Interview: Vom Erwachsenwerden

Anna Maria Boshnakova im Interview mit Lena Grüber

Hier gibt es das Interview als PDF: Bildstrecke_Interview_#5_2023

Lena: Liebe Anna, ich habe deine Ausstellung in der Ostkreuzschule für Fotografie gesehen und war sehr beeindruckt: von deinem Mut, dieses sehr schmerzhafte Thema aufzugreifen und von der Vielschichtigkeit, wie du das Thema aufarbeitest. Wie kam es dazu, dass du dieses Thema für deine Abschlussarbeit ausgewählt hast? Das war bestimmt nicht einfach?

Anna: Nein, das war es wirklich nicht. Das Thema brodelt schon seit 20 Jahren in mir. Ich habe versucht, es zu verdrängen. Jahrelang. Trotzdem bleibt das Thema unbewusst da.

Es bremst, tut weh. Sehr. Manchmal auch nicht. Dann wieder kommt es über mich, ist präsent, fühlt sich ganz dumpf an. Ich wollte die Arbeit eigentlich nicht nur für mich selbst machen, sondern auch für andere Menschen, die ich gerne empowern möchte.

Ich habe das Thema auch gewählt, um für mich aufzuarbeiten, abzuschließen und megaviele Fragen nicht mehr wegzudrücken. Und ich habe die Arbeit als eine Art Kampf mit mir selbst angesehen: Wenn du eine Abschlussarbeit machst, dann kannst du nicht weglaufen; du hast dein Thema, Termine und einen gewissen Druck weiter­zumachen. Und ganz wichtig: Du bist nicht allein, die Klasse und die Dozentinnen stehen hinter dir, unterstützen dich.

Lena: Das klingt gut, dass du Menschen hast, die dich im Prozess begleitet und unterstützt haben.

Anna: Es tut gut. Total. Meine Klasse stand immer hinter mir, auch wenn ich mal untergetaucht bin. Für mich war die Arbeit an diesem Thema ein Auf und Ab. Als ich meine Fotos das erste Mal im vorletzten Sommer gezeigt habe, konnte ich noch gar nicht darüber sprechen. Ich habe die Arbeit vor einer 15-köpfigen Klasse, zwei Dozenten und zwei Schulleitern präsentiert. Nach dem dritten Wort brach ich in Tränen aus … Also es war wirklich krass und jetzt habe ich mich innerhalb von einem Jahr so sehr damit beschäftigt, dass es mir viel leichter fällt, darüber zu sprechen, immer noch nicht so gut, aber trotzdem viel bewusster. Sybille Fendt, meine Dozentin, hat mich besonders ermutigt: als Mensch mental, emotional und als Künst­lerin fotografisch. Ohne sie hätte ich es nicht durchgestanden. Ich bin ihr und meiner Klasse so dankbar dafür, dass sie mir den Rücken gestärkt haben.

Lena: Dieses Wortefinden, dieses Auf und Ab auszuhalten stelle ich mir sehr schwer vor. Du hast deine Abschluss­arbeit “Vom Erwachsenwerden” genannt. Warum?

Anna: Ich bin in Bulgarien aufgewachsen. Mit sechs Jahren zogen meine Mama und ich nach Deutschland – zu meinem Stiefvater. Bis dahin hatte ich eine Kindheit und dann nicht mehr. In der neuen Familie mit dem deutschen Stiefvater verlor ich das Unbeschwert sein, die kindliche Leichtigkeit. Meine Kindheit endete und mein Erwachsenwerden begann. Mit sechs Jahren.

Lena: Du hattest oder hast megaviele Fragen, wie findest du Antworten?

Anna: Ich habe versucht, Zeitzeugen aus meiner „Kindheit“ in Deutschland zu finden, habe Nachbarn befragt, die Mitarbeiterin beim Jugendamt getroffen. Die konnten sich 15 Jahre später an mich noch gut erinnern und haben mir von ihrer Sicht auf meine Familie erzählt.

Das öffnet mir Türen zu mir selbst und anderen.

Lena: Dein Stiefvater wurde damals neun Jahre später ­– als du 15 Jahre alt warst – wegen sexuellen Missbrauch verurteilt. Er erhielt zwei Jahre Bewährung. Ich war geschockt über das geringe Strafmaß für all das, was er dir angetan hatte. Wie hast du diesen Prozess erlebt?

Anna: Mein Stiefvater war ein halbes Jahr in Untersuchungshaft. Dann war er plötzlich wieder frei. Ich wusste damals nicht, wer was im Prozess ausgesagt hat. What the ****, was war passiert? 15 Jahre später – im Januar 2023 – habe ich über meine Anwältin die Akten eingesehen, die Akten gab es noch, doch es hat bis Juni gedauert, bis sie zu mir kamen: 320 Seiten. Die habe ich gelesen. Seite für Seite. Aussagen, Geständnisse… Meine Quintessenz daraus ist, dass mich meine Mama subtil zu einer Aussagenverweigerung gebracht hat. Meine Mama hatte Ängste, ich sollte also nicht aussagen, weil wir sonst keinen Unterhalt mehr bekämen. Und dadurch, dass er gestanden hatte, gab es eine mildere Strafe.

Lena: In deinen Arbeiten stellst du Familienfotos in die Orte deiner Kindheit. Auf einigen Fotos brennt es. Was hat es damit auf sich?

Anna: Für mich hat es sich richtig angefühlt. Fast wie ein Ritual. Es ist schon ein bisschen Rache. Diese Weihnachtskrippe zum Beispiel hatte mein Stiefvater damals selbstgebaut. Jedes Weihnachten wurde ich verprügelt, weil ich mit den kleinen Tieren und Figürchen spielen wollte, aber nicht durfte. Natürlich habe ich es trotzdem versucht. Ich kann mit meinem Stiefvater nichts mehr klären, denn er ist vor einigen Jahren gestorben. Zu einer Zeit, wo ich noch sehr eingeschüchtert war. Über die Jahre bin ich gewachsen, stärker geworden. Aber reden mit ihm kann ich nun nicht mehr. Es hat mir gutgetan, die Krippe anzuzünden und auch die Gesichter aus den Familien­fotos wegzubrennen.

Lena: Zugleich hast du mit der Fotografie einen Weg gefunden, sehr viel auszudrücken. Möchtest du vielleicht noch den Pädagog*innen etwas sagen, die wamiki lesen?

Anna: Gern. Ich werde auf jeden Fall an der Arbeit weiterarbeiten und meine ehemaligen Lehrer und ­Lehrerinnen damit konfrontieren, weil ich glaube, als Lehrkraft kann man etwas ahnen, aber nie so richtig hinter die Fassaden blicken. Manchmal sagen aber auch Gesichtsausdrücke mehr als 1000 Worte. Deshalb sind emphatisch Nachfragen und Nachhaken so wichtig. Bei uns wurde viele Jahre nach außen alles versteckt, verheimlicht, eine gute Familie gespielt und ich irgendwann als Problemkind abgestempelt. Das zu hinterfragen, wie es wirklich in der Familie aussieht, das ist der bessere Weg. Nicht wegschauen!!! Bei mir hat es neun Jahre gedauert, ehe der Stiefvater aufgeflogen ist.

Eine unendlich lange Zeit für ein Kind. Wichtig ist, die Kinder zu stärken und ihnen zuzuhören! Ich war ein sehr verängstigtes Kind, aber ich denke schon: Hätte es nur einen einzigen Menschen gegeben, eine Vertrauensperson und einen sicheren Ort zu sprechen, ich hätte viel früher was gesagt.

Lena: Durch deine Arbeit hast du dir ein großes Stück deines Lebens wieder zurückerkämpft: Du hast Worte und Mittel gefunden, darüber sprechen zu können. Ich bewundere deinen Mut, diesen Weg zu gehen. Ich danke dir sehr, dass du die Arbeit gemacht hast und dass du sie mit uns teilst.

Anna: Ich bin sehr glücklich, dass es Augen gefunden hat. Vielen Dank für diese Möglichkeit.

 

Vom Erwachsenwerden

Anna Maria Boshnakova beschäftigt sich in ihrer Arbeit*1 mit der Aufarbeitung von Traumata, der Überwindung ihrer Auswirkungen und ihrer Suche nach dem wahren Selbst. Einem traumhaften Erinnern, das zum Albtraum wird, noch tieferem Graben nach Antworten und dem eigenem Weg zur Heilung. Anna beschreibt den beschwerlichen Weg der Wiederherstellung, verfolgt von Flashbacks und einer Kindheit, die nie stattgefunden hat. Ein Auszug.

1* Entstanden als Abschlussarbeit an der Ostkreuzschule für Fotografie, Berlin 2023

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Amazônia

Hier gibts den Artikel als PDF: Bildstrecke_#3_2021   Das bedrohte Paradies Sebastião Salgado bereiste sechs Jahre lang das brasilianische Amazonasgebiet und fotografierte die unvergleichliche Schönheit dieser einzigartigen Region: den Regenwald, die Flüsse, die Berge, die Menschen, die dort leben – ein unersetzlicher Schatz der Menschheit, in dem die ungeheure Kraft der Natur wie nirgendwo sonst…

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Klimawandel

In seinen Fotoarbeiten „Drowning World/Submerged Portraits“ dokumentiert der südafrikanische Fotograf Gideon Mendel seit 2007, wie sich der Klimawandel auf das Leben von Menschen in aller Welt auswirkt. Mag die Situation in den überfluteten Landstrichen je nach Region auch recht unterschiedlich sein. Gemeinsam ist allen Flutkatastrophen, dass sie die ­Verletzlichkeit unserer Existenz offen zutage treten lassen. Das ist eine gemeinsame menschliche Erfahrung, die kulturelle und geografische Unterschiede in den Hintergrund treten lässt. Weiter lesen

Kosmos

„Ich habe einmal die Welten beherrscht. Nicht nur eine, sondern viele. Ich beherrschte sie mit Spiegeln und Linsen. Ich beherrschte sie mit Licht, Schatten und Zeit. Manchmal beherrschte ich mit einem Augenzwinkern. Durch meine Kamera nahm ein ganzer Kosmos Form an, und jede Welt darin schien durch eine gewisse ungewohnte Logik zu funktionieren.“ Jan von Holleben

Jan von Holleben hat einen Kosmos von sechs Planeten mit wenig mehr als einer Schachtel Requisiten, einem Team williger Menschen, einigen Ausschnitten aus dem Garten und seiner Kamera konstruiert. Klick, Klick, Klick und seltsame Dinge passieren, direkt vor der Kamera, ohne digitale Manipulation: Geister blitzen durch das Berliner Stadtbild. Pflanzen werfen Schatten auf den Himmel. Viele Orte versammeln sich gleichzeitig am selben Ort. Die Monster imitieren die Blumen (oder ist es umgekehrt?). Jeder Planet ist ein optisches Rätsel. Die einzigen Hinweise sind visuell. Keine Antworten werden zur Verfügung gestellt. Dies ist ein Buch für unerschrockene Entdecker. 02.jpg

 

Fotos: Jan von Holleben

Anmerkung: Der Erfinder dieser Planeten vermeidet alle Hinweise auf Gott und auf den Kosmos. Sein Kosmos wird mit einem K geschrieben und ist etwas ganz Anderes.

 

Künstlerbuch: Sechs unterschiedlich große Softcover-Bücher in einer bedruckten und gefalteten Mappe

Planeta Symmatrius:
15 x 21 cm Beschnittene Seite; 30 x 21 cm offen,
48 Seiten; 30 Farbbilder
Planeta Visumbra:
27,5 x 18 cm Beschnittene Seite; 55 x 18 cm geöffnet,
16 Seiten; 7 doppelseitige Farbbilder
Planeta Microidi:
27,5 x 36 cm Beschnittene Seite; 55 x 36 cm geöffnet
28 Seiten; 13 doppelseitige Farbbilder
Planeta Florola:
21 x 28 cm Beschnittene Seite; 42 x 28 cm geöffnet
24 Seiten; 11 doppelseitige Farbbilder
Planeta Phanafulgeo:
23,5 x 31 cm Beschnittene Seite; 47 x 31 cm offen
16 Seiten; 7 doppelseitige Farbbilder
Planeta Isolametro:
27,5 x 18 cm Beschnittene Seite; 55 x 18 cm geöffnet
12 Seiten; 5 doppelseitige Farbbilder

„Kosmos“ von Jan von Holleben erschien Ende 2017 bei Little Steidl, Göttingen und kostet 80 Euro.

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Stell dir vor, du und deine drei Freunde – Do, Re und Mi – wollen ein Eis essen gehen. Aber sie haben schon wieder ihre Portemonnaies vergessen und du musst all dein Taschengeld ausgeben. Foto: Robin Schwarz, 2005   Landschaft Landschaftsfotografie ist deine Chance, die Natur neu zu erfinden. Hast du jemals die Landschaft gestaltet,…

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Das werde ich dir büßen!

Fotos und Text: Eva von Schirach

 

Im Garten der Kindheit gibt es nur dich und mich. Die Stadt wurde weggesprengt von einem Meteoriten. Ein Riese hat die Menschen aus den Trümmern gerissen und ins All geschleudert. Du bringst mir einen Hasen mit. Weil wir Tiere mögen. Ganze Wildschweine werden von uns verschlungen. Wir sind beide stark. Im Garten der Kindheit ist es total gerecht. Wenn du dich an keine Regeln hältst, dann halte ich mich auch an keine.
Im Garten der Kindheit gibt es nur dich und mich. Komm. Bleib.
Hau rein.

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Mehr Sprache in Bild und Wort von Eva von Schirach auf: http://itsayorki.de/

 

 

Portrait von Donna Stevens

Drei Fragen an Donna Stevens

Die Portraits der australischen Fotografin Donna Stevens zeigen Kinder beim Fernsehen, mit entgleisten Gesichtszügen und entrücktem Blick – ein Ausflug in die widersprüchlichen Seiten der genüsslichen Beziehung zwischen Mensch und moderner Technik.

Wie entstand die Idee, Kinder vor dem Fernseher zu portraitieren?

Wir sind im Winter von Australien nach New York gezogen. Das war für uns eine extreme klimatische Veränderung! Deshalb verbrachten wir einen großen Teil der Zeit in unserer Unterkunft. Da wir in den ersten Wochen kaum Spielzeug hatten sah unser Sohn Netflix. Sehr schnell war er ziemlich besessen davon. Die Idee, Kinder vor dem Fernseher zu porträtieren, war geboren.

Welche Sendungen gucken die Kinder ?

Jedes Kind hat sich seine eigene Sendung ausgesucht auf Netflix. Die meisten sehen Zeichentrickfilme.

Was sind Deine persönlichen Fernseh-Erfahrungen?

Ich habe Fernsehen geliebt! Wir standen morgens um 5.00 Uhr auf, um Musikvideos und Zeichentrickfilme zu sehen. Ich habe als Kind sehr viel Sport getrieben und war viel draußen, wir lebten auf dem Land. In New York haben wir keinen Fernseher, wir nutzen jetzt Laptops und Ipads. Es ist eine tägliche Herausforderung für mich, die Zeit meines Sohns vor den Bildschirmen zu begrenzen.

Die Fotos von Donna Stevens sind in unserem neuen Heft 2/2016 „Genuss“ zu sehen. Wer gerade in New York ist, kann sie auch im Original besichtigen – bei der Gruppenausstellung WHAT WE DO IS [SECRET] mit Donna Stevens.

WHAT WE DO IS [SECRET]
168 Bowery, New York, NY 10012.
Eröffnung:14. Mai, 19:00 – 1:00 Uhr.
RSVP: unfollowcollective.com
#whatwedoissecret