Das Kinderbuch der Woche: Wer lebte in diesem Haus?

Bücher für Kinder von null bis zu zwölf Jahren und für ihre Erwachsenen – von Gabriela Wenke empfohlen. Jeden Donnerstag bis zur Frankfurter Buchmesse 2019!

 

Bilderbuch

Mitten im Wald entdecken zwei Kinder das alte, halb verfallene Haus. Über kaum sichtbare Pfade haben sie sich dorthin durchgekämpft, stehen nun davor und sehen das lange schon verlassene, verwunschene Gebäude. Sie steigen durch ein zerbrochenes Fenster und sehen, dass die früheren Bewohner alles so zurückgelassen hatten, als wären sie nur mal kurz hinaus gegangen. Aber das Haus ist kaputt. Bäume wachsen durch das Dach, Vögel nisten im Zimmer, die Tür ist pendelt zwischen offen und zu.

Vor den Augen der Kinder entstehen Bilder, in kräftigeren Farben gemalt als die Welt, die sie getupft und gestrichelt umgibt. Sie stellen sich die Bewohner vor: Wo mögen sie geblieben sein? Auf einer einsamen Insel als Schiffbrüchige? In Paris mit ihrer Staffelei?

Durch diese Vorstellungen angeregt, schaut man genauer hin: Warum glauben die Kinder, dass eine Frau Eichhörnchen malte, ein ehemaliger Seemann sehnsüchtig Ausschau nach dem Meer hielt, ein Mädchen zur Musik von Schallplatten tanzte? Man blättert zurück und entdeckt Schallplatten, die am Boden liegen, Bilder von Segelschiffen an der Wand, ein Buddelschiff und Bücher – Gegenstände, die zum Fantasieren darüber verführen, was in dem Haus geschah, warum seine Bewohner vor langer Zeit fortgingen und alles so zurückließen, als wären sie gerade zu einem Spaziergang aufgebrochen.

Liest man sich den Text einmal ganz bewusst laut vor, stellt man fest, dass der Illustrator seine eigene Geschichte zu dem rhythmischen, knappen Text erfunden hat. Als analysierender Erwachsener merkt man, dass das, was die  Bilder erzählen, Assoziationen zu einem Gedicht ohne Reime sind. Das hat etwas Magisches und ist ein Bilderbuch für Kinder, die Geheimnisse und Geschichten voller Fragen und Rätsel lieben.

 

 

Das Kinderbuch der Woche: Durch die Nacht ans Meer

Bücher für Kinder von null bis zu zwölf Jahren und für ihre Erwachsenen – von Gabriela Wenke empfohlen. Jeden Donnerstag bis zur Frankfurter Buchmesse 2019!

Bilderbuch

Eine Fahrt durch die Nacht ans Meer. Weil er das Auto fährt, muss der Vater wach bleiben. Jim soll schlafen, damit die Zeit schnell vergeht. Aber er wacht immer wieder auf.

Mit wenigen Strichen versetzt der Illustrator Jens Rassmus Vater und Sohn samt Auto in eine pastellfarbene Dämmerlandschaft. Über dem tiefblauen Sternenhimmel zieht ein Drittelmond seine Bahn. Die endlose Straße in der menschenleeren Landschaft erzeugt eine seltsame Atmosphäre von „Unterwegs-Sein“.

Taucht der Junge aus dem Schlaf auf, möchte er eine Geschichte hören, weil ihm so langweilig ist. Erst wehrt der Vater ab, dann erzählt er von einer kleinen Ziege, die mit einer alten Gans unterwegs ist und auch ans Meer will.

Die Geschichte der beiden Tiere ist in einem völlig anderen Stil gemalt, der wirkt, als hätten wir es mit altmodischen Gemälden zu tun. In einer grünblauen Auenlandschaft treiben Ziege und Gans auf einem großen Baumstamm im goldgelben Sonnenlicht einen Fluss hinab und dem Meer entgegen. Beschwörend betont der Vater, dass die beiden bequem reisen, dösen und schlafen. Tatsächlich wacht auch Jim erst nach einer Weile wieder auf und sagt, die beiden würden sich jetzt eine Stadt anschauen wollen.

Schließlich wird der Vater so müde, dass er auf einem Rastplatz anhalten muss. Dort warten Ziege und Gans schon darauf, ins Auto einsteigen zu dürfen. Während wir von oben auf den Parkplatz, den schlafenden Vater, seinen Sohn und die beiden fantastischen Reisegefährten schauen, weitet sich der Blick bis zum Meer, das hinter den nächsten Hügeln auf die Reisenden wartet.

Jens Rassmus lässt Vater und Sohn im Auto wie in einer Kapsel durch die Nacht fahren. Die Illustrationen öffnen sich zum tiefblauen Nachthimmel – ein Symbol für magische Welten, die man nicht nur sehen, sondern geradezu erschnuppern kann.

 

Das Kinderbuch der Woche: Verrückte Fakten über Pilze

Bücher für Kinder von null bis zu zwölf Jahren und für ihre Erwachsenen – von Gabriela Wenke empfohlen. Jeden Donnerstag bis zur Frankfurter Buchmesse 2019!

 

Sachbuch

Sachbücher für Kinder waren jahrzehntelang vorwiegend in langen Reihen auf dem Markt: von den Dinos bis zu den Römern, vom Haustier bis zu exotischen Wildtieren. Ganz selten ging es um Pflanzen und schon gar nicht um Pilze, die weder Pflanzen noch Tiere sind. Wenn überhaupt, dann tauchen Pilze in Bestimmungsbüchern auf, besonders unter den Gesichtspunkten der Essbarkeit oder des Schutzes vor Vergiftungen.

Das vorliegende Buch ist ein grafisches Kunstwerk und kommt ganz ohne Fotos aus. Die Illustrationen sind keine wissenschaftliche Zeichnungen, sondern verspielt und erzählerisch, denn sie sollen Spaß und neugierig machen. Natürlich gibt es ganze Seiten, die die enormen Unterschiede in realistischen Zeichnungen darstellen, und bei den Pilzen, die wir essen wollen, wird klar gesagt, dass man ohne ein Pilzbestimmungsbuch oder einen versierten Fachmenschen nicht auf Pilzsuche gehen sollte.

Interessant ist: Das Buch macht klar, dass das durchschnittliche Alltagswissen über Pilze nicht einmal die Spitze des Eisberges darstellt. Viele Menschen wissen nicht, dass Pilze weder Pflanzen noch Tiere sind, sondern ein eigenes Reich bilden, das lateinisch Funga oder Mykobiota genannt wird. Erst 1969 wurde das festgestellt.

Im Buch folgen wir der Spur der Pilze erst einmal in die Welt der essbaren – mit Tipps und Rezepten –, die man von den für Menschen giftigen Pilzen zu unterscheiden lernen muss. Es folgen Pilze, die weltweit in der Heilkunde eingesetzt wurden und werden, zum Beispiel das Antibiotikum Penicillin. Das heißt: Manche Pilze sind für den Menschen genießbar oder haben eine heilende Wirkung, andere nicht. Übrigens gilt das auch für den Schimmel, genießbar zum Beispiel im Schimmelkäse.

Wir lernen den größten Pilz kennen, der 8,9 Quadratkilometer groß ist, den kurzlebigsten, den räuberischsten. Wir erfahren, dass es Pilze im Wasser und in der Luft gibt, pilzförmige Naturereignisse, Stürme und den menschengemachten, tödlichsten aller Pilze, den Atompilz. Staunend lesen wir, dass Forscher dabei sind, aus Pilzen Materialien zu entwickeln, die das heutige Plastik ersetzen und zu neuen Baumaterialien werden können.

Das Buch gleicht einer Wunderwelt, die schon Kinder ab 8 Jahren erforschen können: Manche Pilze sehen aus wie moderne Kunstwerke, aus anderen Pilzen kann man welche machen. Und man schätzt, dass das Pilzreich sechsmal so groß ist wie das Pflanzenreich. Täglich werden neue Arten entdeckt.

Wunderschön gestaltet und gut geschrieben, sollte dieses dicke, großformatige Buch möglichst vielen Kindern zugänglich gemacht werden – in Bibliotheken, Kitas, Schulen und überall dort, wo Kinder an Bücher herankommen können.

 

 

 

Das Kinderbuch der Woche: Über die Nützlichkeit von Mauern

Bücher für Kinder von null bis zu zwölf Jahren und für ihre Erwachsenen – von Gabriela Wenke empfohlen. Jeden Donnerstag bis zur Frankfurter Buchmesse 2019!

Bilderbuch

„Hallo Donald Trump“, sagt der Buchtitel. Reflexartig zucke ich zurück, weil die direkte Umsetzung politischer oder weltanschaulicher Überzeugungen im Bilderbuch leicht zum Traktat gerät. Aber der lockere Strich der Titelillustration ermutigt mich, weiterzuschauen. Tatsächlich ist die Geschichte über die Vor- und Nachteile von Mauern witzig, verständlich und weist über die Tagesaktualität hinaus auf verschiedene Funktionen von Mauern und auf historische Beispiele wie die Chinesische Mauer oder den Hadrianswall.

Sam lebt in Berlin, und seine Eltern erzählen ihm, wie befreiend es war, als die Mauer, die die Stadt teilte, geöffnet und niedergerissen wurde. Nun schreibt Sam Briefe an Donald Trump, weil der im Fernsehen von „unerwünschten Personen“ sprach, die er mit einer Mauer abwehren will. Sam findet, sein großer Bruder, mit dem er ein Zimmer teilen muss, ist so eine unerwünschte Person. Deshalb könnte Sam eine Mauer gebrauchen, mitten durchs Zimmer. Weder Bruder noch Eltern halten das für eine gute Idee.

Seine Überlegungen teilt Sam Donald Trump in den Briefen mit. Auf den Doppelseiten sind häuslichen Begebenheiten und Fantasien Sams jeweils Szenen gegenübergestellt, in denen Trump Sams Briefe erhält, die den Präsidenten augenscheinlich nicht interessieren.

Zu Hause sind jede Menge Überzeugungsarbeit der Eltern und Verhaltensänderungen des Bruders nötig, bis Sam erkennt, dass es Vorteile hat, wenn einem jemand zu Hilfe kommen oder einen in der Nacht trösten kann, ohne erst eine Mauer niederreißen zu müssen.

Die Geschichte wird vorlesenden Erwachsenen und Kindern viel Spaß machen, und das bisschen Belehrung über das Mauern-Bauen und -Einreißen flutscht unauffällig durch.

 

Das Kinderbuch der Woche: Mädchen so und Jungen so

Bücher für Kinder von null bis zu zwölf Jahren und für ihre Erwachsenen – von Gabriela Wenke empfohlen. Jeden Donnerstag bis zur Frankfurter Buchmesse 2019!

 

 

Bilderbuch

 

Dieses Bilderbuch macht Spaß!

Der Ich-Erzähler hat nämlich nicht nur eine neue Freundin – Pina, das schönste und schlauste Mädchen im Kindergarten –, sondern auch eine neue Sicht auf die Welt. Die hat er von Pina, deren Eltern „verrückte Künstler“ und nicht immer da sind, um auf ihr Kind aufzupassen.

Die Mama des Ich-Erzählers findet Pina nicht verrückt, sondern forsch und wünschte sich ihren Sohn auch so. Aber dass er seine neuen Lieblingsfarben Rot, Pink, Violett und Rosa nun dauernd tragen muss, verursacht ihr Herzrasen.

Der Papa hingegen wirkt wie erlöst, weil die Farbenordnung – Mädchen so und Jungen so – aufgehoben ist, denn er leidet darunter, dass er jeden Tag in einem grauen Anzug zur Arbeit gehen muss, obwohl seine Lieblingsfarben Grün und Blau sind. Aber: Grün und Blau „trägt nur Kaspars Frau“, heißt es. Deshalb trägt der Papa bloß immer grüne und blaue Socken.

Doch die Änderung althergebrachter Regeln ist nicht leicht. So behauptet zum Beispiel Eddies Vater, dass Mädchen nicht Fußball spielen dürfen, dass Jungen, deren Lieblingsfarbe Rosa ist, schwul werden und dass deren Eltern dann schuld daran sind. Das bringt Mama so auf die Palme, dass ihr Sohn fürchtet: Gleich kriegt sie einen Herzinfarkt.

Natürlich weiß Pina, was schwul ist: Wenn Männer sich küssen. Papa küssen gehört nicht dazu. Also verschieben die Kinder die Entscheidung, ob sie schwul werden wollen, auf später und zeigen den Papas schon mal, dass man mit Mädchen wunderbar Fußball spielen kann und dass die Erzieherin einen ausgezeichneten Torwart abgibt.

Die federleicht erzählte Geschichte rückt – mit comichaften, sehr beweglichen Strichmännchen und skurrilen Ideen – die Ansichten einiger altmodischer Eltern zurecht. Wer will, kann die angerissenen Probleme natürlich mit den Kindern besprechen, doch in einer einigermaßen liberalen Umgebung auch darauf vertrauen, dass Kinder ansprechen, was sie wissen wollen, und spielen, was sie beschäftigt.

Das Kinderbuch der Woche: Sternchen als ein Universum

Bücher für Kinder von null bis zu zwölf Jahren und für ihre Erwachsenen – von Gabriela Wenke empfohlen. Jeden Donnerstag bis zur Frankfurter Buchmesse 2019!

 

Bilderbuch

Es ist Herbst. Vor dem großen alten Holzhaus steht ein kleines Mädchen. An seiner Hand baumelt ein schlenkriges Stofftier, braun mit hellen Tupfen. Die Blätter fallen und bilden bunte Haufen auf der Wiese. Das Mädchen stürzt sich mit seinem Stofftier hingebungsvoll in die Laubberge, von einem kleinen weißbraunen Hund beobachtet.

Der Tag geht zu Ende mit Lesen, Baden, Essen und Zähneputzen. Danach kuschelt sich das Mädchen mit dem Stofftier gemütlich ins Bett. „Gute Nacht, Sternchen“, sagt es zu ihm. Mit einem Kuss verabschiedet sich das Stofftier von dem schlafenden Kind und zieht mit Hund Theo los in sein eigenes nächtliches Leben. Zusammen spielen sie und klauen Kekse von der Anrichte. Diese Kekse gefallen auch dem Mäuserich Bruno. Er darf mitessen und erzählt den beiden vom größten Keks der Welt, den er ihnen zeigen will. Dazu müssen sie ihm auf den hohen Baum folgen. Der Hund kann nicht klettern, aber er schafft es, Sternchen hinauf in die Baumkrone zu schleudern. Schließlich stehen Bruno und Sternchen im hellen Licht des vollen Mondes, der den gerade gegessenen Keksen erstaunlich ähnelt.

Dem langbeinigen Sternchen traut der Mäuserich zu, mit einem großen Sprung auf dem Mond zu landen. Das schafft Sternchen zwar nicht, aber von unten sieht es tatsächlich so aus, als wäre das Stofftier dem Mond nahegekommen, bevor es kopfüber in einem großen Blätterhaufen landet. Zufrieden kehren die drei ins Haus zurück, essen die Kekse auf und legen sich schlafen. Am nächsten Morgen begrüßt das Mädchen sein Stofftier mit einem „Guten Morgen“.

Das Bilderbuch erzählt diese Geschichte als Comic mit wenigen Worten. Erst auf der fünften Seite sagt das Mädchen etwas, und das ist nicht viel: „Gute Nacht, Sternchen.“ Erst hier erfahren wir, dass Sternchen ein Spielzeug ist.

Während das – namenlose – Mädchen schläft, folgen wir Sternchen Bild für Bild durchs Haus und erfahren, dass es den Hund kennt und ihn Theo nennt. Theo redet nicht, aber die beiden verstehen einander ohne Worte und haben wahrscheinlich schon viele Nächte miteinander verbracht. Diesmal kommt Bruno, der Mäuserich, hinzu. Als er sich darüber lustig macht, dass ein kleines Stofftier einen so großen Namen wie Sternchen hat, sagt es bedeutungsvoll: „Ob groß oder klein, jeder ist ein Universum für sich.“ Ein großes Wort, gelassen ausgesprochen. Übrigens finde ich nicht, dass man diesen Satz erklären muss, wenn nicht nachgefragt wird. Ist das doch der Fall, wird dem Vorleser oder der Vorleserin schon etwas einfallen.

Die kleine, nicht einmal besonders originelle Bildgeschichte entfaltet Magie. Mich haben Liniers Illustrationen fasziniert – die Raffiniertheit der Einfachheit. Der bekannte argentinische Comic-Künstler Ricardo Liniers bekommt von mir ein Sternchen für das großformatige Bilderbuch. Ihnen empfehle ich das Buch zum Vorlesen und Anschauen mit Kindern ab drei oder vier Jahren. Kinder, die Bildgeschichten schon kennen, werden das Buch bald selbst lesen können.

 

 

Eric Carles „Nimmersatt“ – frisch wie am ersten Tag

Bilderbuch

50 Jahre ist sie alt, die kleine Raupe Nimmersatt. Wer so alt wie die Raupe ist und im deutschsprachigen Raum wohnt, hat sie im Laufe seines Lebens bestimmt kennen­gelernt – sei es zu Hause oder im Kindergarten, sei es in der Kindheit, bei den eigenen Kindern oder Kindeskindern.

Das Bilderbuch folgt dem Weg Nimmersatts vom unscheinbar winzigen Ei auf einem Blatt bis zur dicken Raupe, die endlich so satt ist, dass sie nicht mehr weiterfressen will. Sie baut sich einen Kokon, in dem sie verschwindet, nach mehr als zwei Wochen ein Loch nach draußen bohrt und – tata! – ein wunderschöner Schmetterling ist.

Worüber wollen wir reden? Dass jedes Kind lernt, dass eine Raupe ein kleines, wurmähnliches Tier ist, aus dem etwas so Schönes wie ein bunter Schmetterling werden kann? Oder dass jedes Kind schon die Raupe bestaunt und nicht erst den Schmetterling? Dass der Künstler mit den scheinbar einfachen Mitteln der Collage Bilder von großer Strahlkraft erschafft, weil ihm eine unendliche Palette von Farben zur Verfügung steht, weil er buntes Seidenpapier bemalt und so farbliche Nuancen erzielt, mit denen man viel mehr gestalten kann als mit Collagen aus „fertigem Buntpapier“? Weil er so gut in dem ist, was er tut?

Das Buch spielt mit Formaten und Löchern, was bei seiner Entstehung sehr ungewöhnlich war und Buchbinderei wie Verlag vor große Herausforderungen stellte. Auch heutige Kleinkinder fordert es noch heraus, wenn sie der Raupe durch die Löcher in den Seiten folgen.

Eric Carle, am 25. Juni feierte er seinen 90. Geburtstag, erzählte, dass er als Kind und Jugendlicher besonders von Paul Klee, Pablo Picasso und Franz Marc beeindruckt war, die ihm ein einfühlender Kunstlehrer näherbrachte, obwohl sie in der Nazizeit verboten waren. Carle wurde in den USA geboren, aber seine deutschstämmigen Eltern gingen 1935 nach Deutschland zurück – ein Kulturschock für ihn. Da war dieser Kunstlehrer seine Rettung.

Nachdem Carle 1951 in die USA zurückgekehrt war, wurde er Werbedesigner. Als er 1969 mit „Die kleine Raupe Nimmersatt“ Erfolg hatte, war er 40 Jahre alt. In den nächsten 50 Jahren wurde er zu einem weltberühmten Bilderbuchkünstler.

Normalerweise stelle ich jede Woche ein ziemlich neues Bilder- oder Kinderbuch vor. Aber bei der kleinen Raupe mache ich eine Ausnahme, aus Hochachtung vor Eric Carle und seinem Talent, kleinen Kindern eine komplexe Sache so einfach, verspielt, gekonnt und lustvoll nahezubringen. Falls Sie gerade keine „Raupe“ zu Hause haben, sollten Sie die Gelegenheit nutzen, das Buch zu kaufen. Schon um es bei der nächsten Gelegenheit einem zweijährigen Kind zu schenken.

Das Kinderbuch der Woche: Das magische Blau…

Bücher für Kinder von null bis zu zwölf Jahren und für ihre Erwachsenen – von Gabriela Wenke empfohlen. Jeden Donnerstag bis zur Frankfurter Buchmesse 2019!

 

 

UND DAS GOLDENE LICHT

Bilderbuch

Auf dem Titelbild gehen zwei Fantasiewesen, ein großes Dunkles und ein kleines Helles, Hand in Hand über eine rote Brücke vom tiefen Dunkelblau ins strahlend Helle hinein. Das ist das gute Ende – lebensfroh vorweggenommen, ehe die Geschichte beginnt.
Das Struppige, das borstig und nachtblau in der Finsternis kauert, sehnt sich nach der Helligkeit auf der anderen Seite. Das Helle, ein glattes, kleines Wesen in strahlendem Weiß, ist neugierig auf die Finsternis drüben, will aber lieber nicht hin. Doch schließlich macht sich das dunkle Struppige auf, um vom Rand der Finsternis wenigstens mal ins Helle hineinzuschauen. Auch das zarte Helle traut sich, mit einer Taschenlampe zum Rande des Lichts vorzudringen.
Auf der Doppelseite, auf der sich die beiden erstmals begegnen, sehen wir zwei Augen im Dunkelblau und verschwommene Konturen im Licht – als ob man die Augen aufschlägt und geblendet wird. Das Dunkle ist nicht düster, sondern von einem magischen Blau, das seltsame Wesen und Strukturen beleben. Im Hellen gibt es sonnengelbe Bäume, Wesen und Häuser in den Farben bunter Bauklötzchen. Die beiden wagen sich immer weiter ins Revier des jeweils anderen und genießen gemeinsam ihre neuen Möglichkeiten, bis das Haus des Hellen eines Tages in die Dunkelheit verfrachtet wird. Da weint das Helle bittere Tränen über den Verlust seiner Welt. „So war das bei mir auch“, sagt sein struppig-dunkler Freund und drückt es fest an sich. Gemeinsam gehen sie wieder zur Grenze im Dämmerlicht, schauen ins Helle hinüber und erobern sich beide Welten Schritt für Schritt. Schließlich bauen sie sich ein Haus inmitten der leuchtendsten Farben. Das Haus im Dunklen behalten sie trotzdem.
Die Bilder in magisch wirkenden Blautönen, vielen Abstufungen und Nuancierungen verdanken sich der Cyanotypie, einer alten Fototechnik. Sie zeigen, dass nicht nur das Helle, Sonnige die Freunde anzieht. Auch die blaue Dunkelheit hat ihren ästhetischen Reiz. So erzählen die Farben dieser Geschichte ganz ohne Worte, dass im Dunkel nicht nur Angst und Schrecken wohnen, sondern auch blaue Magie.
Weil ich die Verzauberung durch dieses Bilderbuch kaum richtig in Worte fassen kann, aber möchte, dass Kinder und Erwachsene in den Farben versinken, empfehle ich Ihnen: Schauen Sie sich dieses Buch an, betrachten Sie es zusammen mit Kindern. Ich glaube, schon Zweijährige sind imstande, den beiden Wesen vom Dunkel ins Licht und zurück zu folgen.

 

 

 

Das Kinderbuch der Woche: Vom Mann in den Wäldern

Bücher für Kinder von null bis zu zwölf Jahren und für ihre Erwachsenen – von Gabriela Wenke empfohlen. Jeden Donnerstag bis zur Frankfurter Buchmesse 2019!

 

Wieland Freund, dem fantastischen Erzähler märchenhafter Geschichten, gelang eine kleine, tiefgründige Fabel über ein Wesen, das mit unterschiedlichen Namen durch die Jahrhunderte geistert. Hehmann, der wilde oder grüne Mann, ist der Hüter, Bewahrer und Verteidiger des Waldes.

Das Mädchen Nemi begegnet ihm in dem kleinen Waldstück, das zwischen Wohnsiedlungen und Straßen liegt – ein Überbleibsel der großen Wälder, die in alten Zeiten fast das ganze Land bedeckt hatten. Als Nemi an diesem ersten Tag aus ihrem Schulbus steigt, hört sie seine Heh-Rufe und folgt ihnen in den Wald hinein bis zur alten Kapelle, vor der eine weißhaarige Frau auf einer Bank sitzt. Aber sie ruft nicht.

Nemi folgt den Rufen weiter bis zu einer umgestürzten Buche. Hinter der scheint sich ein seltsames Wesen zu verstecken, dem Blätter im Gesicht wachsen und dessen Kopf ein pilzartiges Gebilde bedeckt. Sie spricht es an und sagt, sein „Heh heh“ habe sie herbeigerufen. Es ist der Hehmann, und er staunt, dass ihn auf einmal wieder jemand hört. Je länger die beiden miteinander reden, desto größer wird er. Aber seine Größe scheint zu schwanken, bis ein lautes Flugzeug ihn in Wut versetzt. Schreiend und immer größer werdend, läuft er ihm hinterher.

Sieben Tage lang begegnen sich die beiden. Der Hehmann kommt und geht. Er scheint alles zu vergessen und sich dann wieder zu erinnern: an die Lieder, die er zu Ehren der Tiere und Pflanzen des Waldes singt, und an Nemi, die ihn täglich sucht und ihr Matheheft vollmalt: mit Blättern, Schmetterlingen und mit allem, was kreucht, fleucht und wächst.

Nemi sind die Augen und das Herz aufgegangen für das, was der Wald ist. Plötzlich fragt sie sich, warum es im Wald keine Schmetterlinge mehr gibt und warum es wichtig ist, alte Bäume im Wald liegenzulassen. Sie lernt die Namen des Eichelhähers kennen und erfährt, welche Bedeutung er für den Wald hat.

Die alte Frau, die auf der Bank vor der Kapelle saß, zeigt ihr, dass ein großer Kopf aus Holz, der dem des Hehmanns ähnelt, die Kanzel in der Kapelle trägt. Sie erzählt Nemi, dass dieser „grüne Mann“ in vielen alten Kirchen zu finden ist.

Das zauberhafte, kluge und poetische Buch wurde von Hanna Jung geradezu magisch schön illustriert mit Bildern von Schmetterlingen, Vögeln und mythischen Gestalten. Ob es die junge Leserschaft zu verträumten Waldspaziergängen verführt oder zu den Freitags-Demos für die Umwelt einlädt – wer weiß?

Wem das Buch gefallen hat, der muss unbedingt von Wieland Freund „Wecke niemals einen Schrat!“ samt Folgeband lesen.

 

 

 

 

Das Kinderbuch der Woche: Eric Carles „Nimmersatt“

Bücher für Kinder von null bis zu zwölf Jahren und für ihre Erwachsenen – von Gabriela Wenke empfohlen. Jeden Donnerstag bis zur Frankfurter Buchmesse 2019!

 

Eric Carles „Nimmersatt“ – frisch wie am ersten Tag

50 Jahre ist sie alt, die kleine Raupe Nimmersatt. Wer so alt wie die Raupe ist und im deutschsprachigen Raum wohnt, hat sie im Laufe seines Lebens bestimmt kenngelernt – sei es zu Hause oder im Kindergarten, sei es in der Kindheit, bei den eigenen Kindern oder Kindeskindern.

Das Bilderbuch folgt dem Weg Nimmersatts vom unscheinbar winzigen Ei auf einem Blatt bis zur dicken Raupe, die endlich so satt ist, dass sie nicht mehr weiterfressen will. Sie baut sich einen Kokon, in dem sie verschwindet, nach mehr als zwei Wochen ein Loch nach draußen bohrt und – tata! – ein wunderschöner Schmetterling ist.

Worüber wollen wir reden? Dass jedes Kind lernt, dass eine Raupe ein kleines,  wurmähnliches Tier ist, aus dem etwas so Schönes wie ein bunter Schmetterling werden kann? Oder dass jedes Kind schon die Raupe bestaunt und nicht erst den Schmetterling? Dass der Künstler mit den scheinbar einfachen Mitteln der Collage Bilder von großer Strahlkraft erschafft, weil ihm eine unendliche Palette von Farben zur Verfügung steht, weil er buntes Seidenpapier bemalt und so farbliche Nuancen erzielt, mit denen man viel mehr gestalten kann als mit Collagen aus „fertigem Buntpapier“? Weil er so gut in dem ist, was er tut?

Das Buch spielt mit Formaten und Löchern, was bei seiner Entstehung sehr ungewöhnlich war und Buchbinderei wie Verlag vor große Herausforderungen stellte. Auch heutige Kleinkinder fordert es noch heraus, wenn sie der Raupe durch die Löcher in den Seiten folgen.

Eric Carle, am 25. Juni feierte er seinen 90. Geburtstag, erzählte, dass er als Kind und Jugendlicher besonders von Paul Klee, Pablo Picasso und Franz Marc beeindruckt war, die ihm ein einfühlender Kunstlehrer näherbrachte, obwohl sie in der Nazizeit verboten waren. Carle wurde in den USA geboren, aber seine deutschstämmigen Eltern gingen 1935 nach Deutschland zurück – ein Kulturschock für ihn. Da war dieser Kunstlehrer seine Rettung.

Nachdem Carle 1951 in die USA zurückgekehrt war, wurde er Werbedesigner. Als er 1969 mit „Die kleine Raupe Nimmersatt“ Erfolg hatte, war er 40 Jahre alt. In den nächsten 50 Jahren wurde er zu einem weltberühmten Bilderbuchkünstler.

Normalerweise stelle ich jede Woche ein ziemlich neues Bilder- oder Kinderbuch vor. Aber bei der kleinen Raupe mache ich eine Ausnahme, aus Hochachtung vor Eric Carle und seinem Talent, kleinen Kindern eine komplexe Sache so einfach, verspielt, gekonnt und lustvoll nahezubringen. Falls Sie gerade keine „Raupe“ zu Hause haben, sollten Sie die Gelegenheit nutzen, das Buch zu kaufen. Schon um es bei der nächsten Gelegenheit einem zweijährigen Kind zu schenken.

 

 

Das Kinderbuch der Woche: Ein Comic zur Wohnungsnot

Bücher für Kinder von null bis zu zwölf Jahren und für ihre Erwachsenen – von Gabriela Wenke empfohlen. Jeden Donnerstag bis zur Frankfurter Buchmesse 2019!

 

Wohnen in Zeiten der Verdrängung

„Bergstraße 68“ ist eine Comic-Geschichte über Menschen in Berlin, denen es so geht wie sehr vielen Leuten in größeren Städten. Der Platz zum Wohnen wird immer knapper. Bäume und grüne Hinterhöfe müssen Tiefgaragen weichen.

In der Bergstraße 68 lebt das Mädchen Tilda, das uns freundlich in sein Haus einlädt. Eine bunte Mischung aus Erwachsenen und Kindern wohnt in diesem alten Haus. Abends, wenn die Kinder im Bett sein sollten, grillen die Erwachsenen im Garten hinter dem Haus, und die Kinder beobachten sie von den Balkonen aus.

Aber eines Tages kommt der neue Besitzer und will das Haus sanieren – angeblich zum Wohle der Bewohner. Doch die merken, dass er sie loswerden will, um mit den nach der Sanierung viel teureren Wohnungen mehr Geld zu verdienen. Sandiert statt saniert hat Tilda verstanden und stellt sich die Sandmassen plastisch vor.

Als erstes wird der Zugang zum Garten verrammelt, und die alte Kastanie soll gefällt werden. Da erzählt der Vater dem Mädchen, dass er das Baum-Amt eingeschaltet hat. Mit dessen Arbeitern wollen die Bewohner den Baum ausgraben und ihn an einem anderen Ort einpflanzen. Doch der Vater hat diese Geschichte nur erfunden. Es gibt kein Happyend. Am nächsten Morgen ist die Kastanie gefällt und abtransportiert.

Im Nachwort erfahren wir, dass es die Mietergemeinschaft im alten Haus nicht mehr gibt. Alle mussten ausziehen. Obwohl Tilda das neue Zuhause gefällt, bleibt es doch bitter, dass sie die Freunde aus dem alten Haus verloren hat.

Das kleine Comic-Buch fällt aus dem Rahmen. Zum einem gibt es Szenen, die zeigen, wie die Erwachsenen feiern und danach verkatert in den Betten liegen. Zum anderen versteht Tilda vieles von dem, was sie belauscht und beobachtet, falsch oder gar nicht. Das lässt fantastische Bilder in ihrem Kopf entstehen.

Zwar ist es ein ungeschriebenes Kinderbuch-Gesetz, dass Unklarheiten und Missverständnisse – wie Sandierung statt Sanierung – aufgelöst werden und dass die Geschichte gut ausgeht. Aber hier muss der vorlesende Erwachsene das übernehmen. Oder das lesende Kind muss nachfragen. Und wirklich gut geht die Geschichte auch nicht aus, obwohl Tilda ihr neues Zuhause mag.

Veronica Solomon und Tina Brenneisen, zwei neue Künstlerinnen, und ein bisher unbekannter kleiner Verlag – parallelallee Verlag – haben diesen Kinder-Comic auf den Markt gebracht. Veronica Solomons Zeichnungen muten auf den ersten Blick klassisch realistisch an. Auf den zweiten Blick entdeckt man fantastische Elemente, ironische Seitenhiebe und Szenen, die auf den erwachsenen Leser zielen. Man kann finden, dass das nichts für Kinder ist, oder ihnen die differenzierte Geschichte zumuten und vielleicht miteinander ins Gespräch kommen.

Ich empfehle dieses Buch besonders Eltern und Kindern, die von der städtischen Wohnungsnot betroffen sind oder sie aus ihrem Umfeld kennen.

 

 

Kinderbuch der Woche: Abschied

Bücher für Kinder von null bis zu zwölf Jahren und für ihre Erwachsenen – von Gabriela Wenke empfohlen. Jeden Donnerstag bis zur Frankfurter Buchmesse.

„Dies ist kein Buch über das Sterben, sondern über das Leben – zu dem ohne Zweifel auch das Sterben gehört“, schreibt der Autor Werner Holzwarth in seinem Vorwort zu „Mein Jimmy“. Von Anfang an ist klar, dass die Geschichte von Jimmy, dem Nashorn, und Hacki, dem Madenhacker, von den letzten Tagen ihrer Freundschaft erzählt. Aber auch davon, wie viel Spaß die beiden miteinander hatten.

Jimmy ist sehr alt, und beide Freunde wissen, dass er nicht mehr lange leben wird. Aber er versucht, dem kleinen Vogel zu sagen, dass all das Schöne, das sie zusammen erlebt hatten, deswegen nicht aufhört, schön gewesen zu sein, und dass Hacki bald wieder neue Freunde haben wird.

Werner Holzwarth erfand 1989 die geniale Geschichte vom kleinen Maulwurf, der wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hat. Nun erzählt er eine Geschichte vom Abschied.

Mehrdad Zaeri gelang es, den großen Jimmy so ins Bild zu rücken, dass er keine Angst macht, sondern wie ein Schutzwall wirkt, während Hacki wie ein winziges Strichmännchen auf ihm herumturnt. Ganz langsam wird von Seite zu Doppelseite aus Jimmy eine schwarze Masse im Dunkel der afrikanischen Nacht unter dem tief-blauen Sternenhimmel. Beim ersten Morgenlicht fliegt Hacki davon. Auf den letzten Bildern sehen wir ihn mit neuen Freunden, den Madenpickern, auf dem Rücken eines Zebras stehen und von seinen Abenteuern mit Jimmy erzählen.

Diese beeindruckende Geschichte zweier ungleicher Freunde kann ich allen großen und kleinen Liebhabern guter Geschichten und überwältigender Bilder voller Überzeugung empfehlen.