• Die Erzählerin Dörte Hentschel
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Es lacht, es kracht, es war einmal …

Manche Leute können gut erzählen, sind deswegen sehr beliebt – besonders bei Kindern – und werden gern eingeladen.
Gibt es Regeln für gutes Erzählen? Ja. Lesen Sie, was die Erzählerin Dörte Hentschel dazu zu sagen hat.

Nach dem Abitur wusste Dörte Hentschel nicht, was sie werden will. Eher halbherzig, doch neugierig entschloss sie sich, den Studiengang „Theater und Medien“ in Bayreuth zu belegen, kämpfte sich durch, fand Freiräume, drehte kleine Kurzfilme, machte ein Praktikum beim Radio und merkte: Am meisten interessieren sie Geschichten und die Arbeit mit ihrer Stimme. Vom Beruf der Erzählerin hatte sie damals noch keine Ahnung.

Eines Tages nahm Dörtes Freundin Caro sie mit zu einem Kurs des Studiengangs Theaterpädagogik. Als Dörte hörte, dass Erzählkunst Teil des Curriculums ist, wusste sie: „Das ist es!“ Warum? „Bei dem Radioprojekt während meiner Ausbildung“, erklärt sie, „musste ich Interviews mit Leuten machen. Ich sammelte O-Töne ein, verarbeitete sie in einem Feature und ärgerte mich, dass die Leute nichts mehr zu dem sagen können, was ich zusammengestellt hatte, nicht darauf reagieren oder widersprechen können. Beim Erzählen ist das anders: Die Kinder legen Widerspruch ein, wenn ich zum Beispiel kleine Fehler mache. Sie zeigen mir, ob sie zuhören oder nicht. Auch Erwachsene zeigen das, zwar nicht so unmittelbar wie Kinder, aber ich spüre trotzdem, ob sie mitgehen.“

VERWANDLUNG

Das Erzählerin-Sein begriff Dörte anfangs nicht als Bühnenberuf, obwohl es einer ist. Aber sie genoss es, dass ihre Ausbildung das Künstlerische betonte. Das Credo war: „Wir machen nicht Theater, um zu …, sondern wir machen Theater mit Kindern. Was bei jedem einzelnen Kind wirkt, das wirkt. Wir wissen nicht, was es ist, denn wir analysieren kein Kind. Aber wir schaffen bewusst einen Raum, in dem sich etwas entwickeln kann.“

Solch einen Raum schafft Dörte jetzt in der Berliner Eltern-Kinder-Tagesstätte „Eene meene Mopel“, deren Team mit der jungen Erzählerin zusammenarbeitet. Sie rückt einen Aufsteller in die Mitte des großen Toberaums, hängt breite Stoffbahnen darüber, stellt eine Bodenlampe auf, baut aus Matten und Bänken Plätze für das Publikum und sperrt das Tageslicht aus. Dann knipst sie die Lampe an, die warmes Licht verbreitet. Plötzlich funkeln die Stoffe ein wenig, und der Toberaum hat sich verwandelt.

An der Tür warten zehn, zwölf Drei- bis Vierjährige, zeigen selbst gemalte Eintrittskarten vor und nehmen leise Platz. Sie kennen Dörte und auch das Ritual, mit dem die Erzählerin beginnt: „Macht es euch gemütlich. Jetzt legen wir los. Was brauchen wir zum Geschichten-Erzählen?“
Ein Junge weiß es: „Das Märchentor und den Märchenschlüssel!“
„Genau“, sagt Dörte. „Und was kommt davor? Der Rüssel!
Eins, zwei, drei – da kommt die Schüssel. Eins, zwei, drei, in der Schüssel liegt der Zauberschlüssel. Den stecken wir ins Schloss hinein. Ich sage: Krick. Und ihr sagt …“
„Krack!“ rufen die Kinder.
Dörte stemmt ein imaginäres Tor auf: „Quiiietsch! Wen sehe ich? Wer spaziert da durch den Frühling? Der Fuchs Kratzefuß. Er geht durch den Wald: trippderipp, deripp, deripp, deripp …“

Wir schaffen bewusst einen Raum, in dem sich etwas entwickeln kann.

Regel 1 beim Erzählen: Der Raum muss sich verwandeln. Warum? „Damit wir einen Raum haben, der außerhalb von uns existiert und uns gleichzeitig verbindet“, sagt Dörte. „Damit das Erzählen wirken kann, muss ich einen Raum schaffen, in den sich alle sinken lassen können. Außerdem sind kleine Rituale wichtig, zum Beispiel die Märchentür öffnen und sie am Ende schließen: Ich sage krick, und ihr sagt krack.“

ATMOSPHÄRE

Im Fersensitz hat Dörte sich vor den Kindern niedergelassen, auf Augenhöhe mit ihnen. Die leise glitzernden Stoffe und das sanfte Lampenlicht verleihen ihr Bühnenpräsenz. Der Fersensitz gibt Stabilität und ermöglicht ihr zugleich, die Bewegungen des Fuchses Kratzefuß anzudeuten, der durch den Wald tänzelt: trippderipp, deripp, deripp, deripp …

Wie die Kinder und Dörte mögen die Menschen früher am Feuer gehockt haben. Sie waren mit der Arbeit fertig und saßen beieinander. Weil es weder Fernsehen noch Radio gab, füllten sie die Zeit mit Erzählungen. „Heute haben wir kaum Raum, in dem nichts ist und den wir füllen müssen“, sagt Dörte. „Also versuche ich, diesen Nichts-Raum zu schaffen. Arbeite ich in der Schule, stehen keine Bänke zwischen mir und den Kindern, so dass es ein Nichts gibt, in das die Worte fallen können, damit innere Bilder und das Miteinander wachsen, das man braucht, um sich sicher zu fühlen.“

Regel 2: Das Publikum soll sich sicher fühlen. Dazu eignen sich geschlossene Räume besser als der Garten der Kita, obwohl Dörte dort schon erzählt hat. „Das war auch gut“, erinnert sie sich. „Es darf nur nicht zu viel Ablenkung geben, weil das besonders die jüngeren Kinder überfordert. Draußen suche ich mir einen Baum oder etwas anderes als Hintergrund. Wenn ich dann erzähle, ist das in erster Linie Beziehungsarbeit für mich. Ich bin manchmal unsicher, wie ich wirke, und habe schon gehört, dass meine Stimme und meine Haltung sich ändern – je nachdem, wer vor mir sitzt oder was passiert. Als ich vorhin erzählte und den Kopf bewegte, fielen mir die Haare in den Mund. Ich ließ sie so, denn es wäre eine private Geste gewesen, sie wegzustreichen. Wenn ich mal Fuchs, mal Großvater oder Großmutter bin, aber dann die Situation beschreibe, um die es in der Geschichte gerade geht, darf sich nichts vermischen.“

Regel 3: Die Rollen fein auseinanderhalten. „Ja“, sagt Dörte, „das macht mein Körper. Es ist auch mein Körper, der erzählt. Der Körper eines anderen Menschen macht etwas anderes. Ein Mädchen aus der ersten Klasse schenkte mir mal ein Bild, auf dem eine Figur mit Flügeln war. Das war ich, fand ich, weil meine Hände sich beim Erzählen immer bewegen. Andere Menschen benutzen andere Gesten und erzeugen damit andere Wirkungen. Überhaupt passiert beim Erzählen viel auf vielen verschiedenen Ebenen. Jeder Mensch kann mit seiner eigenen Körperlichkeit agieren oder reagieren. Dadurch entsteht ein Dialog. Zwar kenne ich die Geschichte und kann den Dialog bestimmen, aber ich kann keinen Dialog führen, wenn mir niemand zuhört und sich kein Kind auf meine Impulse einlässt.“

FREIHEIT

Dörte schafft einen Raum, sorgt für ein gewisses Maß an Nichts, kennt ihr Repertoire, stellt sich auf die Kinder und die Situation ein. Als sie die Gruppe der Fünf- bis Sechsjährigen erwartet, finden sich nur Polly und Linus ein. Alle anderen Kinder erliegen der Verlockung des ersten warmen Frühlingstags und wollen lieber raus in die Sonne, klettern ins Baumhaus und spielen im Garten. Niemand fordert sie auf, der Erzählerin zu lauschen, die schließlich nicht jeden Tag in der Kita ist. So viel Freiheit haben die Kinder in der Tagesstätte „Eene meene Mopel“. Und Dörte? Was ist ihre Freiheit?

„Im Kontext von Rahmenplänen oder Ähnlichem gibt es wenig Freiheit“, sagt sie. Aber danach muss sie sich nicht richten, sondern: „Ich komme in eine Kita oder Schule, nehme die Atmosphäre wahr und entscheide mich für eine Geschichte aus meinem Repertoire. Diese Geschichte erzähle ich dann. Da von den Großen nur zwei Kinder kamen, wollte ich keine neue Geschichte erzählen, denn die Rasselbande, die im Garten war, hätte ich gern dabei gehabt. Wiederhole ich eine Geschichte, verändern sich die Inhalte. Eine Figur ist mal mehr, mal weniger dominant. Oder ich entdecke plötzlich eine Tiefe in der Geschichte, die mir vorher
entgangen war. Und das Publikum überrascht mich oft. Es verändert meine Beziehung zu den Figuren. Nicht von ungefähr hat die Kunstform des Erzählens viel mit Improvisation zu tun.“

Solche Veränderungen sind nicht vorhersehbar, sondern entstehen aus dem Moment heraus, den Dörte erspürt, aushält und aufgreift. Da geht plötzlich die Tür des verwandelten Toberaums auf, und sie baut dies in die Geschichte ein. „Auf den Moment zu reagieren – das ist meine Freiheit, aber auch die Logik des Lebens“, sagt sie.

ENTSCHLEUNIGUNG

Dörte erzählt, damit die Menschen – Kinder wie Erwachsene – merken: Das kann man. In vielen Familien, selbst bei gebildeten, kommunikativen Leuten, ist Erzählen nicht mehr üblich. Man hört einander kaum noch zu in dieser schnelllebigen Zeit.

„Ich war nie besonders schnell“, sagt Dörte, „und ich werde immer langsamer, liebe die Entschleunigung. In Disney-Märchenfilmen zum Beispiel werden alle möglichen emotionalen Themen in kürzester Zeit angesprochen: Die Eltern sterben, man ist einsam, macht sich auf den Weg, begegnet einem Monster, muss Gefahren überstehen, verliebt sich in den Falschen, findet die wahre Liebe. Märchen oder Mythen arbeiten sich eigentlich nicht an so vielen Themen ab. Die Emotionalität ist nachvollziehbar, obwohl sie komprimiert und artifiziert ist. Man kann sich später daran erinnern und spürt, dass ein Thema in einem arbeitet. Ich weiß noch, dass ich mich als Kind nach diesen emotional aufgeladenen Filmen einsam fühlte. Damals war mir nicht bewusst, warum. Heute weiß ich: Klar, erst werde ich in so eine emotionale Welt hineingehoben. Dann ist sie plötzlich weg, denn der Film ist zu Ende.“ Und die kleine Dörte stand allein da, mit dem Sturm der Gefühle in ihrer Seele. „Ja“, sagt die Einunddreißigjährige, „ich möchte die zuhörenden Kinder zwar mitnehmen, aber sie beruhigt entlassen.
Deshalb ist das Ende einer Geschichte manchmal am schwersten zu erzählen. Wichtig ist mir auch der Rhythmus. Er macht den Reiz der Wiederholung aus, hat etwas Musikalisches. Übrigens hatte ich dem Fuchs Kratzefuß noch nie eine Melodie gegeben: trippderipp, deripp, deripp, deripp …
Das ist heute zum ersten Mal passiert.“ Dem Jungen Linus muss es gefallen haben. Er nahm den Rhythmus mit seinem Körper auf, und bei jeder Wiederholung wurde er zum tänzelnden Füchslein.

Dörte merkt sich solche Momente. Nach jedem Auftritt schreibt sie ein Protokoll. Warum? „Ich versuche zu reflektieren, was passiert ist, um an meiner Haltung zu arbeiten und diesen sicheren Rahmen schaffen zu können, der den Kindern ermöglicht, sich auf die Geschichte einzulassen.“

Diese Haltung hat auch etwas Forschendes. Dörte nimmt sich die Freiheit, sich Erkenntnismöglichkeiten zu schaffen. Sich und den Kindern. „Wenn mich jemand fragt, warum ich erzähle, dann sage ich: Es geht mir um die Fähigkeit, sich Dinge vorstellen zu können, in denen Potenzial für neue Realitäten steckt. Das kriegt man mit Fernsehen oder Computerspielen nicht so gut hin. Mit Lesen und Schreiben schon, aber nicht so unmittelbar wie mit dem Erzählen, das das Spiel mit den inneren Bildern anregt“, sagt Dörte.

INNERE BILDER

Dörtes Worte lassen mich an meine Großmutter denken. Ich war ihre älteste Enkelin und in den Schulferien oft bei ihr in Thüringen. Entweder saß ich in der Küche auf dem Kohlenkasten am Ofen, schaute in das offene Feuerloch und hörte zu, wie sie erzählte, während sie Kartoffeln schälte. Oder ich kroch morgens zu ihr ins Bett, kuschelte mich an sie und hätte ihr den ganzen Tag lauschen können. In ihrem weichen Sächsisch erzählte sie Märchen, in denen die Wiederholungen mir besonders gefielen, oder sie dachte sich Geschichten aus. Das ist mehr als 50 Jahre her. Aber bestimmt hatte sie dafür gesorgt, dass ich bis heute Spaß am Erzählen habe und ihn meinen Kindern weiterzugeben versuchte: Wortspiele, Reime, schöne Wörter …

Es geht um die Fähigkeit, sich Dinge vorstellen zu können, in denen Potenzial für neue Realitäten steckt.

Auch für mich hat Erzählen etwas mit Beziehung zu tun. Ich kann mir vorstellen, dass jemand, den ich nicht leiden kann, das Bedürfnis in mir auslöst, meine Ohren wie Kohlblätter einzukrempeln, wenn er erzählt. Deshalb finde ich: Gute Erzählerinnen sind wie gute Feen, seien sie nun alt wie meine Großmutter oder jung wie Dörte Hentschel.
Sie lassen innere Bilder in uns entstehen, die uns ein Leben lang begleiten. Vielleicht nicht mehr wirklich als Bilder, aber als gute Gefühle, die uns stärken. Und sie sorgen dafür, dass wir leichter zur Literatur finden. „Stimmt“, sagt Dörte, „Erzählen eröffnet die Welt der Bücher. Werde ich gefragt, woher ich meine Geschichten habe, verweise ich auf Bücher und Bibliotheken.“

Außerdem riechen Bücher angenehm. Da lacht die gute Fee und sagt: „Ich rieche immer zuerst an Büchern, bevor ich sie lese. In so einem wohlriechenden Exemplar habe ich mal gelesen: ‚Achte auf deine Gedanken, denn sie werden Worte. Achte auf deine Worte, denn sie werden Handlungen.
Achte auf deine Handlungen, denn sie werden Gewohnheiten. Achte auf deine Gewohnheiten, denn sie werden dein Charakter. Achte auf deinen Charakter, denn er wird dein Schicksal.‘

Es fängt mit dem Denken an, damit, sich zu überlegen, was man sagen möchte. Aber nicht nur die Worte sind es, die wirken, sondern auch das Nonverbale. Während des Erzählens merke ich manchmal: Jetzt habe ich etwas gemacht, das die Situation erklärt. Und zwar ohne Worte, nur mit einer Geste. Oder durch eine bestimmte Haltung, die ich zwar verbalisieren kann, aber sie war einfach da. Vielleicht war es auch ein Gedanke. Gedanken sind ja nicht immer gleich Worte. Oft sind es innere Bilder, die sich übertragen. In diesen Bildern finden sich Dinge, die Kinder anfassen oder erfassen können, ein Lieblingsspielzeug zum Beispiel. Also verbinden sich die Bilder, die ich im Kopf habe, mit der Erfahrungswelt der Kinder, obwohl sie sie auf ihre Weise sehen. Aber wir alle sehen einen Fuchs, der durch den Wald läuft: trippderipp, deripp, deripp, deripp …“
Wir sehen sogar, wie er läuft. Er tänzelt. •

 

Erika Berthold ist freie Journalistin und Redakteurin bei wamiki.

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