Deutscher Jugendliteraturpreis 2019 Nominierungen

„Junge Leserinnen und Leser wünschen sich überzeugende Identifikationsfiguren und Geschichten, die über den eigenen Erfahrungshorizont hinausweisen“, erklärt Familienministerin Dr. Franziska Giffey und empfiehlt die Auswahl des Deutschen Jugendliteraturpreises. Übersichtlich präsentiert wird diese in der Nominierungsbroschüre zum Deutschen Jugendliteraturpreis: Der handliche Katalog stellt die 28 Kinder- und Jugendbücher vor, die dieses Jahr für die renommierte Auszeichnung ins Rennen gehen, sowie drei „Neue Talente“ im Bereich Illustration. Er enthält die Begründungen der Kritiker-, der Jugend- und der Sonderpreisjury, Angaben zu den nominierten Autoren, Illustratoren und Übersetzern sowie bibliografische Informationen.

Kostenlos als pdf herunterladbar auf www.jugendliteratur.org

Aus dem Käfig ­ausbrechen

Fachbuch

„Wenn wir älter werden scheinen wir die Tür zu schließen, die in die endlose Welt der Kreativität und Neugier führt. Nea Machina ist wie ein Schlüsselloch … Man schaut hindurch und ist erstaunt über die Möglichkeiten, die bei uns allen unter der Oberfläche schlummern. Dieses Buch ist die beste Medizin gegen die wohlbekannte Angst vor dem weißen Blatt.“ (Eike König)

Nea Machina ist zur Kreativbibel des Machens geworden und begeistert Studierende und Künstler*innen und Menschen, die Produkte gestalten und die Grenzen des Machbaren ausloten. Das Buch fordert – inzwischen in der dritten Ausgabe – dazu auf, neben dem Computer auch das „Spezialwerkzeug Hand“ kraftvoll einzusetzen und plädiert leidenschaftlich für die Verbindung von Vernunft und Intuition. Was mit einem Experiment begann, hat sich zum hochkarätigen, vielfach bewährten Praxisworkshop Nea Machina entwickelt: Eine Kreativ-Methode, die sich nicht künstlich auf Kopf und Rechner beschränkt, sondern die „Power-Instrumente“ Bauch und Hand mitspielen lässt.

Mehr zu den beiden Autoren findet Ihr hier: www.poschauko.de

Das Kinderbuch der Woche: Das magische Blau…

Bücher für Kinder von null bis zu zwölf Jahren und für ihre Erwachsenen – von Gabriela Wenke empfohlen. Jeden Donnerstag bis zur Frankfurter Buchmesse 2019!

 

 

UND DAS GOLDENE LICHT

Bilderbuch

Auf dem Titelbild gehen zwei Fantasiewesen, ein großes Dunkles und ein kleines Helles, Hand in Hand über eine rote Brücke vom tiefen Dunkelblau ins strahlend Helle hinein. Das ist das gute Ende – lebensfroh vorweggenommen, ehe die Geschichte beginnt.
Das Struppige, das borstig und nachtblau in der Finsternis kauert, sehnt sich nach der Helligkeit auf der anderen Seite. Das Helle, ein glattes, kleines Wesen in strahlendem Weiß, ist neugierig auf die Finsternis drüben, will aber lieber nicht hin. Doch schließlich macht sich das dunkle Struppige auf, um vom Rand der Finsternis wenigstens mal ins Helle hineinzuschauen. Auch das zarte Helle traut sich, mit einer Taschenlampe zum Rande des Lichts vorzudringen.
Auf der Doppelseite, auf der sich die beiden erstmals begegnen, sehen wir zwei Augen im Dunkelblau und verschwommene Konturen im Licht – als ob man die Augen aufschlägt und geblendet wird. Das Dunkle ist nicht düster, sondern von einem magischen Blau, das seltsame Wesen und Strukturen beleben. Im Hellen gibt es sonnengelbe Bäume, Wesen und Häuser in den Farben bunter Bauklötzchen. Die beiden wagen sich immer weiter ins Revier des jeweils anderen und genießen gemeinsam ihre neuen Möglichkeiten, bis das Haus des Hellen eines Tages in die Dunkelheit verfrachtet wird. Da weint das Helle bittere Tränen über den Verlust seiner Welt. „So war das bei mir auch“, sagt sein struppig-dunkler Freund und drückt es fest an sich. Gemeinsam gehen sie wieder zur Grenze im Dämmerlicht, schauen ins Helle hinüber und erobern sich beide Welten Schritt für Schritt. Schließlich bauen sie sich ein Haus inmitten der leuchtendsten Farben. Das Haus im Dunklen behalten sie trotzdem.
Die Bilder in magisch wirkenden Blautönen, vielen Abstufungen und Nuancierungen verdanken sich der Cyanotypie, einer alten Fototechnik. Sie zeigen, dass nicht nur das Helle, Sonnige die Freunde anzieht. Auch die blaue Dunkelheit hat ihren ästhetischen Reiz. So erzählen die Farben dieser Geschichte ganz ohne Worte, dass im Dunkel nicht nur Angst und Schrecken wohnen, sondern auch blaue Magie.
Weil ich die Verzauberung durch dieses Bilderbuch kaum richtig in Worte fassen kann, aber möchte, dass Kinder und Erwachsene in den Farben versinken, empfehle ich Ihnen: Schauen Sie sich dieses Buch an, betrachten Sie es zusammen mit Kindern. Ich glaube, schon Zweijährige sind imstande, den beiden Wesen vom Dunkel ins Licht und zurück zu folgen.

 

 

 

Das Kinderbuch der Woche: Vom Mann in den Wäldern

Bücher für Kinder von null bis zu zwölf Jahren und für ihre Erwachsenen – von Gabriela Wenke empfohlen. Jeden Donnerstag bis zur Frankfurter Buchmesse 2019!

 

Wieland Freund, dem fantastischen Erzähler märchenhafter Geschichten, gelang eine kleine, tiefgründige Fabel über ein Wesen, das mit unterschiedlichen Namen durch die Jahrhunderte geistert. Hehmann, der wilde oder grüne Mann, ist der Hüter, Bewahrer und Verteidiger des Waldes.

Das Mädchen Nemi begegnet ihm in dem kleinen Waldstück, das zwischen Wohnsiedlungen und Straßen liegt – ein Überbleibsel der großen Wälder, die in alten Zeiten fast das ganze Land bedeckt hatten. Als Nemi an diesem ersten Tag aus ihrem Schulbus steigt, hört sie seine Heh-Rufe und folgt ihnen in den Wald hinein bis zur alten Kapelle, vor der eine weißhaarige Frau auf einer Bank sitzt. Aber sie ruft nicht.

Nemi folgt den Rufen weiter bis zu einer umgestürzten Buche. Hinter der scheint sich ein seltsames Wesen zu verstecken, dem Blätter im Gesicht wachsen und dessen Kopf ein pilzartiges Gebilde bedeckt. Sie spricht es an und sagt, sein „Heh heh“ habe sie herbeigerufen. Es ist der Hehmann, und er staunt, dass ihn auf einmal wieder jemand hört. Je länger die beiden miteinander reden, desto größer wird er. Aber seine Größe scheint zu schwanken, bis ein lautes Flugzeug ihn in Wut versetzt. Schreiend und immer größer werdend, läuft er ihm hinterher.

Sieben Tage lang begegnen sich die beiden. Der Hehmann kommt und geht. Er scheint alles zu vergessen und sich dann wieder zu erinnern: an die Lieder, die er zu Ehren der Tiere und Pflanzen des Waldes singt, und an Nemi, die ihn täglich sucht und ihr Matheheft vollmalt: mit Blättern, Schmetterlingen und mit allem, was kreucht, fleucht und wächst.

Nemi sind die Augen und das Herz aufgegangen für das, was der Wald ist. Plötzlich fragt sie sich, warum es im Wald keine Schmetterlinge mehr gibt und warum es wichtig ist, alte Bäume im Wald liegenzulassen. Sie lernt die Namen des Eichelhähers kennen und erfährt, welche Bedeutung er für den Wald hat.

Die alte Frau, die auf der Bank vor der Kapelle saß, zeigt ihr, dass ein großer Kopf aus Holz, der dem des Hehmanns ähnelt, die Kanzel in der Kapelle trägt. Sie erzählt Nemi, dass dieser „grüne Mann“ in vielen alten Kirchen zu finden ist.

Das zauberhafte, kluge und poetische Buch wurde von Hanna Jung geradezu magisch schön illustriert mit Bildern von Schmetterlingen, Vögeln und mythischen Gestalten. Ob es die junge Leserschaft zu verträumten Waldspaziergängen verführt oder zu den Freitags-Demos für die Umwelt einlädt – wer weiß?

Wem das Buch gefallen hat, der muss unbedingt von Wieland Freund „Wecke niemals einen Schrat!“ samt Folgeband lesen.

 

 

 

 

Das Kinderbuch der Woche: Eric Carles „Nimmersatt“

Bücher für Kinder von null bis zu zwölf Jahren und für ihre Erwachsenen – von Gabriela Wenke empfohlen. Jeden Donnerstag bis zur Frankfurter Buchmesse 2019!

 

Eric Carles „Nimmersatt“ – frisch wie am ersten Tag

50 Jahre ist sie alt, die kleine Raupe Nimmersatt. Wer so alt wie die Raupe ist und im deutschsprachigen Raum wohnt, hat sie im Laufe seines Lebens bestimmt kenngelernt – sei es zu Hause oder im Kindergarten, sei es in der Kindheit, bei den eigenen Kindern oder Kindeskindern.

Das Bilderbuch folgt dem Weg Nimmersatts vom unscheinbar winzigen Ei auf einem Blatt bis zur dicken Raupe, die endlich so satt ist, dass sie nicht mehr weiterfressen will. Sie baut sich einen Kokon, in dem sie verschwindet, nach mehr als zwei Wochen ein Loch nach draußen bohrt und – tata! – ein wunderschöner Schmetterling ist.

Worüber wollen wir reden? Dass jedes Kind lernt, dass eine Raupe ein kleines,  wurmähnliches Tier ist, aus dem etwas so Schönes wie ein bunter Schmetterling werden kann? Oder dass jedes Kind schon die Raupe bestaunt und nicht erst den Schmetterling? Dass der Künstler mit den scheinbar einfachen Mitteln der Collage Bilder von großer Strahlkraft erschafft, weil ihm eine unendliche Palette von Farben zur Verfügung steht, weil er buntes Seidenpapier bemalt und so farbliche Nuancen erzielt, mit denen man viel mehr gestalten kann als mit Collagen aus „fertigem Buntpapier“? Weil er so gut in dem ist, was er tut?

Das Buch spielt mit Formaten und Löchern, was bei seiner Entstehung sehr ungewöhnlich war und Buchbinderei wie Verlag vor große Herausforderungen stellte. Auch heutige Kleinkinder fordert es noch heraus, wenn sie der Raupe durch die Löcher in den Seiten folgen.

Eric Carle, am 25. Juni feierte er seinen 90. Geburtstag, erzählte, dass er als Kind und Jugendlicher besonders von Paul Klee, Pablo Picasso und Franz Marc beeindruckt war, die ihm ein einfühlender Kunstlehrer näherbrachte, obwohl sie in der Nazizeit verboten waren. Carle wurde in den USA geboren, aber seine deutschstämmigen Eltern gingen 1935 nach Deutschland zurück – ein Kulturschock für ihn. Da war dieser Kunstlehrer seine Rettung.

Nachdem Carle 1951 in die USA zurückgekehrt war, wurde er Werbedesigner. Als er 1969 mit „Die kleine Raupe Nimmersatt“ Erfolg hatte, war er 40 Jahre alt. In den nächsten 50 Jahren wurde er zu einem weltberühmten Bilderbuchkünstler.

Normalerweise stelle ich jede Woche ein ziemlich neues Bilder- oder Kinderbuch vor. Aber bei der kleinen Raupe mache ich eine Ausnahme, aus Hochachtung vor Eric Carle und seinem Talent, kleinen Kindern eine komplexe Sache so einfach, verspielt, gekonnt und lustvoll nahezubringen. Falls Sie gerade keine „Raupe“ zu Hause haben, sollten Sie die Gelegenheit nutzen, das Buch zu kaufen. Schon um es bei der nächsten Gelegenheit einem zweijährigen Kind zu schenken.

 

 

Das Kinderbuch der Woche: Ein Comic zur Wohnungsnot

Bücher für Kinder von null bis zu zwölf Jahren und für ihre Erwachsenen – von Gabriela Wenke empfohlen. Jeden Donnerstag bis zur Frankfurter Buchmesse 2019!

 

Wohnen in Zeiten der Verdrängung

„Bergstraße 68“ ist eine Comic-Geschichte über Menschen in Berlin, denen es so geht wie sehr vielen Leuten in größeren Städten. Der Platz zum Wohnen wird immer knapper. Bäume und grüne Hinterhöfe müssen Tiefgaragen weichen.

In der Bergstraße 68 lebt das Mädchen Tilda, das uns freundlich in sein Haus einlädt. Eine bunte Mischung aus Erwachsenen und Kindern wohnt in diesem alten Haus. Abends, wenn die Kinder im Bett sein sollten, grillen die Erwachsenen im Garten hinter dem Haus, und die Kinder beobachten sie von den Balkonen aus.

Aber eines Tages kommt der neue Besitzer und will das Haus sanieren – angeblich zum Wohle der Bewohner. Doch die merken, dass er sie loswerden will, um mit den nach der Sanierung viel teureren Wohnungen mehr Geld zu verdienen. Sandiert statt saniert hat Tilda verstanden und stellt sich die Sandmassen plastisch vor.

Als erstes wird der Zugang zum Garten verrammelt, und die alte Kastanie soll gefällt werden. Da erzählt der Vater dem Mädchen, dass er das Baum-Amt eingeschaltet hat. Mit dessen Arbeitern wollen die Bewohner den Baum ausgraben und ihn an einem anderen Ort einpflanzen. Doch der Vater hat diese Geschichte nur erfunden. Es gibt kein Happyend. Am nächsten Morgen ist die Kastanie gefällt und abtransportiert.

Im Nachwort erfahren wir, dass es die Mietergemeinschaft im alten Haus nicht mehr gibt. Alle mussten ausziehen. Obwohl Tilda das neue Zuhause gefällt, bleibt es doch bitter, dass sie die Freunde aus dem alten Haus verloren hat.

Das kleine Comic-Buch fällt aus dem Rahmen. Zum einem gibt es Szenen, die zeigen, wie die Erwachsenen feiern und danach verkatert in den Betten liegen. Zum anderen versteht Tilda vieles von dem, was sie belauscht und beobachtet, falsch oder gar nicht. Das lässt fantastische Bilder in ihrem Kopf entstehen.

Zwar ist es ein ungeschriebenes Kinderbuch-Gesetz, dass Unklarheiten und Missverständnisse – wie Sandierung statt Sanierung – aufgelöst werden und dass die Geschichte gut ausgeht. Aber hier muss der vorlesende Erwachsene das übernehmen. Oder das lesende Kind muss nachfragen. Und wirklich gut geht die Geschichte auch nicht aus, obwohl Tilda ihr neues Zuhause mag.

Veronica Solomon und Tina Brenneisen, zwei neue Künstlerinnen, und ein bisher unbekannter kleiner Verlag – parallelallee Verlag – haben diesen Kinder-Comic auf den Markt gebracht. Veronica Solomons Zeichnungen muten auf den ersten Blick klassisch realistisch an. Auf den zweiten Blick entdeckt man fantastische Elemente, ironische Seitenhiebe und Szenen, die auf den erwachsenen Leser zielen. Man kann finden, dass das nichts für Kinder ist, oder ihnen die differenzierte Geschichte zumuten und vielleicht miteinander ins Gespräch kommen.

Ich empfehle dieses Buch besonders Eltern und Kindern, die von der städtischen Wohnungsnot betroffen sind oder sie aus ihrem Umfeld kennen.

 

 

Kinderbuch der Woche: Der Wolf und die Fliege

Bücher für Kinder von null bis zu zwölf Jahren und für ihre Erwachsenen – von Gabriela Wenke empfohlen. Jeden Donnerstag bis zur Frankfurter Buchmesse.

Pappbilderbuch

Antje Damm ist eine Könnerin in allen Sparten: vom witzigen Bilderbuch bis zum tiefsinnigen Philosophieren mit Kindern. Auch „Der Wolf und die Fliege“ ist nicht von Pappe.
Gefräßig macht sich der Wolf über das Regal auf der rechten Seite des Büchleins her, weil er ein kleines „Hüngerchen“ hat. Gierig starrt er die acht Kandidaten – von Ente bis Katze – auf den drei schwarzen Balken an. Und schwupps – auf der nächsten Seite sind es nur noch sieben.
Hoppla, wer fehlt denn da? Noch mal kurz zurückblättern: Was gab es, das jetzt weg ist? Richtig, es war ein grüner Apfel. Und beim nächsten Umblättern weiß das kluge Kind vielleicht schon vor dem Erwachsenen, wer jetzt eine große Lücke hinterlassen hat.
So macht der gefräßige Wolf weiter, bis nur noch der Kaktus und die Fliege übrig sind. Den Stacheln des Kaktus entgeht er, weil er nichts Grünes mag. Aber in der Fliege hat er seine Meisterin gefunden. Sie rumort derartig in seinem Bauch herum, bis er grün im Gesicht wird und alle Verschluckten wieder lebendig ausspuckt. Sogar das kleine blaue Spielzeugauto.
Ein kräftiger Strich, die gekonnte Farbgebung und eine überzeugende Idee – das ist Antje Damm, die nicht nur einem gefräßigen Wolf, sondern auch einer wütenden Fliege viel Ausdruck geben kann.
Wenn Kinder mit solchen Pappbilderbüchern aufwachsen, dann haben sie die besten Chancen! Darüber freut sich
Gabriela Wenke

 

Kinderbuch der Woche: Ein Turm für die Weitsicht

Bücher für Kinder von null bis zu zwölf Jahren und für ihre Erwachsenen – von Gabriela Wenke empfohlen. Jeden Donnerstag bis zur Frankfurter Buchmesse.

Bilderbuch

Der Junge Arthur und sein Vater leben auf einer Lichtung mitten in einem dunklen, undurchdringlichen Wald in der Nähe eines Dorfes. Zusammen arbeiten sie auf dem Feld. Alle Dorfbewohner haben Angst vor der schwarzen Wand des Waldes, in dem Wölfe, Riesen und riesige Dachse hausen sollen. Aber Arthurs Vater nicht. Er träumt davon, herauszufinden, was hinter dem Wald ist. Und eines Tages hat er eine Idee: Aus seinem Mehl backt er Brote und verkauft sie an die Dorfbewohner gegen – Steine. Aus diesen Steinen baut er mit Arthur einen Turm, um über den Wald hinwegschauen zu können.
Die Personen dieser ländlichen Idylle sind Hasen, die aussehen, als wären sie vor 100 Jahren gemalt worden, als die „Häschenschule“ entstand, die ja immer mal wieder neu aufgelegt wird und daher auch heutigen Kindern bekannt ist. Aber nein, Gérard Dubois hat diesen altmodischen Stil absichtlich für seine Geschichte gewählt und ihn mit modernen Vereinfachungen verbunden, zum Beispiel bei der Darstellung des Waldes, der einer Wand aus Ängsten und Vorurteilen gleicht.
Weil die Dorfbewohner viele Steine auftreiben, wächst der Turm langsam in den Himmel. Da zerstört ihn ein furchtbares Unwetter. Vergeblich versucht der Vater, den Turm zu retten, fällt schließlich erschöpft in tiefen Schlaf und kann kein Brot backen. Doch inzwischen haben die Dorfbewohner seine Idee aufgenommen. Sie räumen auf und bauen weiter.
Als der Vater endlich aufwacht, ist der Turm höher als zuvor. Alle packen nun mit an, und am Tag der Erstbesteigung feiern sie ein großes Fest. Als Arthur und sein Vater den Turm erklommen haben, sehen sie in der Ferne einen zweiten Turm mit einer winzig kleinen Figur, die ihnen zuwinkt. Es ist ein Hirsch, der auch wissen wollte, was hinter dem Wald liegt.
Anders als beim Turmbau zu Babel geht es in dieser Geschichte nicht um Hochmut und Selbstüberschätzung, sondern um Neugier und die Lust, mehr über die Welt zu erfahren.
Ein gelungenes Bilderbuch für kleine Kinder, die schon mal einen Blick auf die weite Welt werfen wollen, und eine Ermutigung, zu den eigenen Ideen zu stehen.

 

Kinderbuch der Woche: Ene, mene Hühnerdreck

Papp-Bilderbuch

Bücher für Kinder von null bis zu zwölf Jahren und für ihre Erwachsenen – von Gabriela Wenke empfohlen. Jeden Donnerstag bis zur Frankfurter Buchmesse.

Dieses Buch hat das Zeug zu einem Klassiker wie „Backe, backe Kuchen…“. Denn daran erinnern sich auch erwachsene Kinder, wenn sie in der WG-Küche stehen und die Backzutaten zusammensuchen.

Bei „Ene, mene Hühnerdreck, wieso sind denn die Eier weg“ steigen Kinder ab zwei Jahren in den Rhythmus der Verse und den Refrain ein: „Eier, Eier (oder was sonst gerade gesucht wird) seid so lieb, sagt doch einmal Piep.“ Der Text eignet sich auch zum Mitklatschen.

Jede Doppelseite ist ein gelungenes Suchbild, und dem erwachsenen Vorleser hilft das „Piep“ gleich daneben, den gesuchten Gegenstand zu finden.

Die kleine Backgeschichte ist lustig und gut gereimt, aber  nicht vegan, denn der Bäcker-Koch Eichhörnchen benutzt Zucker und Mehl ohne Vollkorn-Zusatz oder Dinkel. Wen das nicht stört, der wird kleinen Kinder mit dem Vorlesen der Texte und den witzigen Zeichnungen Freude machen – sei es in der Kita oder zu Hause – und erleben, dass sie Reime mögen.

Gut gereimt ist halb gebacken, findet Gabriela Wenke

 

 

 

Kinderbuch der Woche: Abschied

Bücher für Kinder von null bis zu zwölf Jahren und für ihre Erwachsenen – von Gabriela Wenke empfohlen. Jeden Donnerstag bis zur Frankfurter Buchmesse.

„Dies ist kein Buch über das Sterben, sondern über das Leben – zu dem ohne Zweifel auch das Sterben gehört“, schreibt der Autor Werner Holzwarth in seinem Vorwort zu „Mein Jimmy“. Von Anfang an ist klar, dass die Geschichte von Jimmy, dem Nashorn, und Hacki, dem Madenhacker, von den letzten Tagen ihrer Freundschaft erzählt. Aber auch davon, wie viel Spaß die beiden miteinander hatten.

Jimmy ist sehr alt, und beide Freunde wissen, dass er nicht mehr lange leben wird. Aber er versucht, dem kleinen Vogel zu sagen, dass all das Schöne, das sie zusammen erlebt hatten, deswegen nicht aufhört, schön gewesen zu sein, und dass Hacki bald wieder neue Freunde haben wird.

Werner Holzwarth erfand 1989 die geniale Geschichte vom kleinen Maulwurf, der wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hat. Nun erzählt er eine Geschichte vom Abschied.

Mehrdad Zaeri gelang es, den großen Jimmy so ins Bild zu rücken, dass er keine Angst macht, sondern wie ein Schutzwall wirkt, während Hacki wie ein winziges Strichmännchen auf ihm herumturnt. Ganz langsam wird von Seite zu Doppelseite aus Jimmy eine schwarze Masse im Dunkel der afrikanischen Nacht unter dem tief-blauen Sternenhimmel. Beim ersten Morgenlicht fliegt Hacki davon. Auf den letzten Bildern sehen wir ihn mit neuen Freunden, den Madenpickern, auf dem Rücken eines Zebras stehen und von seinen Abenteuern mit Jimmy erzählen.

Diese beeindruckende Geschichte zweier ungleicher Freunde kann ich allen großen und kleinen Liebhabern guter Geschichten und überwältigender Bilder voller Überzeugung empfehlen.

 

Kinderbuch der Woche: Ein großer Tag ohne Handy

Bücher für Kinder von null bis zu zwölf Jahren und für ihre Erwachsenen – von Gabriela Wenke empfohlen. Jeden Donnerstag bis zur Frankfurter Buchmesse.

 

Das ist nur mit dem Handy zu ertragen. Draußen gießt es. Drinnen sitzt Mama am PC und arbeitet, obwohl Ferien sind. Sie hat keine Zeit für das Kind.

Das Kind vernichtet auf seinem Handy Marsmännchen – ein Klick und weg. Mit Papa wäre das anders, denkt das Kind. Mit dem würde es vielleicht doch rausgehen.

Wie immer nimmt Mama dem Kind schließlich das Handy weg. Wie immer holt es sich das Handy heimlich zurück, steckt es ein und geht hinaus in den strömenden Regen, den Hügel hinunter zum Teich mit den Steinen, die rund sind wie die Marsmännchen im Spiel. Das Kind springt von Stein zu Stein, als wolle es sie wegklicken. Dabei fällt das Handy ins Wasser und ist weg. Katastrophe! Das Leben hat keinen Sinn mehr.

Verzweifelt sitzt das Kind auf dem Boden, die Beine ausgestreckt wie Baumstämme, die im Schlamm versinken. Vor seinen patschnassen Brillengläsern ziehen riesige Schnecken vorbei. Moment mal, Riesenschnecken?

So beginnt das Sehen, das genaue Hinschauen: große Schnecken, rot getupfte Pilze. Und das Tasten: diese gallertigen Fühler der Schnecken. Und dann der Geruch der Pilze: wie früher in Opas Keller. Den hatte das Kind fast vergessen. Aber seine Nase erinnert sich.

Mit allen Sinnen erfährt das Kind die Welt: wie Regen schmeckt, wie die Wurzeln die Erde durchziehen, wie durchscheinende Steine das Licht auffangen, das durch die Wolken bricht, wie sich die Erde unter die Fingernägel gräbt. Das Kind steht auf, beginnt zu rennen, rutscht aus und purzelt die Wiese hinab, bis unten alles auf dem Kopf zu stehen scheint. Da ist der Bann gebrochen. Als das Kind schließlich klitschnass ins Häuschen zurückkommt, sieht es im Spiegel das staunende Lächeln seines abwesenden Vaters – im eigenen Gesicht. Eigentlich wollte das Kind der Mutter so viel erzählen, aber dann sitzen sie nur ganz ruhig in der Küche bei duftendem Kakao und schauen sich an.

Wunderschöne Bilder erzählen vom grauen Regenhimmel, von bläulichen Nebeln zwischen hellbraunen Stämmen, und mittendrin das Kind im orange-roten Regencape – ein Farbfleck, der immer mehr in Bewegung gerät. In all den sanften Naturtönen des Buches wiederholt sich das Orange, und wir folgen dem Kind. Es nimmt uns mit, zieht uns hinein in eine Natur, an die es sich wieder zu erinnern beginnt.

Eigentlich ist nichts passiert – außer dass ein Handy verloren ging und die Welt wieder Farben bekam. Den größeren Teil dieser Geschichte erzählt Beatrice Alemagna nicht mit Worten, sondern mit ihren ausdrucksvollen und beeindruckenden Bildern, die der italienisch-stämmigen, in Paris lebenden Künstlerin schon viele Preise einbrachten. Ein wunderbares Buch zum Immer-wieder-Vorlesen und Anschauen.

PS: Dem Buch wurde am 11. Mai 2019 der „Huckepack-Preis“ des Projekts „Vorlesen in Familien“ und des Bremer Institutes für Bilderbuchforschung in der Phantastischen Bibliothek Wetzlar verliehen. Die Autorin dieser Rezension hielt die Laudatio.

 

 

 

 

Kinderbuch der Woche: Bösemann

Bücher für Kinder von null bis zu zwölf Jahren und für ihre Erwachsenen – von Gabriela Wenke empfohlen. Jeden Donnerstag bis zur Frankfurter Buchmesse.

 

In expressiven Bildern zeigt Svein Nyhus, wie aus einem riesengroßen, freundlichen Vater ein immer düsterer, gewalttätiger Mann wird. Bösemann hat die Herrschaft über ihn übernommen. Niemand kann Bösemann aufhalten, auch die Mutter nicht, obwohl sie sich groß und breit macht, um den Jungen zu schützen.
Der Junge hat die schreckliche Verwandlung seines Vaters schon oft erlebt, sieht sie kommen und hofft doch, dass es anders sein wird, dass er sich nicht in dieses Ungeheuer verwandelt, rot vor Wut, brennend vor Zorn, berstend vor roher Kraft. Doch auch dieses Mal wieder bleibt die Uhr nicht fünf vor Zwölf stehen.
Text und Bilder greifen ineinander wie Zahnräder: die Uhren, das schwere, bedrohliche Werkzeug, die aggressiv wirkende Muskulatur des Mannes, die Flammen, die über dem Wütenden zusammenschlagen, die zarte, zerbrechliche Gestalt der Mutter und der kleine, verzweifelte Boj. Im Auge des Sturms zieht er sich in seine Fantasiewelt zurück.
Als der Orkan sich legt, einen gebrochenen Mann und Ascheflocken zurücklässt, flieht Boj nach draußen. Dort ist eine freundliche Frau mit einem weißen Pudel, dem er ebenso alles erzählen kann wie den Bäumen und Büschen. Menschen davon zu berichten, das kann er nicht. Doch dann kommt er auf die Idee mit dem Brief. Ein Brief an den König – wie an eine höhere Macht, die helfen kann.

„Lieber König, Papa haut. Ist das meine Schuld?
Liebe Grüße
Boj“

Der Brief ist tatsächlich bei jemandem angekommen, der helfen kann und befiehlt, dass Papa sich entschuldigt. Als der Vater das tut, wird er ganz klein, so klein wie sein Kind.
Der König nimmt Papa mit in sein Schloss, wo er lernt, mit Bösemann, der immer wieder aus ihm herausbrechen will, fertig zu werden. Er muss die eigenen angsterregenden Erinnerungen an seine Kindheit durchleben und sich selbst „reparieren“. Wenn Papa das kann, wird er nach Hause kommen. Dann wird alles gut.
Der Text von Gro Dahle und die so eindrucks- wie ausdrucksvollen Bilder von Svein Nyhus machen aus dieser komplexen Geschichte ein modernes Märchen. Dem erwachsenen Vorleser werden viele Symbole und Gleichnisse ins Auge springen, die aus der Kunst und aus Schriften zur Psychoanalyse bekannt sind. Kinder können sie auf ihre Weise verstehen und lernen, dass es Hilfe gibt, wenn man darum bittet. Wie im Märchen, wo das Gute über das Böse siegt.

Ich möchte ausdrücklich dazu ermuntern, sich das Buch mit Kindern ab etwa fünf Jahren anzuschauen. Wenn sie sich darauf einlassen, sind sie alt genug – sowohl Kinder, die von häuslicher Gewalt betroffen sind, als auch diejenigen, die das nur vom Hörensagen, aus Büchern oder Filmen kennen.
Alle Erwachsenen, die Bedenken haben, Kinder mit Problemen, mit dem Bösen zu konfrontieren, verweise ich auf Bruno Bettelheim, einen berühmten Psychiater, der unter anderem das Buch „Kinder brauchen Märchen“ schrieb. Er erklärte einmal, dass Kinder das Böse, das Erschreckende, die Alpträume, die sie aufwühlen und ängstigen, in den Märchen stellvertretend durchleben. Dass Märchen gut enden, vermittelt Trost, den Glauben an die eigene Stärke und die Hoffnung, das Böse besiegen zu können. Ängste zu verniedlichen, das hilft hingegen nicht bei ihrer Bewältigung.
Wem das zu theoretisch ist, den möchte ich an „Hänsel und Gretel“ erinnern. Seit Jahrhunderten erzählt man Kindern die Geschichte von der bösen Hexe, die Kinder mit Zuckerzeug verführt und frisst, aber von den Geschwistern überwunden und im Ofen verbrannt wird. Und warum haben sich die Kinder im Wald verirrt? Weil ihre Eltern sie nicht mehr haben wollten. Das ist schon eine sehr angsteinflößende Geschichte, die unbedingt ein gutes Ende braucht, damit Kinder – und Erwachsene – sie aushalten können.
Also: Keine Angst vor Bösemann.