sie beziehen sich vor allem auf die Kinder: unverplante Zeit und ungestörtes Spiel. Und sie markieren das Hauptanliegen Offener Arbeit, nämlich die Freiheitsräume der Kinder zu sichern.
Ob jede Kollegin die gleichen Seile und Haken dafür nutzt – wer weiß? Hauptsache, sie ist mutig genug, den Kindern Freiheit zu lassen.
Mit Christa Möllers gründete Gerlinde Lill 2001 das Netzwerk Offene Arbeit. Seitdem setzt dieser Arbeitskreis sich mit den inneren Orientierungen der Offenen Arbeit auseinander, mit ihren sichtbaren und unsichtbaren Seiten sowie mit der Frage, wie sich die Ansprüche der Pädagoginnen in ihrem alltäglichen Handeln zeigen. Nach wie vor geht es darum, förderliche Bedingungen und Übungsfelder für Entwicklungsprozesse Erwachsener aufzuspüren.
Auf dem fünften Fachtag verabschiedete sich Gerlinde Lill aus dem NOA.
Kontakt und Info: www.noa-berlin-brandenburg.de