Das Kinderbuch der Woche: Vom Mann in den Wäldern

Bücher für Kinder von null bis zu zwölf Jahren und für ihre Erwachsenen – von Gabriela Wenke empfohlen. Jeden Donnerstag bis zur Frankfurter Buchmesse 2019!

 

Wieland Freund, dem fantastischen Erzähler märchenhafter Geschichten, gelang eine kleine, tiefgründige Fabel über ein Wesen, das mit unterschiedlichen Namen durch die Jahrhunderte geistert. Hehmann, der wilde oder grüne Mann, ist der Hüter, Bewahrer und Verteidiger des Waldes.

Das Mädchen Nemi begegnet ihm in dem kleinen Waldstück, das zwischen Wohnsiedlungen und Straßen liegt – ein Überbleibsel der großen Wälder, die in alten Zeiten fast das ganze Land bedeckt hatten. Als Nemi an diesem ersten Tag aus ihrem Schulbus steigt, hört sie seine Heh-Rufe und folgt ihnen in den Wald hinein bis zur alten Kapelle, vor der eine weißhaarige Frau auf einer Bank sitzt. Aber sie ruft nicht.

Nemi folgt den Rufen weiter bis zu einer umgestürzten Buche. Hinter der scheint sich ein seltsames Wesen zu verstecken, dem Blätter im Gesicht wachsen und dessen Kopf ein pilzartiges Gebilde bedeckt. Sie spricht es an und sagt, sein „Heh heh“ habe sie herbeigerufen. Es ist der Hehmann, und er staunt, dass ihn auf einmal wieder jemand hört. Je länger die beiden miteinander reden, desto größer wird er. Aber seine Größe scheint zu schwanken, bis ein lautes Flugzeug ihn in Wut versetzt. Schreiend und immer größer werdend, läuft er ihm hinterher.

Sieben Tage lang begegnen sich die beiden. Der Hehmann kommt und geht. Er scheint alles zu vergessen und sich dann wieder zu erinnern: an die Lieder, die er zu Ehren der Tiere und Pflanzen des Waldes singt, und an Nemi, die ihn täglich sucht und ihr Matheheft vollmalt: mit Blättern, Schmetterlingen und mit allem, was kreucht, fleucht und wächst.

Nemi sind die Augen und das Herz aufgegangen für das, was der Wald ist. Plötzlich fragt sie sich, warum es im Wald keine Schmetterlinge mehr gibt und warum es wichtig ist, alte Bäume im Wald liegenzulassen. Sie lernt die Namen des Eichelhähers kennen und erfährt, welche Bedeutung er für den Wald hat.

Die alte Frau, die auf der Bank vor der Kapelle saß, zeigt ihr, dass ein großer Kopf aus Holz, der dem des Hehmanns ähnelt, die Kanzel in der Kapelle trägt. Sie erzählt Nemi, dass dieser „grüne Mann“ in vielen alten Kirchen zu finden ist.

Das zauberhafte, kluge und poetische Buch wurde von Hanna Jung geradezu magisch schön illustriert mit Bildern von Schmetterlingen, Vögeln und mythischen Gestalten. Ob es die junge Leserschaft zu verträumten Waldspaziergängen verführt oder zu den Freitags-Demos für die Umwelt einlädt – wer weiß?

Wem das Buch gefallen hat, der muss unbedingt von Wieland Freund „Wecke niemals einen Schrat!“ samt Folgeband lesen.

 

 

 

 

Das Kinderbuch der Woche: Eric Carles „Nimmersatt“

Bücher für Kinder von null bis zu zwölf Jahren und für ihre Erwachsenen – von Gabriela Wenke empfohlen. Jeden Donnerstag bis zur Frankfurter Buchmesse 2019!

 

Eric Carles „Nimmersatt“ – frisch wie am ersten Tag

50 Jahre ist sie alt, die kleine Raupe Nimmersatt. Wer so alt wie die Raupe ist und im deutschsprachigen Raum wohnt, hat sie im Laufe seines Lebens bestimmt kenngelernt – sei es zu Hause oder im Kindergarten, sei es in der Kindheit, bei den eigenen Kindern oder Kindeskindern.

Das Bilderbuch folgt dem Weg Nimmersatts vom unscheinbar winzigen Ei auf einem Blatt bis zur dicken Raupe, die endlich so satt ist, dass sie nicht mehr weiterfressen will. Sie baut sich einen Kokon, in dem sie verschwindet, nach mehr als zwei Wochen ein Loch nach draußen bohrt und – tata! – ein wunderschöner Schmetterling ist.

Worüber wollen wir reden? Dass jedes Kind lernt, dass eine Raupe ein kleines,  wurmähnliches Tier ist, aus dem etwas so Schönes wie ein bunter Schmetterling werden kann? Oder dass jedes Kind schon die Raupe bestaunt und nicht erst den Schmetterling? Dass der Künstler mit den scheinbar einfachen Mitteln der Collage Bilder von großer Strahlkraft erschafft, weil ihm eine unendliche Palette von Farben zur Verfügung steht, weil er buntes Seidenpapier bemalt und so farbliche Nuancen erzielt, mit denen man viel mehr gestalten kann als mit Collagen aus „fertigem Buntpapier“? Weil er so gut in dem ist, was er tut?

Das Buch spielt mit Formaten und Löchern, was bei seiner Entstehung sehr ungewöhnlich war und Buchbinderei wie Verlag vor große Herausforderungen stellte. Auch heutige Kleinkinder fordert es noch heraus, wenn sie der Raupe durch die Löcher in den Seiten folgen.

Eric Carle, am 25. Juni feierte er seinen 90. Geburtstag, erzählte, dass er als Kind und Jugendlicher besonders von Paul Klee, Pablo Picasso und Franz Marc beeindruckt war, die ihm ein einfühlender Kunstlehrer näherbrachte, obwohl sie in der Nazizeit verboten waren. Carle wurde in den USA geboren, aber seine deutschstämmigen Eltern gingen 1935 nach Deutschland zurück – ein Kulturschock für ihn. Da war dieser Kunstlehrer seine Rettung.

Nachdem Carle 1951 in die USA zurückgekehrt war, wurde er Werbedesigner. Als er 1969 mit „Die kleine Raupe Nimmersatt“ Erfolg hatte, war er 40 Jahre alt. In den nächsten 50 Jahren wurde er zu einem weltberühmten Bilderbuchkünstler.

Normalerweise stelle ich jede Woche ein ziemlich neues Bilder- oder Kinderbuch vor. Aber bei der kleinen Raupe mache ich eine Ausnahme, aus Hochachtung vor Eric Carle und seinem Talent, kleinen Kindern eine komplexe Sache so einfach, verspielt, gekonnt und lustvoll nahezubringen. Falls Sie gerade keine „Raupe“ zu Hause haben, sollten Sie die Gelegenheit nutzen, das Buch zu kaufen. Schon um es bei der nächsten Gelegenheit einem zweijährigen Kind zu schenken.

 

 

Das Kinderbuch der Woche: Ein Comic zur Wohnungsnot

Bücher für Kinder von null bis zu zwölf Jahren und für ihre Erwachsenen – von Gabriela Wenke empfohlen. Jeden Donnerstag bis zur Frankfurter Buchmesse 2019!

 

Wohnen in Zeiten der Verdrängung

„Bergstraße 68“ ist eine Comic-Geschichte über Menschen in Berlin, denen es so geht wie sehr vielen Leuten in größeren Städten. Der Platz zum Wohnen wird immer knapper. Bäume und grüne Hinterhöfe müssen Tiefgaragen weichen.

In der Bergstraße 68 lebt das Mädchen Tilda, das uns freundlich in sein Haus einlädt. Eine bunte Mischung aus Erwachsenen und Kindern wohnt in diesem alten Haus. Abends, wenn die Kinder im Bett sein sollten, grillen die Erwachsenen im Garten hinter dem Haus, und die Kinder beobachten sie von den Balkonen aus.

Aber eines Tages kommt der neue Besitzer und will das Haus sanieren – angeblich zum Wohle der Bewohner. Doch die merken, dass er sie loswerden will, um mit den nach der Sanierung viel teureren Wohnungen mehr Geld zu verdienen. Sandiert statt saniert hat Tilda verstanden und stellt sich die Sandmassen plastisch vor.

Als erstes wird der Zugang zum Garten verrammelt, und die alte Kastanie soll gefällt werden. Da erzählt der Vater dem Mädchen, dass er das Baum-Amt eingeschaltet hat. Mit dessen Arbeitern wollen die Bewohner den Baum ausgraben und ihn an einem anderen Ort einpflanzen. Doch der Vater hat diese Geschichte nur erfunden. Es gibt kein Happyend. Am nächsten Morgen ist die Kastanie gefällt und abtransportiert.

Im Nachwort erfahren wir, dass es die Mietergemeinschaft im alten Haus nicht mehr gibt. Alle mussten ausziehen. Obwohl Tilda das neue Zuhause gefällt, bleibt es doch bitter, dass sie die Freunde aus dem alten Haus verloren hat.

Das kleine Comic-Buch fällt aus dem Rahmen. Zum einem gibt es Szenen, die zeigen, wie die Erwachsenen feiern und danach verkatert in den Betten liegen. Zum anderen versteht Tilda vieles von dem, was sie belauscht und beobachtet, falsch oder gar nicht. Das lässt fantastische Bilder in ihrem Kopf entstehen.

Zwar ist es ein ungeschriebenes Kinderbuch-Gesetz, dass Unklarheiten und Missverständnisse – wie Sandierung statt Sanierung – aufgelöst werden und dass die Geschichte gut ausgeht. Aber hier muss der vorlesende Erwachsene das übernehmen. Oder das lesende Kind muss nachfragen. Und wirklich gut geht die Geschichte auch nicht aus, obwohl Tilda ihr neues Zuhause mag.

Veronica Solomon und Tina Brenneisen, zwei neue Künstlerinnen, und ein bisher unbekannter kleiner Verlag – parallelallee Verlag – haben diesen Kinder-Comic auf den Markt gebracht. Veronica Solomons Zeichnungen muten auf den ersten Blick klassisch realistisch an. Auf den zweiten Blick entdeckt man fantastische Elemente, ironische Seitenhiebe und Szenen, die auf den erwachsenen Leser zielen. Man kann finden, dass das nichts für Kinder ist, oder ihnen die differenzierte Geschichte zumuten und vielleicht miteinander ins Gespräch kommen.

Ich empfehle dieses Buch besonders Eltern und Kindern, die von der städtischen Wohnungsnot betroffen sind oder sie aus ihrem Umfeld kennen.

 

 

Kinderbuch der Woche: Abschied

Bücher für Kinder von null bis zu zwölf Jahren und für ihre Erwachsenen – von Gabriela Wenke empfohlen. Jeden Donnerstag bis zur Frankfurter Buchmesse.

„Dies ist kein Buch über das Sterben, sondern über das Leben – zu dem ohne Zweifel auch das Sterben gehört“, schreibt der Autor Werner Holzwarth in seinem Vorwort zu „Mein Jimmy“. Von Anfang an ist klar, dass die Geschichte von Jimmy, dem Nashorn, und Hacki, dem Madenhacker, von den letzten Tagen ihrer Freundschaft erzählt. Aber auch davon, wie viel Spaß die beiden miteinander hatten.

Jimmy ist sehr alt, und beide Freunde wissen, dass er nicht mehr lange leben wird. Aber er versucht, dem kleinen Vogel zu sagen, dass all das Schöne, das sie zusammen erlebt hatten, deswegen nicht aufhört, schön gewesen zu sein, und dass Hacki bald wieder neue Freunde haben wird.

Werner Holzwarth erfand 1989 die geniale Geschichte vom kleinen Maulwurf, der wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hat. Nun erzählt er eine Geschichte vom Abschied.

Mehrdad Zaeri gelang es, den großen Jimmy so ins Bild zu rücken, dass er keine Angst macht, sondern wie ein Schutzwall wirkt, während Hacki wie ein winziges Strichmännchen auf ihm herumturnt. Ganz langsam wird von Seite zu Doppelseite aus Jimmy eine schwarze Masse im Dunkel der afrikanischen Nacht unter dem tief-blauen Sternenhimmel. Beim ersten Morgenlicht fliegt Hacki davon. Auf den letzten Bildern sehen wir ihn mit neuen Freunden, den Madenpickern, auf dem Rücken eines Zebras stehen und von seinen Abenteuern mit Jimmy erzählen.

Diese beeindruckende Geschichte zweier ungleicher Freunde kann ich allen großen und kleinen Liebhabern guter Geschichten und überwältigender Bilder voller Überzeugung empfehlen.

 

Kinderbuch der Woche: Ein großer Tag ohne Handy

Bücher für Kinder von null bis zu zwölf Jahren und für ihre Erwachsenen – von Gabriela Wenke empfohlen. Jeden Donnerstag bis zur Frankfurter Buchmesse.

 

Das ist nur mit dem Handy zu ertragen. Draußen gießt es. Drinnen sitzt Mama am PC und arbeitet, obwohl Ferien sind. Sie hat keine Zeit für das Kind.

Das Kind vernichtet auf seinem Handy Marsmännchen – ein Klick und weg. Mit Papa wäre das anders, denkt das Kind. Mit dem würde es vielleicht doch rausgehen.

Wie immer nimmt Mama dem Kind schließlich das Handy weg. Wie immer holt es sich das Handy heimlich zurück, steckt es ein und geht hinaus in den strömenden Regen, den Hügel hinunter zum Teich mit den Steinen, die rund sind wie die Marsmännchen im Spiel. Das Kind springt von Stein zu Stein, als wolle es sie wegklicken. Dabei fällt das Handy ins Wasser und ist weg. Katastrophe! Das Leben hat keinen Sinn mehr.

Verzweifelt sitzt das Kind auf dem Boden, die Beine ausgestreckt wie Baumstämme, die im Schlamm versinken. Vor seinen patschnassen Brillengläsern ziehen riesige Schnecken vorbei. Moment mal, Riesenschnecken?

So beginnt das Sehen, das genaue Hinschauen: große Schnecken, rot getupfte Pilze. Und das Tasten: diese gallertigen Fühler der Schnecken. Und dann der Geruch der Pilze: wie früher in Opas Keller. Den hatte das Kind fast vergessen. Aber seine Nase erinnert sich.

Mit allen Sinnen erfährt das Kind die Welt: wie Regen schmeckt, wie die Wurzeln die Erde durchziehen, wie durchscheinende Steine das Licht auffangen, das durch die Wolken bricht, wie sich die Erde unter die Fingernägel gräbt. Das Kind steht auf, beginnt zu rennen, rutscht aus und purzelt die Wiese hinab, bis unten alles auf dem Kopf zu stehen scheint. Da ist der Bann gebrochen. Als das Kind schließlich klitschnass ins Häuschen zurückkommt, sieht es im Spiegel das staunende Lächeln seines abwesenden Vaters – im eigenen Gesicht. Eigentlich wollte das Kind der Mutter so viel erzählen, aber dann sitzen sie nur ganz ruhig in der Küche bei duftendem Kakao und schauen sich an.

Wunderschöne Bilder erzählen vom grauen Regenhimmel, von bläulichen Nebeln zwischen hellbraunen Stämmen, und mittendrin das Kind im orange-roten Regencape – ein Farbfleck, der immer mehr in Bewegung gerät. In all den sanften Naturtönen des Buches wiederholt sich das Orange, und wir folgen dem Kind. Es nimmt uns mit, zieht uns hinein in eine Natur, an die es sich wieder zu erinnern beginnt.

Eigentlich ist nichts passiert – außer dass ein Handy verloren ging und die Welt wieder Farben bekam. Den größeren Teil dieser Geschichte erzählt Beatrice Alemagna nicht mit Worten, sondern mit ihren ausdrucksvollen und beeindruckenden Bildern, die der italienisch-stämmigen, in Paris lebenden Künstlerin schon viele Preise einbrachten. Ein wunderbares Buch zum Immer-wieder-Vorlesen und Anschauen.

PS: Dem Buch wurde am 11. Mai 2019 der „Huckepack-Preis“ des Projekts „Vorlesen in Familien“ und des Bremer Institutes für Bilderbuchforschung in der Phantastischen Bibliothek Wetzlar verliehen. Die Autorin dieser Rezension hielt die Laudatio.

 

 

 

 

Kinderbuch der Woche: Bösemann

Bücher für Kinder von null bis zu zwölf Jahren und für ihre Erwachsenen – von Gabriela Wenke empfohlen. Jeden Donnerstag bis zur Frankfurter Buchmesse.

 

In expressiven Bildern zeigt Svein Nyhus, wie aus einem riesengroßen, freundlichen Vater ein immer düsterer, gewalttätiger Mann wird. Bösemann hat die Herrschaft über ihn übernommen. Niemand kann Bösemann aufhalten, auch die Mutter nicht, obwohl sie sich groß und breit macht, um den Jungen zu schützen.
Der Junge hat die schreckliche Verwandlung seines Vaters schon oft erlebt, sieht sie kommen und hofft doch, dass es anders sein wird, dass er sich nicht in dieses Ungeheuer verwandelt, rot vor Wut, brennend vor Zorn, berstend vor roher Kraft. Doch auch dieses Mal wieder bleibt die Uhr nicht fünf vor Zwölf stehen.
Text und Bilder greifen ineinander wie Zahnräder: die Uhren, das schwere, bedrohliche Werkzeug, die aggressiv wirkende Muskulatur des Mannes, die Flammen, die über dem Wütenden zusammenschlagen, die zarte, zerbrechliche Gestalt der Mutter und der kleine, verzweifelte Boj. Im Auge des Sturms zieht er sich in seine Fantasiewelt zurück.
Als der Orkan sich legt, einen gebrochenen Mann und Ascheflocken zurücklässt, flieht Boj nach draußen. Dort ist eine freundliche Frau mit einem weißen Pudel, dem er ebenso alles erzählen kann wie den Bäumen und Büschen. Menschen davon zu berichten, das kann er nicht. Doch dann kommt er auf die Idee mit dem Brief. Ein Brief an den König – wie an eine höhere Macht, die helfen kann.

„Lieber König, Papa haut. Ist das meine Schuld?
Liebe Grüße
Boj“

Der Brief ist tatsächlich bei jemandem angekommen, der helfen kann und befiehlt, dass Papa sich entschuldigt. Als der Vater das tut, wird er ganz klein, so klein wie sein Kind.
Der König nimmt Papa mit in sein Schloss, wo er lernt, mit Bösemann, der immer wieder aus ihm herausbrechen will, fertig zu werden. Er muss die eigenen angsterregenden Erinnerungen an seine Kindheit durchleben und sich selbst „reparieren“. Wenn Papa das kann, wird er nach Hause kommen. Dann wird alles gut.
Der Text von Gro Dahle und die so eindrucks- wie ausdrucksvollen Bilder von Svein Nyhus machen aus dieser komplexen Geschichte ein modernes Märchen. Dem erwachsenen Vorleser werden viele Symbole und Gleichnisse ins Auge springen, die aus der Kunst und aus Schriften zur Psychoanalyse bekannt sind. Kinder können sie auf ihre Weise verstehen und lernen, dass es Hilfe gibt, wenn man darum bittet. Wie im Märchen, wo das Gute über das Böse siegt.

Ich möchte ausdrücklich dazu ermuntern, sich das Buch mit Kindern ab etwa fünf Jahren anzuschauen. Wenn sie sich darauf einlassen, sind sie alt genug – sowohl Kinder, die von häuslicher Gewalt betroffen sind, als auch diejenigen, die das nur vom Hörensagen, aus Büchern oder Filmen kennen.
Alle Erwachsenen, die Bedenken haben, Kinder mit Problemen, mit dem Bösen zu konfrontieren, verweise ich auf Bruno Bettelheim, einen berühmten Psychiater, der unter anderem das Buch „Kinder brauchen Märchen“ schrieb. Er erklärte einmal, dass Kinder das Böse, das Erschreckende, die Alpträume, die sie aufwühlen und ängstigen, in den Märchen stellvertretend durchleben. Dass Märchen gut enden, vermittelt Trost, den Glauben an die eigene Stärke und die Hoffnung, das Böse besiegen zu können. Ängste zu verniedlichen, das hilft hingegen nicht bei ihrer Bewältigung.
Wem das zu theoretisch ist, den möchte ich an „Hänsel und Gretel“ erinnern. Seit Jahrhunderten erzählt man Kindern die Geschichte von der bösen Hexe, die Kinder mit Zuckerzeug verführt und frisst, aber von den Geschwistern überwunden und im Ofen verbrannt wird. Und warum haben sich die Kinder im Wald verirrt? Weil ihre Eltern sie nicht mehr haben wollten. Das ist schon eine sehr angsteinflößende Geschichte, die unbedingt ein gutes Ende braucht, damit Kinder – und Erwachsene – sie aushalten können.
Also: Keine Angst vor Bösemann.

 

 

 

Kinderbuch der Woche: Die Gier im Regenwald

Bücher für Kinder von null bis zu zwölf Jahren und für ihre Erwachsenen – von Gabriela Wenke empfohlen. Jeden Donnerstag bis zur Frankfurter Buchmesse.

 

Daboka freut sich schon auf die Wanderung ihres Stammes zu den Verwandten am anderen Ende des Pfades. Gemeinsam feiert man den Vollmond ebenso wie die Begegnung.
Generationen von Vorfahren hatten den Pfad ausgetreten, an seinem Rande wachsen Pflanzen, deren Samen auf den vielen Wanderungen dort verstreut wurden. Doch dieses Mal endet der Pfad, bevor Dabokas Stamm die Verwandten erreicht hat. Ein breites, stinkendes Band zieht sich durch den Wald. Mitten im Gestank und Maschinenlärm sehen sie weiße Menschen, die flatternde Häute tragen. Einer von ihnen erblickt auch sie und schreit vor Schreck laut auf. Da drehen sie sich um, laufen zurück in ihr Dorf und beraten, was sie tun können.
Popoké, der Älteste, berichtet, dass vor langer Zeit schon einmal Weiße in den Urwald eingedrungen waren. Sie nannten sich Evangelistas und hatten ihren eigenen Gott. Damals folgten viele Stämme ihnen in große Dörfer, fasziniert von all dem Neuen und den unbekannten Gegenständen. Doch als die indigenen Völker misstrauisch wurden und beschlossen, in ihre Dörfer zurückzukehren, war es für viele schon zu spät, denn sie wurden krank und starben.
Es dauerte lange, bis die Stämme sich von diesen Verlusten erholt hatten. Manche flohen weiter hinein in den Regenwald, aber einige blieben. Einen davon, Anumi, will Popoké aufsuchen und um Rat fragen. Aber der Älteste kommt nicht zurück.
Später berichtet Anumi, dass Popoké getötet wurde, und beschwört Dabokas Stamm, tiefer in den Regenwald zu fliehen. Bevor die Flucht beschlossene Sache ist, wird das kleine Volk überfallen. Nur Daboka und ihre jüngere Schwester, die am Fluss fischen waren, überleben, werden gefangen genommen und verschleppt. Anubis Frau, die bei den Weißen lebt, hilft ihnen zu entkommen, und die beiden Mädchen verschwinden in den Tiefen des Regenwaldes.
Diese Geschichte folgt wahren Begebenheiten: 2014 fiel in Ecuador – wieder einmal – ein Amazonasvolk der Gier der Ölkonzerne zum Opfer. Marion Archard erzählt all das so einfach und schnörkellos, dass schon Zehnjährige es verstehen können.
Mit Ingeborg Bachmann finde ich: „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar“, auch sehr jungen Menschen. Die Zerstörung der Regenwälder, die weitere Förderung und Vermarktung von Erdöl sind Ursachen des Klimawandels, der junge Menschen heute auf die Straße bringt. Und schließlich geht es auch darum, den Lebensraum der indigenen Stämme zu bewahren.

 

 

 

Kinderbuch der Woche: Insekten – kleine Wunder

Bücher für Kinder von null bis zu zwölf Jahren und für ihre Erwachsenen – von Gabriela Wenke empfohlen. Jeden Donnerstag bis zur Frankfurter Buchmesse.

 

Sachbuch

In riesigem Format und mit den hinreißenden Zeichnungen von Medy Oberndorff präsentiert das Buch vor allem die Schönheit der Insekten und die Vielfalt ihrer Erscheinungsformen. Am bekanntesten ist wahrscheinlich die Metamorphose der Schmetterlinge.

„Kleine Wunder“ nennt der Autor  Bart Rossel die Insekten, deren Anzahl und Vielfalt unsere Welt bestimmen, weshalb sie in Science-Fiction-Romanen oft als die Spezies gelten, die überleben würde, wenn die Erde für die Menschen längst unbewohnbar geworden wäre. In jüngster Zeit häufen sich jedoch Meldungen, die vom Insektensterben berichten, dessen Ausmaß katastrophal zu sein scheint. Dass Bienen und andere bestäubende Insekten für das Überleben der Menschheit unabdingbar sind, hat sich mittlerweile herumgesprochen, wenn auch bedauerlicherweise nicht überall, besonders dort nicht, wo man gern mit Glyphosat arbeitet. Doch Insekten spielen in viel mehr Bereichen eine viel größere Rolle, als man lange Zeit dachte. Zum Beispiel sind viele Vögel bei der Aufzucht ihrer Jungen von Insekten abhängig. Schon jetzt bauen immer weniger Singvögel im Frühling bei uns ihre Nester. Höchste Zeit, dass schon Kinder die Bedeutung der Insekten kennen lernen und erfahren, dass diese Tiere keine Wesen sind, die man einfach töten oder gar massenhaft vernichten darf.

Das Buch, ein ästhetisch besonders gelungener Einstieg in die Welt der Insekten, kann selbst Lesemuffel verführen, sich diese Welt – von Bildunterschrift zu Bildunterschrift –zu erschließen, denn es gibt bei der Informationsvermittlung genau die Geschwindigkeit vor, die der lesende Betrachter braucht.

 

 

 

Kinderbuch der Woche: Die Wahrheit über den Osterhasen

Bücher für Kinder von null bis zu zwölf Jahren und für ihre Erwachsenen – von Gabriela Wenke empfohlen. Jeden Donnerstag bis zur Frankfurter Buchmesse.

Nichts gegen Rituale und Mythen. Ganz abgesehen vom Ei als Fruchtbarkeitssymbol – seit mindestens einem Jahrhundert tun wir alles dafür, dass Kinder einen Hasen nicht von einem Kaninchen unterscheiden können und es für möglich halten, dass Hasen Eier legen. Zwar tut das weh, aber sei´s drum. Es wäre nur halb so schlimm, wenn die Bilderbuchwelt den in Gruben und Gängen lebenden Hasen nicht immer wieder aufleben ließe. Vielleicht weil das Wort Kaninchen so lang ist?

Hasen graben keine Höhlen, sondern sitzen geduckt in ebenerdigen Sassen. Wildkaninchen wohnen in Höhlen. Zwar haben Kinder gelernt, „dass es den Osterhasen nicht gibt“, aber das Buch „Hasenfest und Hühnerhof“ von Eva Sixt, das 2016 auf den Markt kam, könnte sie interessieren. Es ist ein Sachbuch über Hasen, Kaninchen, Hühner und deren Lebensweisen. Wer es kennt, kann auf Spaziergängen erzählen, dass gerade Wildkaninchen im Park herumhoppeln und was sie von Hasen unterscheidet. Die – größeren – Hasen lassen sich nämlich viel seltener sehen. Von Februar bis April, in ihrer Paarungszeit, wagen sie sich aus der Deckung. Ihre Wettläufe, Sprünge und Boxkämpfe sehen wie wilde Tänze aus. Wer das Glück hat, so etwas einmal zu sehen, ist fasziniert. Ansonsten sind die Hasen scheu und eher in der Dämmerung oder nachts aktiv. Sie leben in Landschaften mit Feldern, Äckern oder Wiesen, also eher in der Wildnis und nicht im Park.

Wildkaninchen dagegen sind auch in Stadtparks zu Hause und graben ihre Höhlen gerne in sandige Böden. Sie können zu Landplagen werden und sind besonders an Flüssen und am Meer gefürchtet, weil sie Dämme und Deiche unterhöhlen und dadurch zum Einsturz bringen. Von den Wildkaninchen stammen die Hauskaninchen ab, deren Arten die Illustratorin und Autorin Eva Sixt beschreibt und nicht verschweigt, dass sie – vielerorts Stallhasen genannt – den Menschen seit Jahrtausenden als Fleisch- und Felllieferanten dienen.

Die Eier stammen natürlich von den Hühnern. Im Buch lernen wir die Arten der modernen Hühnerhaltung kennen – vom Öko- bis zum Käfighuhn.

Bei all der Begeisterung für Osterhasen und Ostereier kann es nichts schaden, ein bisschen mehr über die unschuldigen Namensgeber zu wissen. Besonders gelungenen sind die Schwarzweiß-Zeichnungen der Tiere in Bewegung und die ganzseitigen Bilder von den Hasen beim Paarungstanz in der freien Natur.

Ein bisschen Aufklärung ab fünf Jahren darf schon sein, findet Gabriela Wenke.

 

 

Kinderbuch der Woche: Ein Pups gegen die Langeweile

Bücher für Kinder von null bis zu zwölf Jahren und für ihre Erwachsenen – von Gabriela Wenke empfohlen. Jeden Donnerstag bis zur Frankfurter Buchmesse.

Bilderbuch


Man glaubt, das ist ein gut gemachtes Bilderbuch: Engagierte Eltern wollen ihre Kinder weg vom Tablet und raus in die Natur locken – aber das ist nur eine Seite der Geschichte. Als die Kinder nach dem Tablet-Entzug wie nasse Säcke über einem Ast hängen, geradezu betäubt von der unerträglichen Langeweile ohne Tablet, bleiben die gut gemeinten Ratschläge von Vater Gans (oder Ente?) unbeachtet. Fußball spielen ist langweilig, rennen, schaukeln, Blindekuh auch und beim Wäsche-Aufhängen helfen sowieso. Selbst als der Vater ein Planschbecken aufpumpt, um den Kindern eine Freude zu machen, erwachen Merle und Robbi nicht aus dem Koma der Langeweile. Nur Spatz stürzt sich überglücklich in das Becken, aber das reißt die beiden nicht aus ihrer Lethargie.
Plötzlich muss Robbi pupsen, bezichtigt Spatz, das Geräusch verursacht zu haben, doch der sagt, er habe nicht „pups“, sondern „blubb“ gemacht. Das finden alle lustig und haben auf einmal mehr Spaß, als sie sich vorstellen konnten. Solche Wirkungen können Kleinigkeiten haben!
Diese Alltagsgeschichte zeigt, dass es sich lohnt, es mit dem wahren Leben zu versuchen statt mit dem Tablet. Den Erwachsenen macht sie Mut, ruhig abzuwarten, bis Geist und Körper der Tablet-gewohnten Helden sich auf den Echtzeit-Modus umgestellt haben.
Humor und Hintersinn bewirken, dass die zart gestrichelten Geflügel-Figuren der Gefahr der Niedlichkeit entgehen, und man vergisst ganz und gar, dass da keine Menschenkinder zu sehen sind. Kinder ab drei Jahren wissen sowieso gleich, wer gemeint ist: sie und ihre Freunde.
Erwachsene sollten sich von den kurzen Texten nicht dazu verführen lassen, das Buch zu schnell vorzulesen. Das Abhängen und Langweilen muss wirken können, bevor man seinen Spaß daran haben kann. So viel Zeit muss sein, findet die Rezensentin und empfiehlt allen Vorlesern dieses bezaubernde Büchlein gegen die digitale Konkurrenz.

 

 

Kinderbuch der Woche: Inselleben für Anfänger

Bücher für Kinder von null bis zu zwölf Jahren und für ihre Erwachsenen – von Gabriela Wenke empfohlen. Jeden Donnerstag bis zur Frankfurter Buchmesse.

Der Ich-Erzähler Peter und seine Freunde spielen leidenschaftlich gern Piraten. Zum Kostümfest ist klar, wie sie sich verkleiden wollen: als Piraten! Aber weil „Robinson Crusoe“ Peters Lieblingsbuch ist, illustriert mit fantastischen Bildern, schlägt ihm seine Mutter vor, als Robinson zum Fest zu gehen. Geschickt näht sie ihm ein Kostüm aus Tierfellen. Doch Peters Freunde kennen die Geschichte von Robinson nicht und finden das ungewöhnliche Kostüm lächerlich. Beschämt und gekränkt verlässt Peter das Fest, wird krank und fällt in Fieberträume, in denen er Robinson ist, auf dessen Insel lebt und Ausschau nach Piraten hält. Tatsächlich entdeckt er welche, aber es sind seine Freunde, und er ist zu Hause in seinem Bett. Die Freunde merkten nämlich, dass sie ihn gekränkt hatten, besuchen ihn nun, wollen mehr über Robinson Crusoe erfahren und sind bereit, sich auf Peters Lieblingsgeschichte einzulassen.
Peter Sis ist ein Ausnahmekünstler. Mit seinem prägnanten Illustrations-Stil setzt er diese Freundschafts- und Abenteuergeschichte so grandios ins Bild wie die Themen seiner anderen Bücher, die oft zwischen Sach- und erzählender Bildgeschichte changieren. Kleinere Bildsequenzen erhellen den Hintergrund des Geschehens, und eine Traumsequenz zeigt, wie Peter sich als Robinson auf der Insel fühlte. Jede Seite steckt voller Entdeckungen, angesiedelt zwischen Traum und Wirklichkeit.
Ein wunderschönes Bilderbuch mit kurzen Texten, die von Leseanfängern schon selbst gemeistert werden können, aber auch Kinder im Grundschulalter interessieren. Die Kurzfassung der berühmten Geschichte von Daniel Defoe macht Lust darauf, den berühmten Roman später selbst zu lesen.

 

 

Kinderbuch der Woche: Ferienglück am Meer

Bücher für Kinder von null bis zu zwölf Jahren und für ihre Erwachsenen – von Gabriela Wenke empfohlen. Jeden Donnerstag bis zur Frankfurter Buchmesse.

 

Es ist ein bezauberndes Bilderbuch. Bezaubernd – ein altmodisches Adjektiv für eine altmodische Geschichte? Ja, nein, vielleicht.
Wir begegnen Frau Alwina, rund und mit Sonnenhut, schon „im Skizzenbuch des Malers“ auf den vier (!) Seiten Vorsatzblatt, also auf den Seiten, bevor die Geschichte losgeht. Mit den Augen des Malers und in seinen Skizzen sehen wir, wie sie entsteht: ein Strand, die Gezeitenküste, die Promenade – am ehesten französisch – und eine dicke Frau, die traurig vor dem Hotel sitzt, weil ihre Buchung verschlampt wurde.
Aber Alwina gibt nicht auf und landet in einer Pension mit Bad auf dem Flur, in dem schon ein munteres kleines Mädchen in der Wanne sitzt und sich vehement beklagt, bei der Tante hier einfach abgeladen worden zu sein. Bevor Alwina erklären kann, dass sie auch eine von deren „doofen Gästen“ ist, hat Nelli schon gemerkt: Alwina ist nicht doof.
Nun erleben die beiden einen wunderbaren Sommer am Meer. Alwina findet, sie ist „gut im Wasser – das liegt am Fett“. Und sie hat keine Kinder, weil die meisten Männer keine dicken Frauen mögen, sagt sie. Den beiden gehen die Ideen nicht aus, und Nelli lernt sogar, sich erholsam zu langweilen.
Doch Alwinas Ferien gehen zu Ende, und Nelli bleibt heulend am Bahnhof zurück. Sie hat nur noch Alwinas Hut, der eigentlich ein bisschen zu groß ist, aber den sie auch dann noch trägt, als sie wieder zur Schule geht. Außerdem kommen Briefe, und man glaubt, dass diese ungewöhnliche Freundschaft noch lange nicht zu Ende ist.
Aus den zahlreichen Bilderbüchern von Heribert Schulmeyer, die ich in Händen hielt, ragt dieses heraus. Eine unglaubliche Leichtigkeit des Seins erfüllt Alwinas und Nellis Sommer, der für immer in Erinnerung bleibt: Das Licht, die Farben, die Bewegung und die rundum glückliche Begegnung eines kleinen Mädchens mit einer Frau, kurz: eine zauberhafte Geschichte.
Auch auf den vier (!) Nachsatzblättern folgen wir den leichthändigen Skizzen des Malers und sehen mit seinen Augen das Potenzial, das in der Begegnung steckt, die sich zur richtigen Zeit am richtigen Ort ereignete.
Bei diesem Buch geht einem das Herz auf. Unbedingt vorlesen!