Gedicht: Ingeborg Bachmann

WAHRLICH
Für Anna Achmatowa

Wem es ein Wort nie verschlagen hat,

und ich sage es euch,

wer bloß sich zu helfen weiß

und mit den Worten –

 

dem ist nicht zu helfen.

Über den kurzen Weg nicht

und nicht über den langen.

 

Einen einzigen Satz haltbar zu machen,

auszuhalten in dem Bimbam von Worten.

 

Es schreibt diesen Satz keiner,

der nicht unterschreibt.

 

Foto:kallejipp/photocase.de

Gedicht: Rainer Maria Rilke

.

Ach, wehe, meine Mutter reißt mich ein.

Da hab ich Stein um Stein zu mir gelegt

und stand schon wie ein kleines Haus,

um das sich groß der Tag bewegt,

sogar allein. Nun kommt die Mutter,

kommt und reißt mich ein.

 

Sie reißt mich ein, indem sie
kommt und schaut,

sie sieht es nicht, dass einer baut –

sie geht mir mitten durch die Wand
von Stein.

Ach wehe, meine Mutter reißt mich ein.

 

Die Vögel fliegen leichter um mich her,

die fremden Hunde wissen: das ist d e r –

nur einzig meine Mutter kennt es nicht,

mein langsam mehr gewordenes Gesicht.

Von ihr zu mir war nie ein warmer Wind.

 

Sie lebt nicht dorten, wo die Lüfte sind,

sie liegt in einem hohen Herzverschlag

und Christus kommt und wäscht sie
jeden Tag.

 

Foto: as_seen/photocase.de

Gedicht: Joachim Ringelnatz

Abschiedsworte an Pellka

Jetzt schlägt deine schlimmste Stunde,

Du Ungleichrunde,

Du Ausgekochte, du Zeitgeschälte,

Du Vielgequälte,

Du Gipfel meines Entzückens.

Jetzt kommt der Moment des Zerdrückens

Mit der Gabel! — Sei stark!

Ich will auch Butter und Salz und Quark

Oder Kümmel, auch Leberwurst in dich stampfen.

Musst nicht so ängstlich dampfen.

Ich möchte dich doch noch einmal erfreun.

Soll ich Schnittlauch über dich streun?

Oder ist dir nach Hering zumut?

Du bist so ein rührend junges Blut.

Deshalb schmeckst du besonders gut.

Wenn das auch egoistisch klingt,

So tröste dich damit, du wundervolle

Pellka, dass du eine Edelknolle

Warst, und dass dich ein Kenner verschlingt.

 

Foto: Nonmin, Photocase

Gedicht: Dieter Mucke

Die treffende Antwort

Spricht jemand von oben
herab zu dir
Mit lauter Worten
wie aus Papier

Kannst du getrost
und unbesehen
Dir kleine Kugeln
daraus drehen.

Schnips sie zurück
und sage: Hier
Sammle doch
selber dein Altpapier!

 

Foto: NINEmade.de/photocase.de

Meine Woche drin: 7-Tage-Märchen, Sprach-Spiel und Bilder-Buch

Eine Woche drin- Pappbuch und Masken von Nadia Budde

Meine Woche drin: Budenstoffel und Heimpantoffel, Scheunenstrolch und Polstermolch? Vorhangbeißer und Sesselreißer? Nadia Budde hat einen 7-Tage-Comic zum Ausnahmezustand für Kinder, Erzieher*innen, Lehrer*innen, Familien gezeichnet. Wie wir “drinnen” in neue Daseinsformen wechseln, kannst Du in der neuen wamiki und im neuen Bilderbuch entdecken und selbst mit den Kindern gestalten:

Wie sieht Eure Zeit drinnen aus? Schickt uns Eure Woche drin…
Zum Beispiel als: Türbuch, Zeichnung, x-Tage-Märchen, Sprach-Spiel, Tagebuch, Minifilm, Podcast … Wie das geht?
Hier ein paar Tipps:

Meine Woche drin … als Türbuch

Material: Papierbögen (DIN A4, weiß oder farbig) zum Herstellen der Klappbücher, Stifte und Zeugs zum Gestalten

So geht’s:
Ein längs halbierter DIN A4-Streifen wird zum Klappbuch gefaltet und außen mit einem Türmotiv versehen. Die Tür kann nun auf-und zugeklappt werden. Was wird wohl dort sein? Hinter der Tür? Wer lebt dort? Öffnet die Tür und malt/schreibt die Geschichte auf…

… als Hausbuch

Material: Zeichenkarton (DIN A4, weiß oder farbig) zum Herstellen der Klappbücher, Stifte, Schere und Zeugs zum Gestalten

So geht’s:
Ein längs halbierter DIN A4-Karton wird zum Klappbuch gefaltet, so dass er sich in der Mitte aufklappen lässt. Im oberen Drittel wird die Dachform geschnitten: schräg, rund, mit Turm oder ohne…
Außen kann die Hausfassade mit Fenstern, Haustür, Dach gestaltet werden. Das Papierhaus kann auch ein Papierschloss sein – mit Schlosstür, Turmspitzen… In das Innere des Hauses/Schlosses wird die Geschichte gemalt/hineingeschrieben.
Zum Beispiel als

… 5-Sätze-Märchen

Zuerst werden dafür Wörter eingesammelt, aus denen die Kinder die Geschichte bauen. Wörter sind die Baumaterialien aller zu schreibenden Geschichten. Die eingesammelten Wörter werden in die beiden Flügeltüren innen gemalt/notiert:
Auf die linke Innenseite drei bekannte Hausbewohner*innen (oder Märchenfiguren).
Zum Beispiel: Mama, Bruder, Hund…

Auf die rechte Innenseite werden die Namen von 13 Dingen geschrieben, die die Kinder entweder in dem Raum, in dem sie sich gerade befinden, vorfinden oder die sie an einem anderen Ort einsammeln können (Wörter aus der Küche, Wörter aus dem Kinderzimmer, Wörter aus dem Bad…) Also zum Beispiel Küchenwörter: Nudeln, Marmelade, Honig, Besen, Schokolade, Apfel, Kochbuch, Rezepte, Eis …

Auf die Mittelseite des Klappbuches innen kommen dann die fünf Sätze der Geschichte:

Ein einfaches Baumuster kann sein:

  1. Satz: Die Hauptfigur entsteht. Dazu wird jeweils ein Wort von den zwei Außenseiten zusammengesetzt: Es war einmal eine Schokoladenmama…
  2. Satz: Lieblingsbeschäftigung der Hauptfigur: Am liebsten kochte die Schokoladenmama Nudeln mit Marmelade…
  3. Satz: Besuch kommt. Dazu wird jeweils ein Wort von den zwei Außenseiten zusammengesetzt: Eines Tages klopfte es und der Apfelhund saß vor der Tür…
  4. Satz: Was für ein Geschenk bringt der Besuch mit? Er brachte ein selbstgemaltes Kochbuch mit…
  5. Satz: Was passiert nun? Seitdem sitzen sie zusammen und lesen sich Rezepte vor…

… als Sprachspiel und Tagebuch

In Nadia Buddes Pappbilderbuch “Eine Woche drin” dreht sich alles um das Spiel mit der Sprache, konkret um das Erfinden von neuen Wörtern und das Reimen.
Material: Zeichenkarton (DIN A4, weiß oder farbig) zum Herstellen der Zieharmonika-Bücher, Stifte, Schere und Zeugs zum Gestalten

So geht’s:
Ein DIN A4-Blatt längs halbieren und auseinanderschneiden. Den Streifen einmal in der Mitte falten und wieder aufklappen. Den Streifen nun von beiden äußeren Seiten bis zur Mitte falten. Das Buch als Zieharmonika legen.
Zuerst wird Nadias Buch vorgelesen… und eingehend betrachtet. Beim mehrmaligen Vorlesen kann das Reimwort weggelassen werden, sodas die Kinder das fehlende Reimwort erraten können. Nun können Kinder eigene Wortschöpfungen und Reime erfinden. Das Spiel heißt: Wesen… aufwecken, die in der Geschichte, im Reim mitspielen.

In jedem Raum gibt es viele Dinge. Sichtbare Dinge wie zum Beispiel Wand, Tür, Fenster, Stuhl, Lampe, Tisch, Couch und unsichtbare, verborgene wie zum Beispiel Schätze in den Hosentaschen, Schubladen …
Diese zufällig vorhandenen Dinge können Kinder mit den Augen ablesen. Die Suchaufgaben können variiert werden. Zum Beispiel können Kinder nach großen oder kleinen, spitzen oder runden, blauen oder grünen Dingen suchen und Wörter zusammenstellen. Dieses Spiel verbindet bewusstes Wahrnehmen mit dem sprachlichen Artikulieren. Wahrnehmen und Benennen gehören zu den Grundübungen der Kopfgymnastik, mit denen jedes Schreibspiel beginnen kann… Hierbei werden die fünf Sinne der Wahrnehmung sensibilisiert.
Was ist das, und wie heißt das, was ich gerade sehe, rieche, schmecke, höre, taste? Die Dinge bekommen einen Namen: ein Wort, das ausgesprochen oder auch aufgeschrieben oder ins Bild gesetzt wird. Aus den Dingen und Figuren lassen sich zusammengesetzt wunderbare neue Wörter schöpfen. Ein unendliches Spiel…

Das Pappbilderbuch von Nadia Budde gibt es im wamiki-shop. Es kostet einzeln 12 Euro, im Set mit Maske (Unikat): 20 Euro, zzgl. Versand, zu bestellen hier.

wamiki-Tipp für Grundschulen:
Eva Maria Kohl, Michael Ritter: Schreibszenarien: Wege zum konstruktiven Schreiben in der Grundschule. Klett/Kallmeyer, 4.Auflage 2019, ISBN 978-3-7800-1050-6

Gedicht: Heinrich Detering

Kilchberg

täglich andere Ängste

und immer dieselbe Angst

die erste die letzte die längste

dass du nicht langst

 

dass du nie genug bist

dass du nie genügst

dass deine Sicherheit Lug ist

dass du lügst

 

Angst vor offenen Plätzen

Gier nach dem eigenen Platz

nachts das alte Entsetzen

morgens der nächste Satz

 

Gedicht: Gottfried August Bürger

Mittel gegen den Hochmut der Großen

Viel Klagen hör’ ich oft erheben

Vom Hochmut, den der Große übt.

Der Großen Hochmut wird sich geben,

Wenn unsre Kriecherei sich gibt.

 

 

Foto: Pippilotta, photocase

Das Gedicht: Bertolt Brecht

Der Schneider von Ulm
(Ulm 1592)

Bischof, ich kann fliegen

Sagte der Schneider zum Bischof.

Paß auf, wie ich’s mach!

Und der stieg mit so ’nen Dingen

Die aussahn wie Schwingen

Auf das große, große Kirchendach.

Der Bischof ging weiter.

Das sind lauter so Lügen

Der Mensch ist kein Vogel

Es wird nie ein Mensch fliegen

Sagte der Bischof vom Schneider.

Der Schneider ist verschieden

Sagten die Leute dem Bischof.

Es war eine Hatz.

Seine Flügel sind zerspellet

Und er liegt zerschellet

Auf dem harten, harten Kirchenplatz.

Die Glocken sollen läuten

Es waren nichts als Lügen

Der Mensch ist kein Vogel

Es wird nie ein Mensch fliegen

Sagte der Bischof den Leuten.

Foto: Stadtarchiv Ulm

Das Gedicht: Chetan Akhil

Konkurrenz beginnt im Samenstrang

Und in den Katakomben potentieller

Arterhaltung setzt sie sich fort.

Vom olympischen Impuls gelenkt,

tritt jeder gegen jeden an.

Applaus gilt nur dem Sieger, der

erschöpft den gläsernen Pokal

in Händen hält,

durch den sein müder Blick

wie durch die

Linse eines Objektivs auf das

Schlachtfeld

sich amüsierender Verlierer fällt.

 

Foto: vign/photocase.de

Das Gedicht: Robert Gernhardt

Keine Kunst ohne Künstler

Zum Beispiel Bilder:

So eine Zeichnung, die
kommt doch nicht von ungefähr!
Da schaut erst jemand hin,
und dann zeichnet er.

Oder Prosa:

So ein Roman, der
fällt doch nicht vom Himmel, Mann!
Da nimmt sich jemand Zeit,
und dann schreibt er dran.

Oder Lieder:

So ein Lied, das
wächst doch nicht von allein!
Da denkt erst jemand nach,
und dann fällt’s ihm ein.

Oder Lyrik:

o ein Gedicht, das
schreibt sich doch nicht selber hin!
Da formt jemand das Wort,
und das macht dann Sinn.

Oder Unsinn.

 

Foto: photocase, The Riley Shot

Gedicht: Marie von Ebner-Eschenbach

 

Das Schiff

Das eilende Schiff, es kommt durch die Wogen

Wie Sturmwind geflogen.

Voll Jubel ertönt’s vom Mast und vom Kiele:

„Wir nahen dem Ziele.“

Der Fährmann am Steuer spricht traurig und leise:

„Wir segeln im Kreise.“

 

 

Teaserfoto: photocase

Gedicht: Mascha Kaléko

Mein schönstes Gedicht

Mein schönstes Gedicht?

Ich schrieb es nicht.

Aus tiefsten Tiefen stieg es.

Ich schwieg es.

 

 

Teaserfoto: